Grundschule

Im Sommer 1976, wurde ich in der katholischen Sollbrüggen-Grundschule eingeschult. Meine Schultüte zierte der Räuber Hotzenplotz, ein Detail, dessen ich mich niemals würde entsinnen können, gäbe es nicht ein Foto von jenem historischen Tage, auf welchem ich zuckersüß in die Kamera schaue. Darauf ist auch zu sehen, dass ich anlässlich meines ersten Schultages einen Jeansanzug trug, den unsere Nachbarin Karin extra für mich bei Quelle bestellt hatte.


Dieser erste Schultag war ein guter Tag! Meine Mutter nahm mich an der Hand und wir gingen den Schulweg gemeinsam. Er war nicht weit. Aufmerksam lauschte ich ihren eindringlichen Anweisungen, als sie mir erklärte, wie ich mich an der großen Straße an der Ampel zu verhalten habe. „Du darfst nur über die Straße gehen, wenn es grün für Dich ist! Und sieh trotzdem nach, ob auch kein Auto kommt!“ Ich hörte ihr sehr aufmerksam zu, auch wenn ich schon oft alleine Ampeln überquert hatte und insbesondere diese.
Aber die Überquerung der Uerdinger Straße war dann auch schon die einzige Gefahrenstelle auf dem Weg zur Schule. Danach waren es nur noch ein paar Meter auf dem Bürgersteig am saftigen Grün des Sollbrüggenparks vorbei und dann, an einer Ecke, stand sie schon: Die Schule.


Um einen asphaltierten Schulhof herum standen zwei Gebäude. Das zur linken Seite war etwas älter und aus rotem Ziegelstein. An den Fenstern sah ich bunte Figuren hängen, die Schulkinder aus Pergamentpapier gebastelt hatten. Auf der anderen Seite des Schulhofes war ein viereckiges, moderneres Betongebäude, das wie ein riesiger Würfel aussah. Dort hinein gingen wir.
Drinnen trafen wir auf lauter andere Kinder, die ebenfalls alle an den Händen ihrer Eltern dastanden. Zum ersten Mal betrat ich ein Klassenzimmer. Die Klassenlehrerin erzählte uns und den beiwohnenden Eltern, welche Schulhefte und Materialien benötigt würden, der Stundenplan wurde vorgestellt und ein paar Schulbücher wurden verteilt. Meine Mutter kaufte mir noch am selben Nachmittag einen orangefarbenen Ledertornister und dort hinein kamen alle Schreibhefte und Stifte und die schweren Bücher, welche sie zuvor in dicke, bunte Plastikfolie eingeschlagen hatte, denn schließlich mussten die Lehrbücher ein paar Schülergenerationen lang halten. Und so ausgerüstet und instruiert begann nun also für mich die Schulzeit.
Aber halt! Das Schulbrot fehlte noch. Im besten Fall war das ein Doppeldecker mit Nutella. Meine Mutter würde also eine Scheibe frischen Graubrotes mit Butter bestreichen und darüber noch Nutella, es zuklappen und es in Papier einschlagen. Mit dieser Zugabe war der Tornister aber nun wirklich vollständig gepackt. Ein, zwei Mal brachte meine Mami mich noch zur Schule und irgendwann durfte oder musste ich dann alleine gehen. Auf dem kurzen Weg gesellten sich immer mehr Schulkinder dazu, sie strömten aus allen Himmelsrichtungen auf die kleine Schule zu. Die meisten hatten einen großen viereckigen Scout-Tornister auf dem Rücken mit Reflektoren und so.


„Das ist ein „U“!“ sagte die Lehrerin und malte es mit einer leichten und schwungvollen Bewegung und dem klackenden und schleifenden Geräusch der Kreide an die Klapptafel. Wir beobachteten sie dabei ganz genau, denn wir würden in Kürze genau diesen Buchstaben in unsere Hefte schreiben müssen. Gebannt verfolgte ich, wie der weiße Strich sich zu einem Buchstaben formte. An meinem winzigen, hölzernen Pult sitzend sprach ich, mit den Anderen im Chor, den Laut nach. „Uuuuuuh!“ wie „Uhu!“ Dann malte ich ihn mit dem Wachsmalstift in mein großes Schreibheft. Mit einem kleinen schmatzenden Geräusch löste sich der Stift von dem Papier als ich absetzte. Und die Lehrerin schritt hinter uns durch die Reihen und flüsterte ihre Kommentare in die Kinderohren:“Sehr gut!“, „Schön!“ oder „Mach‘s nochmal!“ Wir lernten das Schreiben in geschwungener Schreibschrift, die wir, Buchstabe für Buchstabe, Tag für Tag, mit den Stiften in unsere Schreibhefte abmalten. Als Hausaufgabe malten wir dann die mit kleinen Schlaufen an ihren Enden verschnörkelten Buchstaben noch viele Male akkurat nach, fein säuberlich in die vierreihigen Zeilen des Schreibheftes, deren Hilfslinien uns helfen sollten, dabei die richtigen Proportionen einzuhalten. Das erste Wort, welches ich auf diese Art zu schreiben lernte war: „Hut“. Allein das große „H“ war ein einziges Kunstwerk aus geschweiften Schlaufen und geschwungenen Schlingen. Wenn es mir gut gelang, machte es mich ähnlich stolz, wie meine erste Fahrradfahrt.


Allmorgendlich, wenn die Klassenlehrerin den Raum betrat, hatten wir aufzustehen und wir begrüßten sie im einhelligen Chor:“Guten Morgen, Frau Lehrerin!“ Und dann beteten wir stehend das „Vater unser“, beziehungsweise sagten wir es auf. Ich verstand größtenteils gar nicht, was ich da sagte. Es waren seltsame Worte. Irgendwas mit „Gib uns Brot!“ kam darin vor. „Ja, war Gott denn auch ein Bäcker?“ Als ungetauftes, konfessionsloses Kind hatte ich keine Ahnung, was diese Gebete bedeuten sollten. Ich sprach es nach, ohne
zu wissen, was ich da sagte.


Auf dem Pausenhof hüpften die Mädchen beim Gummitwist und die Jungs jagten sich beim Fangen. „Kleck!“ wurde dauernd gerufen und „Hab Dich!“ Andere liefen an Strohhalmen saugend, die in kleinen Papp-Packungen steckten umher, denn es gab für jeden von uns zur großen Pause eine Milch. Neben der Vollmilch stand noch Kakao oder Erdbeermilch zur Auswahl, oder aber, und dies war meine Wahl, Bananenmilch. Das war die neueste Variante im Schulmilch-Angebot und sie schmeckte so unsagbar künstlich nach Banane, dass es eigentlich mit dem Geschmack einer Banane nicht viel gemein hatte, aber das konnte mich nicht davon abhalten, diesen süßen Geschmack nur umso mehr zu lieben.


