Ein perfekter Himmel wölbte sich weit und blau über Frankfurt am Main. In den grellen Strahlen der Sommersonne glitzerte der Fluss golden und die Hochhäuser warfen schwarze, schräge Schatten.
Lebensfroh flog ein kleiner Spatz in dieser leuchtenden Pracht. Freudig, ja fast schon übermütig, schwebte er durch das wechselnde Spiel aus Licht und Schatten. Er flatterte in freudigen Wellen. Mal stieg er hoch, dann ließ er sich wieder gefährlich tief sinken. Er bewegte sich so schnell und unvorhersehbar, dass es fast unmöglich war, ihm dabei mit dem bloßen Auge zu folgen. Denn nirgendwo hielt er es lange aus. War er eben noch auf dem üppigen Ast einer Buche gelandet, stürzte er sich von dort sogleich wieder wagemutig in die Tiefe. Daraufhin segelte er gleich wieder in einem weiteren, kühnen Bogen dem nächsten Baum und Zweig entgegen.
Dieser Tag war so schön, dass der junge Spatz einfach von seinem Glück singen musste. Und so kam es, dass sein frohes Zwitschern erklang und es in der Tat von seiner schieren Freude am Leben kündete. Jeder, der es vernahm, wurde davon beglückt. Auch der eilige Passant, der mit wehender Krawatte und engagiertem Gang dem Bankenviertel entgegeneilte, nahm es heimlich und unterbewußt wahr. Ohne dass er es ahnte, tat auch ihm der frohe Gesang des winzigen Piepmatzes in der Seele gut. Denn die Seele verstand es sofort. Sie kannte das Lied des Glücks.
Keine halbe Minute später saß der kleine Luftakrobat schon wieder auf dem Erdboden und sah sich, mit ruckartigen Kopfdrehungen, in allen Richtungen um. Zwischenzeitlich tat er dies, um etwas Nahrung zu finden. Er hüpfte dort, flatterte hier, und pickte gegebenenfalls etwas auf, was er für Nahrung hielt. Manches Mal war er dabei allerdings so voreilig, dass er auf diese Weise in seinem Spatzenleben schon den einen oder anderen durchaus zweifelhaften Krümel verschluckt hatte.
Unregelmäßig stieß er seinen klaren, hellen Ruf aus, blinzelte, drehte das Köpfchen, und wenn er nichts erspähte, nichts erkennen konnte, was wenigstens den Anschein erweckte essbar zu sein, dann sprang er wieder blitzartig davon und schoß mit knatterndem Flügelflattern ganz plötzlich hinfort. Auf diese Art sauste er also nun dauernd umher.
Wo war er denn nun? Ah, dort! Gerade landete er auf der Rückenlehne einer Bank im Taunuspark. Ein älterer Herr saß dort, vertieft lesend, die Beine elegant übergeschlagen. Sein gepflegtes Hosenbein war mit einer akkuraten Bügelfalte verziert und der Rest seiner überaus stilvollen Erscheinung verschwand hinter der weit aufgespannten Zeitung, die er ausgestreckt, wie einem kleinen Paravent, vor sich hielt. Im Halbschatten eines Baumes sitzend, gab dieser Herr ein vollendetes Bild von Kultur und Würde ab. Seine Körperhaltung und die gediegene Ruhe, mit welcher er dort die täglichen Nachrichten aus aller Welt studierte, wirkten so erhaben und friedlich, dass es eine wahre Freude war, ihn dabei zu betrachten.
Am oberen Rand seiner „Frankfurter Rundschau“ prangte das heutige Datum: 11.Juli 1970. Eine leicht vom sanften Wind bewegte Linde warf tanzende Schatten auf die Szene und versetzte alles in ein malerisches Licht- und Schattenspiel. Unser feiner Herr war nun just im Begriff mit dem Studium eines Artikel zu beginnen, der von der überraschenden Freilassung des Bischofes von Shanghai durch die Volksrepublik China berichtete, da sprang der kleine, unstete Spatz wieder auf, denn weder der Bischof, noch China, ja selbst die so ideale Haltung des lesenden Herrn interessierten ihn herzlich wenig und so hüpfte er kurzerhand hinfort, denn seine Spatzenerfahrung sagte ihm, dass hier nichts für ihn abfallen würde. Außerdem war unserem lieben Spatz, den wir ja jetzt schon ein wenig kennen, jener zeitungslesende Herr durchaus seinerseits schon bekannt, denn dieser geruhte dort jeden Tag so prächtig zu sitzen und niemals war von dort auch nur die kleinste Brotkrume zu Boden gefallen.