Ich habe keine schlechten Erinnerungen an die Grundschule und so absolvierte ich sie gern und gänzlich ungetrübt. Bis auf eine einzige Ausnahme. Diese Ausnahme hieß: Frank Dowitz. Er war der Klassenrüpel. Er war diese Sorte Kind, die einen Groll von zuhause mitbrachten und auf dem Schulhof nach Blitzableitern dafür suchten. Der klassische „Bully“, wie die Amerikaner diesen Typus nennen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er seine Bösartigkeit auch an mir ausprobieren würde. Und tatsächlich kam sehr bald schon jene große Pause, in der er mich aus seinen missmutigen Augenschlitzen heraus erspähte. Ihm missfiel wohl meine Freude, die ich an einem gefalteten Papierflieger hatte, den ich über Pausenhof gleiten ließ, und dem ich fröhlich hinterherrannte. Beim nächsten Landepunkt war Frank schneller und ich sah hilflos mit an, wie sein Fuß sich auf meinen Flieger senkte. Genüsslich zerstampfte er ihn. Der Junge war böse. “Warum machst Du das?” fragte ich ihn entsetzt. “Weil ich es will!” antwortete er nur ganz cool. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Seine Boshaftigkeit erschreckte mich. So etwas kannte ich bisher nicht.
Als er merkte, dass ich mich von seiner Dreistigkeit einschüchtern ließ, war er zufrieden, denn er hatte ein weiteres Opfer gefunden. Somit demütigte mich immer mal wieder, wenn ihm der schlechte Sinn danach stand und auf diese Weise suchte er wohl meine Grenze. Mangels Mut und aus Ratlosigkeit ließ ich ihn gewähren. Manchmal passte er mich auf dem Heimweg ab und piesackte mich dann. Er schubste mich ein wenig herum und war frech und gemein, drohte und schüchterte mich ein.


Die kleine Blechdose mit Wachsmalstiften wurde bald durch ein Federmäppchen abgelöst. Ein solches war eine famose Sache. Meines war, wie die meisten Modelle zweigeteilt: Es hatte zwei Fächer die ringsrum mit einem Reißverschluss zu schließen waren. Auf der einen Seite waren Bunt- und Filzstifte zu finden, die alle nach Farben sortiert waren und mit einzelnen Gummischlaufen in ordentlicher Reihe gehalten wurden. Das zweite Fach war für das Geodreieck, Lineal, Radiergummi, Anspitzer und den Füller vorbehalten. Der Füller war nun unser Schreibgerät! Auch er war ein wunderliches Dingen, das man aufschrauben konnte um kleine Plastikpatronen mit Tinte hineinzuschieben. Von da an gab zwei Sorten von Schülern: Diejenigen die einen Füller der Marke „Geha“ hatten und jene, die ein Modell des Herstellers „Pelikan“ bevorzugten. Ich war ein „Geha“- Mann! Durch ein kleines Fensterchen, das wie ein rundes Bullauge auf halber Höhe des Schreibers saß, konnte man schauen, ob noch genug Tinte im Füller war. Mein Füller war für mich sowas wie eine kleine Rakete. Ich ließ ihn vom Pult abheben und in den Weltraum des Klassenzimmers starten. Von hinter dem Bullauge könnte ich die Welt von oben sehen, wenn ich als winziges Männlein in der Füllerrakete sitzen würde. Wie toll wäre das? Als Frau Adamsen unsere Lehrerin sagte: “Sven! Könntest Du bitte aufpassen?”, war der Ausflug ins Weltall jedoch gleich wieder abrupt beendet. Ja, ein Füller war eine tolle Sache, aber noch viel faszinierender war die magische Wunderwaffe, die mit dem Zeitalter des Füllfederhalters einherging und gleich neben ihm im Federmäppchen zu finden war: Der Tintenkiller! Hier betraten wir das Wunderland der Magie! Mit diesem Wunderstift war es möglich, dereinst Geschriebenes gleich wieder unsichtbar werden zu lassen. „Zauberei!“ dachte ich. Mit der anderen Seite des Tintenkillers war es wiederum möglich, erneut über das „Ausgekillerte“ zu schreiben. Diese Korrektur blieb dann jedoch für immer und war nicht erneut korrigierbar. Der Tintenkiller war für mich genauso toll wie Ladykracher und Knallfrösche. Bei Klassenarbeiten war das „Killern“ jedoch verboten! Ein falsch geschriebenes Wort hatte durchgestrichen und neu geschrieben zu werden.


So lernten wir Wort um Wort. Satz um Satz. Oder wir lernten die Sprache dadurch, dass wir laut aus unseren Schul-Lesebüchern vorlesen mussten. Abwechselnd nahm Frau Adamsen uns der Reihe nach dran. Es fiel uns unterschiedlich leicht. Manche schafften es nur langsam und stockend aus den gedruckten Buchstaben ein gesprochenes Wort zu formen, Anderen gelang es müheloser. Mit dem Finger unter den Worten entlangfahrend, lasen wir auf diese Art die Kurzgeschichten aus dem Schulbuch vor. Das war ein schönes Fach, fast wie eine Märchenstunde. Ich fand die Geschichten meistens ganz gut. Zum Beispiel wie der Pfannkuchen „Kantaper, kantaper“ in den Wald rollte. Es war mitunter aber durchaus eine Geduldsprobe und Herausforderung nicht vorzusagen, wenn ein Klassenkamerad im Buchstabensalat hoffnungslos steckenblieb und dabei in eine Art gestotterte Zeitlupe verfiel. Ich biss mir auf die Zunge und hielt die Luft an, um nicht das Wort, an dem er zu ersticken drohte, in den Klassenraum zu rufen! Manche Mitschüler drucksten, schnauften und schwitzten derart gequält an den Worten herum, als säßen sie bei einem großen Geschäft auf dem Klo. Aber so sehr sie auch drückten und quetschten, es wollte nicht recht herauskommen. Oder was herauskam, ergab keinen Sinn, oder es war erkennbar geraten. So hatte jeder seine Eigenart und sein ganz eigenes Tempo darin, sich mit der Sprache in geschriebener Form anzufreunden.
Wie gut wir alles gelernt und verstanden hatten, konnten wir bei den Klassenarbeiten beweisen. Bei absoluter Stille im Klassenraum schrieben wir mit vor Konzentration herausgepressten Zungenspitzen unsere Diktate oder Aufsätze. Ich war kein Streber, aber insgesamt ein ganz guter Schüler, denn es machte mir größtenteils richtig Spaß diese Dinge zu lernen. Im Unterricht reckten wir unsere Arme in wildem Wettbewerb in die Luft, um uns zu „melden“, wenn wir anzeigen wollten, dass wir zumindest in bestem Glauben daran waren, beispielsweise eine Rechenaufgabe oder irgendeine andere Frage des Lehrers richtig beantworten zu können. Dabei mit den Fingern zu schnipsen, um die Aufmerksamkeit des Lehrkörpers auf sich zu lenken, war hierbei nicht gerne gesehen. “Nicht schnippen bitte!” ermahnte Frau Adamson des Öfteren, aber dennoch kam es im Zuge des überschäumenden Lerneifers immer wieder vor. Besonders wenn man, ganz ergriffen von der Begeisterung über die eigene Denkleistung, sich so reckte, dass man fast vom Stuhl abhob, weil man unbedingt drankommen wollte. Die Arme wurden dann so entschieden mit erhobenem Zeigefinger in den Raum gehoben, dass sich die jungen Schultern den vor Erregung roten Ohren näherten. Manche riefen auch:”Ich weiß es! Ich weiß es!”. Oft brachten wir eifrigen Schüler dabei auch seltsame Kehllaute hervor, die eine Art strebendes Stöhnen waren, ein Junken, das bedeuten sollte:“ Ich weiß es! Nimm mich dran!“ Die Mädchen mit ihren Haarspangen und Zöpfen benahmen sich meist gesitteter, schmollten aber gelegentlich, wenn sie wegen schnipsender und zappelnder Jungs nicht aufgerufen wurden. Das Lernen machte jedenfalls Spaß.

Aus: „Umwege. Die innere Reise. Band 1: Der Königssohn

Reue

Auf den Irrwegen durch mein unsortiertes Dasein begegnete ich auch immer wieder meinem Grünauge. Ich schenkte ihr nicht wirklich viel Aufmerksamkeit, weil ich durch die ganzen Vorgänge in meinem Leben auf viele Arten von ihr abgelenkt wurde. Ich nahm sie einfach wie eine Selbstverständlichkeit hin, wie einen Aspekt unter vielen in meinem Leben. Manchmal fiel sie mir ein, oder ich sah sie irgendwo und dann ging ich zu ihr. Als erste und tiefste Liebe meines Lebens bedeutete sie mir jedoch heimlich, in der Tiefe meiner Seele verborgen, viel mehr als es mir damals bewusst war. 

Mein Blick auf sie war nicht nur durch die Veränderungen in meinem Leben verstellt, sondern zudem auch noch von der Strahlkraft ihrer betörenden Sexualität überlagert. So viele Frauen ich auch im Laufe der Zeit kennengelernt hatte: Keine fand ich letztlich so geil wie sie. Bei keinem sexuellen Abenteuer, so gut sie auch waren, fand ich letztlich diese Qualität der Lust, wie ich sie bei ihr erlebt hatte. Grünauge war die Königin des Sex. Und so sah ich sie vornehmlich nur noch mit lüsternen Augen an, wenn ich sie sah. Wenn ich zu ihr schlich, hatte ich nur eines im Sinn. Ich war süchtig danach.

Sie hatte das schon lange bemerkt und sie war es zunehmend leid geworden, dass ich sie immer nach Belieben aus dem Hut zog, wie einen Sexjoker, wenn mir gerade mal die Laune danach stand. Heute bereue ich es zutiefst, aber damals war es tatsächlich oft so. Es geschah irgendwie automatisch. Ich wurde schon geil, wenn ich nur an sie dachte. Der Mensch, der Grünauge war, verschwand für mich hinter der blinkenden Leuchtreklame ihrer Erotik.

Langsam begann sie mir zu zeigen, wie benutzt sie sich dabei vorkam und der Sex begann auf diese Weise, jedesmal ein bisschen mehr, seinen Zauber zu verlieren. Sie sprach diese Dinge allerdings niemals aus. Sie kommunizierte es stumm. Sie zeigte es mir durch ihr Verhalten. Demonstrativ wurde sie immer mechanischer, kälter, entfernter. „Ich fühlte mich nicht mehr wohl dabei!“ ließ sie mich auf diese Art wortlos wissen. Aber ich nahm es zuwenig wahr. Ich glaube, zuletzt muss sie mich gehasst haben. Gesagt hat sie es nie. Wie voll von mir selbst muss ich gewesen sein, dass ich all das damals nicht gesehen und verstanden habe?

Ich erschien einfach im Türrahmen und wollte, dass sie mir zu Willen war. Ich ging irgendwie davon aus, dass sie es genauso wollte.

Ich sah und merkte es in meiner Egoshow nicht, aber als unser Feuer erstarb und verging, da blieb irgendwann nur noch etwas Glut in den verkohlten Resten zwischen uns und dann schließlich zerfiel alles zu weißer Asche. Diese letzten Überreste unseres Liebesfeuers sollte dann der Wind mit der Zeit verwehen und am Ende würde nichts von der einstigen Größe und Schönheit dieser hohen Flammen übrigbleiben. Im Gegenteil, es blieb Trauer und ein stiller Vorwurf.

Erst jetzt, da ich mich sehnsüchtig und reuevoll erinnere und all dies aufschreibe, verstehe ich die letzten Szenen zwischen uns. 30 Jahre später sitze ich hier und vor meinem inneren Auge spielt sich alles noch einmal ab wie ein Film. Jetzt erst höre und verstehe ich ihre stille Anklage. Sie hatte mich wortlos spüren lassen, dass ich unsere Liebe auf dem Gewissen hatte, dass ich alles, was einmal schön zwischen uns gewesen war, kalt ermordet hatte. Besonders zwei Szenen wirken heute besonders auf mich und ich schreibe sie voller Reue und Scham nieder:

Ich erinnere mich an einen meiner letzten Besuche bei ihr. Damals wohnte sie noch im Hause ihrer Eltern und ich erinnere mich daran, dass es draußen schon dunkel war. Ich sehe in meiner fragilen Erinnerung, wie sie auf der Fensterbank saß, als ich den dunklen Raum betrat. Sie sah durch die Scheiben auf das silberne Mondlicht, das sich wie ein leuchtender Schleier über die Konturen des Gartens gelegt hatte. Es war eine schöne, sternenklare Nacht und der Garten hinter dem Haus lag in gespenstischer Stille und Silberlicht. Es war eine Szene wie aus einem Traum. Ich stand mitten im dunklen Zimmer und bekam Lust auf sie, wie immer, wenn ich sie erblickte. Sie aber saß nur stumm und abwesend, würdigte mich kaum eines Blickes und sah ins ferne, sternenblinkende All hinaus und auf die mondenbleich beleuchtete Gartenszene darunter. Sie trug ein Nachthemd und umarmte eines ihrer Beine, das sie spitz angewinkelt auf der Fensterbank aufgestellt hatte. Das andere Bein ließ sie herabhängen. Dieser ganze Anblick sah so anmutig aus wie ein Gemälde. Ihre Kontur war märchenhaft von weißem Mondlicht umrissen. Blass lag der bleiche Schein auf den Rändern ihrer Wangen und auf dem Rücken ihrer kleinen Stupsnase. Es war ein wunderschönes Bild. Wie aus Porzellan gegossen, saß sie da und eigentlich war es ehrfurchtgebietend. Man hätte sie unangetastet und in Frieden lassen müssen.