Dieser Mann aß nicht, er las, und dies anscheinend sehr gründlich und mit aller gottgegebenen Muse. Und man mag es bedauern, aber solches Tun war in seiner Natur für Spatzen nun einmal unergiebig.
Also startete unser gefiederter Winzling augenblicklich einen weiteren seiner unvorhersehbaren Flüge. Wieder schraubte er sich ins lichtdurchtränkte Blau des Himmels und dieses Mal glänzten seine Federn dabei so majestätisch im Sonnenlicht, war er so voll und ganz in seinem Element, dass ein Adler nicht hätte anmutiger sein können. Er ließ sich nunmehr etwas abfallen, glitt eine kurze Strecke, und flatterte dann wieder hinauf, um anschließend in den kühlenden Schatten eines großen Baumes einzutauchen. Dort wollte er sich nun doch etwas ausruhen. Nahe des Stammes, auf einem schattigen Ast, ließ er sich also nieder und sah sich, ganz wie es seinem spatzenhaften Wesen entsprach, neugierig um. Schließlich blickte er lange aus seinen kleinen, schwarzen Knopfaugen auf das ihm gegenüberliegende Haus.
Die geputzten Fenster in der hohen Fassade glänzten im Sonnenlicht, manche davon so grell, dass sie wie polierte Spiegel blendeten. Wenig konnte der Spatz ahnen, dass dies Gebäude ein Krankenhaus war. Hinter einem der vielen Fenster erblickte sein blinzelndes Spatzenauge nun ein bleiches Menschengesicht.
Wer da so blass und rothaarig hinter der Scheibe stand, war meine Mama und sie blickte gar zu unschuldig drein. Aber ganz so unberührt wie sie mit ihrer verträumt schmollenden Unterlippe und den babyblauen Augen in diesem Augenblick auch aussehen mochte, konnte sie beileibe nicht mehr sein, denn obwohl sie gerade erst zarte 17 Lebensjahre zählte, war sie doch mehr oder weniger im Begriff, ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Sie stand da und wusste gar nicht so recht, wie ihr geschah und was sie in den nächsten Stunden ganz genau erwarten würde. Ein paar Tage war sie jetzt schon überfällig und dennoch in ihrer Jugend gleichzeitig noch naiv genug, um ihre ersten Wehen doch tatsächlich für Bauchschmerzen gehalten zu haben.
Nur wenige Stunden zuvor, daheim am Telefon, hatte die Krankenschwester zu ihr gesagt, sie solle besser vorbeikommen. Fast widerwillig war sie dann hingegangen, in der festen Überzeugung, danach schnell wieder nach Hause zu kommen. Fast schmollend war sie losgestapft, als hätte sie komplett vergessen, hochschwanger zu sein. Ja, sie war tatsächlich unbeschlagen genug, um so herrlich ahnungslos zu sein.
Ich selbst habe natürlich keine Erinnerung an dieses Geschehen, denn ich lag währenddessen, selig dämmernd und durch einen Nabel versorgt, im Bauche meiner Mama und ließ es mir dort recht gut gehen. Wahrscheinlich habe ich ebenfalls keinerlei Anlass gesehen, diesen angenehmen Zustand zu beenden.
Nun hatte man meine werdende Mutter kurzerhand an einen Tropf angeschlossen. “Mit einem wehenfördernden Mittel!” wie die Schwester erklärt hatte, um der ganzen Geburtsangelegenheit etwas Vortrieb zu leisten. Es mag durchaus sein, dass es mir im Leib meiner Mutter tatsächlich so gut ging, dass ich gar keine Anstalten machte, hinauszukommen. Diese Trägheit würde mir in der Tat ähnlich sehen, denn Anstrengungen jeder Art würde ich auch im späteren Leben eher gering schätzen. Aber wie gesagt: Dies sind Vermutungen, denn ich kann mich wirklich nicht daran entsinnen.