Ich spürte das für einen Moment, sonst könnte ich es heute nicht schreiben, aber zugleich übermannte mich auch meine Lust auf sie. Denn ich sah das silberne Mondlicht auch auf den üppigen Rundungen ihrer Brüste liegen. Ich sah die sündhaften Formen ihres jungen Körpers, die sich unter dem dünnen Stoff des Nachthemdes abzeichneten. Ich kam nicht darüber hinweg. Sie machte mich einfach nur geil wenn ich sie nur ansah. Ich stand wirklich auf sie. Ihr Sex war der Beste. Es gab einfach nichts Besseres auf der Welt. Also entschied ich mich dazu, es ihr zu verstehen zu geben, obwohl es überhaupt nicht in diesen stillen, stimmungsvollen Moment passen wollte. Vom verträumten Mondenschein beschienen und völlig stumm, mit versteinertem Gesicht, entkleidete sie sich daraufhin, ohne ein Wort, ohne ein Lächeln. Mit einem fast toten Gesichtsausdruck ließ sie das Nachthemd zu Boden fallen. Und ebenso teilnahmslos und kalt wie ein Fisch wandte sie sich dann zu mir, kniete sich splitternackt vor mich hin und begann mich mit ihrem Mund zu befriedigen wie eine anonyme Liebesdienerin. Sie tat es technisch perfekt, aber ohne jede echte Leidenschaft, ohne jedes Gefühl der Geilheit oder Lust. Sie bediente mich wie eine Hure und als es zuende war, ging sie stumm und wortlos wieder zur Fensterbank und sah weiter aus dem Fenster. Kein Wort, kein Lächeln. Nackt wie sie war, saß sie nun da im Mondlicht wie zuvor, wandte den Kopf von mir und sah hinaus. Von ihrem Gesicht las ich einen seltsamen Ausdruck ab, den ich damals nicht zu deuten wusste. Heute, da ich in meiner Erinnerung in diesen Augenblick zurückkehre, lese ich dort Resignation, Trauer, Wut und Bitterkeit. Ohne dass sie ein einziges Wort verlor, ließ sie mich dennoch spüren, dass hier etwas verloren war. Es war der tonlose Schwanengesang über den Tod unserer Liebe.

Ich sehe mich jung, ratlos und eigenartig beschämt ein paar Schritte abseits von dem Fenster im Dunkel des Zimmers stehen. Ich spürte damals, dass dies eine Lektion gewesen war. Es war sicherlich seltsam und etwas befremdlich gewesen, aber so richtig verstanden habe ich es damals nicht. Ich merkte nur, dass etwas falsch war, grundfalsch. So machte es keinen Spaß. Der Sex war leer gewesen, seelenlos. Auf diese Art sprach sie zu mir ohne Worte: „Wenn Du nur den Sex in mir siehst, dann sieh selbst was das wert ist!“ Ich verstand es nur atmosphärisch und unterbewusst. Für den Moment stand ich nur verdattert da, fühlte mich irgendwie schäbig und wusste nicht genau warum. 

Etwas später, ich glaube, es war sogar das letzte Mal, dass es zum Sex zwischen uns beiden kam, waren wir auf dem Land.  Wir saßen im Auto unweit von dem Bauernhof, auf dem mein Kindheitsfreund Gall mit seinen Eltern wohnte. Ich war dort für die Zeit meines Wochenendbesuchs aus Hamburg untergekommen. Wir standen mit ihrem blauen VW-Golf einige Meter abseits von der Straße auf einem staubigen Feldweg. Es begann zu dämmern und wieder drängte ich auf Sex. Ich war so verrückt danach, dass ich fast schon bettelte. Und ich hörte auch nicht auf, es einzufordern, als sie klar sagte, dass sie keine rechte Lust habe. „Komm schon! Bitte! Ich will es so sehr!“ beschwor ich sie. Ich war doch mit ihr allein. Es musste doch passieren! Ihr wunderbarer Mund, ihre Brüste, ihr sündhaft guter Sex! Ich hatte nichts begriffen. Ich war blind und taub für ihre Bedürfnisse. Ich schäme mich, während ich heute diese Szene beschreibe, denn heute weiß ich wie schwach und schlecht mein Verhalten damals war. Ich war ein egoistisches, notgeiles Arschloch.

So kam es zu einer grausam schlechten Szene von hingequetschtem Sex im Auto, der wohl niemandem rechte Freude brachte. Ich hatte in meiner Jugend, in meiner Lust, einfach nicht den Anstand besessen, ihr „Nein!“ zu akzeptieren. Ich konnte ihr nicht widerstehen. Als ich schließlich mit Hängen und Würgen gekommen war, stieg sie nackt und schweigend aus dem Auto.

Wir hatten nahe an einem kleinen Flüsschen geparkt. Hier war keine Menschenseele weit und breit. Splitternackt ging sie im schwindenden  Licht der untergehenden Abendsonne zu der kleinen Brücke, die da über das Flüsschen führte, lehnte sich vornüber an das Geländer und sah wieder, wie damals auf der Fensterbank schon, mit einem verlorenen und traurigen Ausdruck in ihrem stummen Gesicht in den fernen, kupfer-goldenen Sonnenuntergang. Ich lag verklebt auf der Rückbank im Auto und sah diese Szene wie in einem Film. Sie wirkte surreal und eindrucksvoll. Ich fühlte mich schlecht, denn irgendwo in der Tiefe meines verdrängten, wahren Selbsts spürte ich, dass ich etwas getan hatte, was nicht gut war. Wie sie so dastand im Orange des Sonnenunterganges, war sie eine Statue der Verletztheit, der Enttäuschung und des wortlosen Vorwurfs. Es war, als sähe sie dort hinten am glühenden Horizont das absolut traurige und ernüchernde Ende unserer Geschichte. Mit diesem Stummfilm zeigte sie mir nun zum zweiten Mal, dass ich ihr wirklich Unrecht antat. Ich spürte für einen kurzen Moment die Wahrheit und die Scham darüber, dass ich all das Schöne unserer Liebe entweiht hatte.

Ich hatte sie zu meiner Hure gemacht. Das hatte sie nicht verdient. Ich ging dennoch nicht zu ihr. Ich wagte es nicht. Ich sah sie nur an. In ihrer Nacktheit und im goldenen Schein der tiefstehenden Sonne sah sie fragil und gleichzeitig anmutig aus. Wieder war sie eindrucksvoll wie ein Ölgemälde und während ich dieses Bild betrachtete, begriff ich zwar emotional die Tragik dieses Augenblicks, spürte ihr Unglück, aber in meinem jungen Kopf verstand ich die Situation nicht. Das tue ich erst heute. Ich habe, so gesehen, 30 Jahre gebraucht, um zu begreifen, was an diesem Abend geschah. Wäre ich doch wenigstens zu ihr gegangen und hätte mich entschuldigt, hätte sie umarmt, getröstet und sanft gehalten. Aber selbst dazu fehlte mir die Größe und der Mut. Klein und feige blieb ich im Auto und zog mir die Hose hoch. Es ist schwierig aus heutiger Sicht auf diese Szene zu blicken, die ganz sicher einer der schwächsten Momente meines Lebens war.

So tötete ich unsere Liebe und es kam der Tag, an dem sich Grünauge befreite, ab dem sie endgültig nicht mehr für mich zugänglich war. Als ich sie irgendwann ein weiteres Mal besuchte, fand sie endlich die Kraft, sich von mir loszusagen. Sie sprengte die Ketten, die sie an mich gebunden hatten, und verweigerte sich mir. Sie spie mir ein giftiges, deutliches: „Nein!“ entgegen, das keinen Zweifel mehr an ihrer Abscheu ließ. Als ich sie mir gewohnheitsmäßig nehmen wollte, als ich ihren Busen ergreifen wollte,  fauchte sie, wie eine tollwütige Katze, ein so giftiges „Nein!“, dass ich erschrak. Darin spürte ich ihren angesammelten Schmerz und Hass. Nun sagte sie sich los. Klar und absolut. Das war nur gerecht. In diesem Moment war unser gemeinsamer Weg unweigerlich zu Ende. Ich zuckte regelrecht zusammen und war überrascht über ihre nun völlig offen zutage tretende Ablehnung und Feindseligkeit. Ich schaute in grüne Augen, die starr und hart auf mich blickten.

Sie sah mich an wie einen Feind. Blanke Wut glänzte darin. Alles war vorbei. Ihr Blick sperrte mich aus. Das Augenpaar, in dem ich einst zuhause gewesen war, sah mich nun unverwandt an wie einen Fremden. Ich verstand in dieser Sekunde, dass ich raus war. Aus ihrem Herzen, aus ihrem Blick, aus ihrem Leben. Auf einmal gab es nichts mehr zu sagen. Stumm wies sie mir die Türe und ich ging verstört nach Hause. Die Gedanken und Gefühle in mir waren aufgewirbelt wie die Flocken einer Schneekugel. Langsam, sehr langsam, würden diese Fragmente der Verwirrung sich irgendwann wieder zu einem Bild zusammenfügen. Ich würde erst nachträglich begreifen, was ich da verloren und verspielt hatte.

Manchmal wissen wir erst, wenn wir etwas verlieren, was es uns bedeutet. Ich hatte mich ihrer in den letzten Jahren so sicher geglaubt, dass ich sie am Ende gar nicht mehr zu schätzen gewusst hatte. Sie jetzt so endgültig und radikal, ganz und gar zu verlieren, spielte mir etwas von dem Schmerz zurück, den ich ihr in meiner Achtlosigkeit wohl schon seit längerem bereitet hatte. Jetzt kam dieser Schmerz als Reue, Trauer und Sehnsucht zu mir zurück und das hatte ich mehr als verdient.

Ich habe in den kommenden Jahren oft an diese Liebesgeschichte zurückgedacht und fast immer waren meine Erinnerungen an das Grünauge, an die Schönheit und die Größe unserer Liebe, von der Sehnsucht begleitet, in diese glücklichen Momente zurückkehren zu wollen. Oft habe ich mich hingesehnt in diese wortwörtlichen “Augenblicke”, in welchen ich tief in der klaren See ihrer grünen Augen versunken und auf deren Grund ich selig gewesen war. Vielleicht war ich dort, in ihrem Grün tauchend, einem Menschen, einer Seele, näher, als ich es später je wieder war. Für wenige Stunden habe ich damals die Liebe in ihrer ganzen Pracht gesehen und erlebt. Das Glück ist in seiner Natur flüchtig und man kann es weder fangen noch festhalten. So verloren wir es irgendwann und es wehte wie ein Schleier davon, endete wie ein langsam sterbender Traum.

Lange war es zwischen Grünauge und mir so, als sei die Liebe zwischen uns immer hin- und hergewandert. Als hätte immer nur einer geliebt, als hätten wir die Liebe über weite Strecken wie eine Fackel, abwechselnd und dann fast alleine getragen. Und trotz alledem: In den goldenen Momenten, als wir uns in der Mitte trafen, in der Schnittmenge unserer Liebe, in diesen wenigen, gezählten Tagen an denen wir uns wahrhaft gegenseitig liebten, erlebte ich das Schönste, was ich je mit einer Frau in meinem Leben erfahren habe. Und ich meine ausnahmsweise nicht nur den Sex. Es waren besonders die nackten, verliebten Momente danach, in denen wir gemeinsam an die Decke sahen und sprachen, in denen wir uns eine Zigarette teilten. Wir waren uns nahe gewesen, wirklich nah, und in dieser Nähe war es mir sehr gut gegangen.

Mit schwerem Herzen, dachte ich in all den Jahren, die seitdem vergangen sind, immer mal wieder an diese grünen Blicke, die so tief in mich gedrungen waren, an die verschwitzten Stunden in schwülen Sommernächten. Wie gnadenlos jung wir damals waren! Die feuchten Laken hatten an uns geklebt und während wir leidenschaftlich miteinander schliefen, sagten wir uns: „Ich liebe Dich!“ und „Ich liebe Dich auch!“. Wir waren tief im Blick des Anderen zuhause. Unsere Blicke waren zusammengeschmolzen. Stundenlang hatten wir auf diese Art beisammen gelegen, uns gehalten und angesehen. Dies war das größte Glück. Ich habe auf Erden nichts besseres finden können. Die übrige Zeit haben wir uns jedoch meistens irgendwie verfehlt, liebte einer und der andere ließ sich lieben. Ja, ich schätze, so war das.

Noch nach Jahrzehnten träumte ich ungefähr ein- oder zweimal im Jahr von ihr. In der verschleierten Tiefsee meiner Träume kehrte ich zu ihr zurück. Hinter zeitlosen Sphären in fernen Traumwelten, in alternativen Universen, fand ich den goldgrünen Schimmer ihrer Augen wieder, sank erlöst in die Wärme ihrer Umarmung und sah dabei das glückliche, kecke Lächeln in ihrem blutjungen Gesicht. Oh, welche Vertrautheit fand ich darin! Ich war am Ziel meiner Sehnsüchte angelangt. Die bloße Ansicht ihrer spitzen Nase und der darunter entblößten oberen Zahnreihe, die zu kleinen glücklichen Bällchen erhobenen Wangen mit den entzückenden Grübchen darin, der Klang ihrer Stimme und der Geruch ihrer Haut vermochten mich so glücklich zu machen wie nichts anderes auf der Ẃelt. 

Dann wachte ich ganz verliebt auf, als wäre alles erst gestern gewesen und noch ganz umsponnen von diesem Zauber, griff ich dann oft genug zum Telefonhörer und rief sie an, als könnte ich die Vergangenheit und das Glück einfach anrufen. Mit jedem Jahr wurde dieses Gespräch immer befremdlicher und skurriler. Sie machte es sehr deutlich, dass meine Anrufe sehr ungelegen kamen und ihr grundsätzlich nicht willkommen waren. Sie muss gedacht haben, dass ich verrückt bin. Und ich fühlte mich auch so. Es wurde am Ende sehr peinlich und sehr distanziert zwischen uns und ich machte mich jedes Mal zu einem noch größeren Trottel. Ich war nur noch der fast schon stalkende, ehemalige Schulfreund, der einfach nur nervte, weil er ganz sehnsüchtig aus dem Nichts anrief und fragte:“ Soll ich Dir nicht mal meine Nummer geben? Wir könnten uns sehen und reden!…Nur eine Tasse Kaffee…Ich würde Dich sehr gerne einmal wiedersehen…“ Und sie antwortete:“ Ach, ich schreibe deine Nummer dann nur auf einen Zettel und verlier den dann wieder. Welchen Sinn sollte das haben?“ 

So sprach sie durch die Blume, indirekt, wie es ihre Art war, und es bedeutete: „Verpiss Dich endlich! Sieh doch ein, dass ich keinerlei Interesse an einer Kommunikation mit Dir habe.“ So endete die Geschichte von meiner ersten Freundin. Am Ende war ich es, der noch leiden musste, der regelmäßig, einmal im Jahr verliebt aufwachte, chancenlos verliebt in eine längst vergangene Zeit, in ein Mädchen von damals, das es lange nicht mehr gab.