Heute, so beschlossen die Ärzte, sollte also der Tag sein. Mama würde an diesem Tage nicht wieder einfach unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Es ließ sich nicht länger verhindern. Die Ärzte würden mich aus dem warmen, angenehmen Dasein im Inneren meiner Mutter in die Welt holen, ob ich nun wollte, oder nicht. Dieser Tag würde also mein Geburtstag werden, mein erster Tag in dieser Welt.
Jetzt noch, kurz zuvor, als meine blutjunge Mutter so träumend und etwas scheu aus dem Fenster sah und auf ihre Geburtswehen wartete, wirkte sie einfach nur schüchtern, unschuldig und zart.
Auf den prächtigen Kastanienbaum gegenüber blickend, durch dessen Geäst das Sonnenlicht blinkte, sann sie noch einmal darüber nach, wie dies denn nun alles gekommen war. Von dem Spatz, der sie vom Baum aus unterdes beobachtete, ahnte sie freilich nicht das geringste.
“Das ist alles etwas früher als geplant geschehen!” dachte sie bei sich. Doch ohne Frage war das Kind, das sie nun unter ihrem klopfenden Herzen trug, das Ergebnis einer ehrlichen und aufrechten Liebe und somit war doch letztlich alles richtig und gut, wie sie fand. Meine Mama sah also versonnen mit unscharfem Blick in die Ferne und vor ihrem inneren Auge schwebten ein paar Szenen aus den letzten Jahren. Sie sah, wie sie Papa in der Schule kennengelernt hatte. Sie grinste bei der Erinnerung daran, wie er barfuß die steinernen Treppen des Gymnasiums hochgesprungen war, wie er sich hektisch seinen Weg durch den Schülerstrom gebahnt hatte und dabei in jeder Facette seines Wesens so gänzlich anders gewesen war, als seine Mitschüler.
Diese Liebesgeschichte unter Schülern hatte sich in dem hessischen und zauberhaften Ort namens “Rothenburg an der Fulda” zugetragen. Sie, die schüchterne Rothaarige und er, der schwarzhaarige, wuschelige und wilde Hippyjunge. Irgendwann hatten sie sich angesehen, hatten sich ihre Blicke verfangen und dann hatten sie sich verliebt. Wie das eben so passiert.
Jetzt lebten sie in einer kleinen Wohnung in Frankfurt und hatten beide die Schule schon seit einiger Weile frühzeitig verlassen. Und dann war sie plötzlich schwanger geworden. Wie sie so dastand, im hellen Licht der Sonne, das schräg durch das hohe Fenster auf sie fiel, waren ihre Gefühle eine Mischung aus freudiger Erwartung und Furcht vor dem unbekannten Erlebnis des Gebärens.
Ein paar Stunden später sollte es aber dann endgültig soweit sein. Sie bekam schließlich und endlich die erhofften starken Wehen. Sie waren extrem schmerzhaft für sie. So bahnte es sich an: Mein Dasein auf dieser Welt. Etwas erzwungen, von Medikamenten und Ärzten angeschoben, aber schließlich wohl doch ziemlich alternativlos. Und wie es im Leben nunmal so ist: Es ging von Beginn an mit Schmerz einher.
Was für meine Mutter in dem Moment großes Leiden war, war für mich ein Tunnel und dann, an dessen Ende dieser Zauber: Das glitzernde, strahlende Licht. Ein Klaps und ich tat einen ersten Schrei. Schon wieder Schmerz. Es fing ja wirklich gut an.
Zum ersten Mal spürte ich Luft an der Haut. Sie war kälter als die Wärme im Inneren meiner Mutter. Ein erster Reflex des Zwerchfells und ich sog erstmals Luft in meine zarten, winzigen, rosa Lungen. Erster ungedämpfter Schall drang an meine Ohren und Licht in meine Augen, die das Sehen noch nicht kannten. Hier war ich nun. Ein weiterer Mensch in der Welt. Allerdings zuerst noch als schrumpeliges, glitschiges Würmchen. Ich wurde meiner erschöpften Mutter an die Brust gelegt, was mich sogleich etwas beruhigte und in meiner Mama ein ungekanntes Glücksgefühl auslöste. Augenblicklich vergaß sie den erlittenen Schmerz und empfing den süßen Lohn dafür: Ein gesundes, geliebtes Kind, das an ihrem Herzen lag. Welch ein Moment.