Wenn ich A-Ha’s „The sun always shines on TV“ höre, dann wird mein Herz sogar heute noch ganz süß und schwer. In diesem Lied ist die emotionale Erinnerung an diese Liebe konserviert. Dann erinnere ich mich für einen kurzen, wundervollen und gleichzeitig bittersüßen, sehnsuchtsvollen Moment daran, wie es sich angefühlt hatte, als ich mit 14 Jahren erstmals in diese grünen Augen geblickt und mich von diesem Augenblick an eine Flutwelle der Gefühle mit sich gerissen hatte.

Solche sehnsüchtigen und sentimentalen Anwandlungen schüttelte ich im Jahre 1991 aber genauso schnell wieder ab, wie sie gekommen waren. Ich suchte und fand Ablenkung zwischen anderen Brüsten und Schenkeln, in anderen Armen. Es würde mich Jahre kosten, festzustellen, dass ich niemals ersetzen können würde, was ich so leichtfertig verspielt hatte. Mein Leben war damals ein schneller, praller Ablauf von Ereignissen. Besonders in Hamburg hatte ich ja ein großes Abenteuer zu bestehen. Da blieb nicht viel Zeit für reuevolle Reflektionen.

Ich fuhr nicht jedes Wochenende nach Krefeld, auch wenn ich es am liebsten getan hätte. So kam es, dass ich auch mal in Hamburg ausging, auf die Reeperbahn und in Hamburger Clubs. Das fühlte sich ganz anders an als mein Heimspiel zuhause. Ohne das vertraute Umfeld, meine Jungs, meine Burg, war ich nur ein Junge von vielen, der allein unterwegs war und in der Menge unterging. In Hamburg war ich ein Tourist, der niemanden kannte. Wenigstens fand ich einen englischen Praktikanten in der Textabteilung unserer Agentur, der ganz brauchbar aussah und für jeden Blödsinn zu haben war. “Alexis” hieß der Kerl und ich nahm ihn gleich ins Schlepptau. Und er war tatsächlich, wie die meisten Briten, recht trinkfest und lustig. Er teilte meinen derben Humor. Ich weiß noch, dass er eine „Panik“-Gürtelschnalle hatte, wie Udo Lindenberg sie trug und dazu meinte er dann: „Panicpenis in the house!“ Das passte zu meinem Krefelder-Proll-Style! Also zogen wir los.

Nach ein paar Szenelokalen und Stripteasebars verlor ich den Panikpenis aber ziemlich schnell wieder irgendwo im Suff, im Treiben der Nacht. Morgens um vier tanzte ich schließlich mit Schlagseite irgendwo in der Nähe der “Großen Freiheit”, oder man kann sagen: Ich “schwankte” auf irgendeiner Tanzfläche zwischen dubiosen Gestalten umher, da sah ich eine Busengöttin mit straff gespannter Bluse am Rand der Tanzfläche neben einer Box stehen. “Außerordentlich!” fand ich.

Während ich auf sie zustolperte, versuchte ich mich zusammenzunehmen. Einige Sekunden später bemühte ich mich, mit alkoholschwerer Zunge so deutlich wie möglich die Frage zu artikulieren, die ich in ihr Ohr sprach: “Was machst du denn gleich noch?”

Als es langsam schon wieder hell wurde, saßen wir am Tresen einer urigen Hamburger Kneipe zwischen den Übriggebliebenen der Nacht. Alles quatschte und lallte und soff. In dem Gewirr aus Musik, Stimmen und Gläserklingen wurde mein Kopf langsam bedenklich schwer und ich hatte zunehmend Mühe ihn oben zu halten…und die üppige Busenkönigin schien sich überhaupt zu zieren…Langsam gab ich innerlich schweren Herzens meine Hoffnung auf Sex auf und überlegte, ob ich mich verabschieden und zur U-Bahn torkeln sollte. Der Gedanke gefiel mir aber auch nicht so richtig und so hing ich da, wie ein Sack Muscheln auf meinem Barhocker. Es war Sonntagmorgen und die Sonne stieg langsam über Hamburg auf und warf lange Schatten in die leeren Straßenschluchten. Und ich wäre fast im Sitzen eingeschlafen, da sagte sie plötzlich: „Lass uns gehen!“

Wenig später in ihrer Wohnung machte mich der unverhoffte Anblick ihrer entblößten Prachtbusen wieder wach. Welchen üppigen und prächtgen Augenschmaus boten doch diese beiden perfekten Exemplare? Wir hatten uns in ihrem Wohnzimmer teilweise unserer Kleidung entledigt und nun griff sie meinen Penis und schleppte mich daran, wie an einem Abschleppseil in ihr Schlafzimmer. Auf ihrem Bett standen mir ihre Busen wie zwei steife Puddings entgegen. Es waren perfekte Meisterwerke der Natur. In meinem Kopf leuchtete in Neonschrift auf: “Überbingo” und “Tittenjackpot!” So kann es laufen. Manchmal muss man eben auch Glück haben!

Realschule

Die Lehrerkonferenz des Gymnasiums am Moltkeplatz legte meiner Mutter nahe, ihren inzwischen als unhaltbar angesehenen Zögling von der Schule zu nehmen. Um ihr diese Erlösung von mir schmackhaft zu machen, bot man ihr im Gegenzug an, mir ein unverdient gnädiges Übergangszeugnis auszustellen, damit: “Ihr Sohn nicht noch ein weiteres Jahr verliert!”. Und weil die ehrwürdigen Lehrmeister so überzeugend argumentieren, akzeptierte meine Mutter den offerierten Deal. Und das war dann tatsächlich das jähe Ende meiner akademischen Laufbahn.

Es war fair genug. Ich hatte schließlich meine Chancen gehabt. Über fünf Jahre, inklusive eines wiederholten Schuljahres, hatten sie mich ertragen und mir alle Möglichkeiten gegeben. Ich war oft genug ermahnt und gerügt worden. Ich wusste, dass ich meinen Teil nicht ausreichend getan hatte, das war schon klar. Rückblickend wäre ich gerne etwas schlauer und fleißiger gewesen, aber das war ich damals einfach nicht. Die Schule war in meinen Augen, seit langer Zeit schon, lediglich nur noch ein notwendiges Übel gewesen. So flog ich völlig folgerichtig aus dem großen Palast der Bildung, dem Gymnasium am Moltkeplatz. Die renommierte Lehranstalt erkannte schlussendlich ihren Irrtum. Einen Irrtum, der darin bestanden hatte, jemanden wie mich in seine Reihen aufgenommen zu haben, einen Jungen, der letztlich nie wirklich zu würdigen gewusst hatte, was ihm da geboten worden war. Das Moltke spuckte mich aus wie einen faulen Apfel und ich durfte mich darüber wirklich nicht beschweren.