“Wo war denn bitte mein Vater?” mag man sich fragen. Nun, zur damaligen Zeit war es den jungen Vätern nicht gestattet, bei den Geburten dabei zu sein. Lediglich am Telefon berichtete der Arzt meinem Vater, der namentlich “Claus Dieter” hieß, und der seinerseits auch erst 19 Lebensjahre zählte, dass sein gesunder Sohn nun geboren sei. „Die junge Mutter und ihr Sohn sind wohlauf! Alles ist sehr gut verlaufen!“ berichtete der Arzt routiniert am Hörer und mein blutjunger Vater vernahm es äußerst aufgeregt, wie es durchaus seiner generell etwas nervösen Art entsprach. Und damit mein junger Dad wenigstens einen akustischen Beweis meiner Existenz zu hören bekam, schnippte der Arzt mit dem Finger an mein winziges, rosa Füßchen, damit ich eine kleine Probe meiner Stimmgewalt als hörbares Lebenszeichen von mir gab. So war das damals noch. So plärrte ich meinem Vater erste Grüße zu, ohne es zu ahnen. Und auch er erlebte jenseits des Telefonhörers Gefühle, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Da stand er nun und war Vater. Eigentlich war das ja eine unfassbare Sache. Dabei war er selbst noch etwas pickelig im Gesicht und noch nicht wirklich ein Mann. Überwältigt schaute er unter seinem schwarzen Wuschelkopf und aus den Gläsern seiner kleinen, runden Brille hervor, als er den Hörer des Telefons einhängte. Über seiner Oberlippe sah man einem zarten Flaum von ersten, wenigen Barthaaren.
Claus Dieter kam also tags darauf erst ins Krankenhaus, stürzte ins Zimmer und war vollkommen überwältigt, als er mich erstmalig erblickte. Er war außer sich. Ein 19 jähriger Vater, der von seinen Gefühlen übermannt wurde und fast nicht wusste, wie ihm geschah. Meine beiden Eltern waren ja selbst noch halbe Kinder. Und da waren sie nun beschenkt mit dem Wunder des Lebens, das dem Laufe der Natur folgend aus ihrer Vereinigung hervorgegangen war. Dies war der erste Moment der jungen Familie Bost. Dies war der Anfang meines Lebens.
Ich will es Euch im Folgenden so gut beschreiben, wie ich es vermag.
Als Säugling im Alter von wenigen Stunden und Tagen wurde ich zunächst mit den anderen neuen Erdenbürgern, die ungefähr zeitgleich mit mir in diesem Krankenhaus geboren waren, auf einem langen Wagen liegend von den fleißigen Händen der Krankenschwestern durch lange Gänge geschoben. Es war eine erste Fahrt und ich teilte diese Erfahrung mit anderen Menschenwürmchen von der Säuglingsstation. Wir wurden um ein paar Ecken gekarrt, zu den Krankenzimmern, wo die Mütter uns schon ungeduldig erwarteten. Wegen des ungewohnten Geruckels plärrten wir alle laut, sodass man uns in den mütterlichen Betten schon von weitem hören konnte. Die Zimmernachbarin sagte zu meiner Mutter: „Ah, da kommen sie wieder!“ Wenig später wurde ich als kleines, lebendiges Paket den ausgestreckten Armen meiner im Wochenbett liegenden Mama übergeben.
Wie dankbar und glücklich empfingen mich diese? Wie heil mutet doch eine solche Szene an, in der eine Mutter ihr Neugeborenes hält? In diesem Feld der Liebe ging es mir ebenso gut wie im Mutterleib. Dabei wurde ich einmal fast verwechselt! Um ein Haar wäre ich an die falsche Brust angelegt worden, aber meine Mutter war aufmerksam: „Hey, das ist aber meiner!“ protestierte sie. Man stelle sich das vor! Es gibt durchaus diese Geschichten von Verwechslungen. Mein Leben wäre ein völlig anderes geworden. Aber ich hatte Glück! Ich blieb bei der besten Mutter, die ein Wesen haben kann, weil sie von Anfang an gut auf mich aufpasste.
Irgendwann wurde ich in ein Kissen weich eingehüllt und meiner Mutter mitgegeben: Wir durften nach Hause. Auf ins Leben! Meine Mutter trug mich stolz und froh über die Straße und über ihrem Kopf flog in einer sonnenlichtdurchtränkten Sekunde ein piepsender, trällender Spatz hinweg und es war, als sänge er vom Glück!