Jetzt musste ich zur Realschule. Konkret war dies die “Marianne-Rhodius-Schule”. Also radelte ich morgens einfach ein paar Ecken weiter. Ich ließ das Gymnasium in meinem Rücken liegen und überquerte die Grenzstraße, fuhr ein Stück die Germaniastraße entlang und bog dann in die Kaiserstraße Richtung Stadtwald ein. Umso näher ich kam, desto aufgeregter wurde ich innerlich. An der Kreuzung von Kaiserstraße und Friedrich-Ebert-Straße angekommen, war ich dann am Ziel. Vis-à-vis vom Kaiserpark stand nun diese neue Schule. Ich betrachtete das Gebäude und fand, dass es recht belanglos aussah. Und tatsächlich stellte ich dann während meiner ersten Schultage dort schnell fest, dass darin auch wirklich alles harmloser und banaler zuging. Vorbei war der edle Zauber im prunkvollen Prachtbau. Dieses etwas banale Gebäude, das ohne jeden Charme und Esprit auskam, hielt auch im Inneren, im täglichen Ablauf, was es äußerlich versprach. Es gab weniger Klassen und Schüler und überhaupt blieb auch auf den zweiten Blick alles recht ernüchternd. “Das habe ich mir also nun eingebrockt!” dachte ich etwas reumütig. Aber dann erwies sich bald, dass der Schulwechsel auch durchaus Vorteile hatte. Durch den gesunkenen Anspruch wurde der ganze Schulalltag wesentlich entspannter für mich. Der Lehrplan war schön seicht und hier gab es auch keine Bonzen, kein soziales Gefälle. Vielleicht war ich nunmehr auf dem Boden der Tatsachen angelangt und letztlich dort gelandet, wo ich eigentlich hingehörte.

In der neunten Klasse auf der Marianne-Rhodius-Schule war ich nun der „Neue“. Ein fremder Junge, der mitten im Schuljahr von der fremden Schule gekommen war und auf einmal zwischen ihnen saß. Zwei Jungs kannte ich allerdings schon vom Moltke. Sie waren diesen Weg der Schande schon vor mir gegangen. Einer von ihnen war sogar der Junge mit dem Grünauge diese schmerzhaften 9 Monate so glücklich zusammengewesen war. Aber das war schon vergessen. Er war ein sehr liebenswerter, freundlicher Kerl und für eine gewisse Zeit wurden wir sogar sehr gute Freunde.

Ich war immer noch der blasse, picklige Typ, der keinen einzigen Muskel am Leib hatte, dessen große Ohren etwas abstanden und der eine relativ breite Nase mitten im leicht pickeligen Gesicht trug. Das war zumindest das Bild, was mir meine Selbstwahrnehmung vermittelte. Ich hielt mich bestimmt nicht für einen Hingucker. Umso größer war meine Überraschung, als ich irgendwann feststellte, dass es ein paar Mädchen in der Klasse gab, die das wohl etwas anders zu sehen schienen. Sie lächelten mich immer öfter an. Wie konnte das sein?

Ich denke, es war wohl in erster Linie diesem Alter geschuldet. Um die 17 war man gemeinhin sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Jedenfalls ergab sich mit der Zeit eine Situation, die ich niemals für möglich gehalten hätte: Die Mädchen meiner Klasse gerieten, zunächst, wie gesagt zu meiner völligen Überraschung, später dann aber durchaus zu meinem wachsenden Vergnügen, mit der Zeit in eine Art zunehmenden Wettbewerb untereinander. Ohne mein großes Zutun entstand eine interessante Psychodynamik zwischen den Mädchen, die darin bestand, dass sie versuchten, sich gegenseitig zu überbieten. Es war wohl eine Art Verdrängungswettbewerb der kleinen Eifersüchteleien. Sah die Eine, dass die Andere mir einen Zettel zusteckte, dann schrieb sie natürlich auch einen und das tat dann auch die Nächste.

Jetzt wollten sie wohl wissen, wer den Neuen kriegt. Das war in erster Linie ein Ding der Rivalität zwischen diesen Schulmädchen untereienander. Sie entzündeten sich selbst. Ich hab nichts gemacht, echt nicht. Ich hab nur mal hier und da gelächelt und geschaut. Der Rest war ein Selbstläufer, zu dem ich kam, wie die Jungfrau zum Kind.

Auf einmal war der blasse Junge, der oft genug auf dem Gymnasium nur der Außenseiter gewesen war, der neue, heiße Typ in der Klasse. In dieser Rolle fand ich mich relativ unerwartet wieder, wie man sich denken kann. Ich fragte mich, wie das überhaupt sein konnte. Vielleicht war es einfach der Reiz des Neuen. Vielleicht übersah ich auch etwas an mir, was eine gewisse Anziehungskraft auf sie ausübte? Ich wusste es nicht, aber was es auch immer war: Ich war der glückliche Nutznießer dieser neuen Situation und ich fand es natürlich wunderbar. Es schmeichelte mir und meinem Ego. Das war eine willkommene Wohltat und Bestätigung, denn in meinem Buckel steckten ja schon ein paar Harpunen und Lanzen aus Enttäuschung, die mir die Walfänger des Schicksals auf den Leib geschleudert hatten.

Jedenfalls schienen meine Mitschülerinnen altersbedingt in hormoneller Aufruhr zu sein und so glänzten mich immer mehr Augenpaare an, wenn ich den Kopf in der Schulbank nach hinten drehte und in das Rund des Klassenzimmers sah. Sie grinsten um die Wette. Das war wirklich eine sehr angenehme Position. Etwas ähnliches hatte ich, wenn überhaupt, nur in der Grundschule erlebt mit meinem knutschwütigen Vierertisch-Gespann. Ich dachte, ich träume das alles nur! Auch hier kamen nun die ersten Zettelchen aus Löschpapier zu mir, die in schöner Mädchenschrift beschrieben waren. Sie überboten sich in Freundlichkeit.

Meine wirkliche Favoritin auf dieser Schule war aber ein Mädchen in der Parallelklasse. Sie hatte das, was mich anzog. Eine herausragende Persönlichkeit und zwei deutlich hervorragende Busen, die meinem Augenmerk nicht entgangen waren. Dieses Mädchen war aus vielerlei Gründen auffällig. Sie schien auch wirklich alles dafür zu tun. Sie wechselte alle paar Tage ihre grelle Haarfarbe und kleidete sich darüber hinaus so völlig hemmungslos, kreativ und ausgefallen, dass es an manchen Tagen geradezu skurril zu nennen war, wie sie aussah. Aber sie sah immer gut aus. Sie zelebrierte sich selbstbewusst und traute sich was. War sie am gestrigen Tage noch in schwarzweiß-karierter Latzhose und königsblauen Haaren aufgefallen, konnte es sehr gut passieren, dass sie am darauffolgenden Tag mit orangem Haupthaar und Minirock aufmarschierte. Sie lieferte echt eine Show. Sie war ein Star, ein wildes, buntes Mädchen.

Ihr aller auffälligstes Feature waren aber ihre großen Augen. Und ich meine wirklich ihre Augen. Es waren die Augen von Kleopatra. Es waren zwei riesige, verträumte, von Kajal umrandete Scheinwerfer. Das schimmernde obere Lid ließ sie lässig und cool auf halbe Höhe herabhängen, was ihr eine Art coolen Schlafzimmerblick verlieh. Wenn ich ihr als Schulkamerad in der Raucherecke auf dem Schulhof bei einem beiläufigen Gespräch in diese Augen sah, wurde mir auf eine sehr gute Art und Weise ein wenig schwindelig. Ihre magischen Augen schienen der Eingang in eine andere Welt zu sein. Ich brachte sie zum Lachen und manchmal hatte ich ganz leicht das Gefühl, als ginge der eine oder andere Blick ein bisschen tiefer, aber dann lernte ich im Laufe dieser Pausengespräche, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte. Sie erzählte mir, dass sie mit älteren Jungs rumhing. Das waren richtige Typen mit Bartstoppeln und langen Haaren so, richtige junge Männer, die 18 Jahre und älter waren. Das war in dem Alter ein meilenweiter Unterschied. Dagegen war ich noch ein Bubbi. Kleopatra war, was ich zu meinem Bedauern feststellen musste, außer Reichweite.

Dennoch schreib ich ihr kleine Zettel mit Flirtnachrichten, wenn wir gemeinsam mit ihrer Klasse Chemie-Unterricht hatten. Ich hatte ja nichts zu verlieren. Aber ich machte mir keine großen Hoffnungen. Barthaare hatte ich nur einzelne und sie waren in ihrer Anzahl so gering, dass sie schnell gezählt waren.

Immerhin sprach sie mit mir und wir lachten gerne zusammen. Ich mochte sie sofort. Kleopatra hatte eine lockere und angenehme Art. In kurzen gestohlenen Blicken versank ich für flüchtige, intensive Momente in ihren großen Augen. Ich tauchte hinein wie in einen Traum.

Dann verkündete unsere Klassenlehrerin Frau Brackenacker eines Tages das Ziel der diesjährigen Klassenfahrt: “Wir werden also zum Chiemsee fahren!” Ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich als kleiner Junge schon einmal dort gewesen war, auf der Schlösser-Reise mit meiner Mutter. Auf der Herreninsel im Chiemsee hatten wir damals das Schloss von Ludwig dem II. besichtigt. Es war eine schöne Gegend, ohne Frage. Ich freute mich also auf diese Fahrt, denn ich hatte das schöne Bayern in bester Erinnerung.

Schon wenige Wochen später saß ich inmitten meiner Klassenkameraden im Reisebus und wir rollten über endlose Autobahnen gen Süden. Dem Busfahrer waren Musikkassetten übergeben worden und so dudelte im Hintergrund eine wilde Mischung aus Pet Shop Boys, Depeche Mode, Frankie goes to Hollywood und anderen Songs aus den aktuellen Charts. Die Stimmung in der gesamten Klasse war altersgemäß ausgelassen und so war der ganze Bus voller Gekichere und Geplapper. Es wurde Capri-Sonne getrunken. Die Fahrt zog sich scheinbar ewig.

Und wie das bei derlei Ausflügen mit Jungs und Mädchen in dieser Altersgruppe so ist, gilt das eherne und ungeschriebene Naturgesetz, dass die streng getrennten Geschlechter sich nachts in ihren Zimmern besuchen. So trug es sich um Mitternacht in der Jugendherberge zu, dass sich die mutigsten Jungs, barfuss und in Schlafanzüge gewandet, hervorwagten und die langen Flure Richtung Mädchenflügel entlangschlichen. Irgendwann meldeten diese zur Erkundung der Lage ausgesandten Pioniere, dass die Bahn frei war. „Keiner mehr zu sehen. Die sind pennen gegangen!“ Gemeint waren natürlich die begleitenden Lehrer, die bis zu einer gewissen Uhrzeit im Flur wachend ausgeharrt hatten. Mit Adleraugen hatte der Lehrkörper bis dahin in das Dunkel der Gänge gestarrt, um selbst den kleinsten Versuch einer Annäherung der Geschlechter zu verhindern, aber schließlich waren die Augendeckel unwiderstehlich schwer geworden. Jetzt, kurz nach Mitternacht, war nun endlich die Bahn frei und die Natur konnte ihren Lauf nehmen. Der erschlaffte Lehrkörper hatte sich ins weiche Etagenbett in seiner Kammer zurückgezogen. Ein bisschen aufgeregt, breit grinsend und auf Zehenspitzen, schlichen wir nun zu viert im bleichen Mondlicht los, das silbern durch die Fenster sickerte und unsere Gestalten wie Zauber umriss. Das Gefühl von Wagemut und Abenteuer stieg in uns auf. Schließlich öffneten wir kichernd die Türe des Schlafraumes der Mädchen.

Und es war einmalig: Ich schaute mich in dem Raum um. Ebenfalls in Mondenschein gehüllt, sah ich, an den Wänden entlang, das Rund der Etagenbetten stehen. In jedem Bett lag ein hübsch gekämmtes, blumig duftendes Mädchen im Nachthemd und aus dem Halbdunkel glitzerten mich die Augenpaare an, wie kleine Sternchen. Sie sahen mich an! Das war wohl der glorreichste Moment, den ich bis dahin erlebt hatte. Wohin ich mich auch wandte, wurde die Bettdecke mit einem breiten Grinsen und leuchtenden Augen einladend aufgeschlagen. Ich hatte die freie Auswahl! Es hört sich an wie ein Traum, wie pure Angeberei, aber ich bin mir relativ sicher, dass ich es wirklich so erlebt habe. Es mag lediglich durch die Schleier der Erinnerung ein wenig verklärt sein.

Ja, was macht man da? Man muss sich irgendwie entscheiden. Sobald man sich jedoch bei der Einen niederlässt, enttäuscht man die Anderen.

Ich wollte mir nach Möglichkeit jedoch nichts entgehen lassen. Ich löste dieses Luxus-Problem, indem ich jede Nacht einfach eine andere Mitschülerin besuchte. Wobei ich zur Ehrenrettung dieser jungen Damen sagen muss, dass das recht harmlos ablief. Da lief jetzt kein harter Sex ab. Es war ganz süßes, liebliches Teenagergefummel, ein bisschen Knutschen und Streicheln, es war alles ganz harmlos, aber gleichzeitig war es zuckersüß. Ich fühlte mich natürlich sauwohl in dieser Lage. In den Schlafraum der Mädchen zu kommen und sich frei aussuchen zu können, wohin man sprang, war erhebend. Ich war, warum auch immer, bei jeder einzelnen jungen Dame willkommen zu der ich mich legte und ich roch dort den Duft ihrer Shampoos und spürte ihre Lippen. „Dolle Sache, so eine Realschule!“ dachte ich.

Mein junges Ego jubilierte. So viel Aufmerksamkeit und Interesse tat einfach gut! Ich fühlte mich so gemocht und willkommen. Es war herrlich. Diese netten Mädchen machten mich zu einem kleinen Helden. Dankbar nahm ich den Flirt mit ihnen allen auf. Ich versuchte meine Aufmerksamkeit möglichst gerecht unter ihnen zu verteilen.

Trotzdem kam es natürlich zu Eifersüchteleien. Sie begannen sich untereinander etwas zu anzuzicken, obwohl sie eigentlich alle seit Jahren gut befreundet waren. Eine psycholgische Kettenreaktion der Rivalitäten, die meinen Marktwert nur noch steigerte. Irgendwie war ich der Glückspilz dieser Klassenfahrt.

Der Lehrer ermahnte die Mädchen: “Ich glaube nicht, dass der Sven wirklich ehrenhafte Absichten verfolgt!” Aber auch diese Belehrung feuerte den kleinen Hype um mich nur noch mehr an. Ich denke auf dieser Klassenfahrt wurde derjenige Teil meines Egos geboren, der sich fortan aus Erfolgserlebnissen bei Frauen nähren würde. Im Fokus eines Mädchens zu stehen, war Superraketentreibstoff für das Selbstwertgefühl. Ich fühlte mich schön, gewollt, beliebt. Das tat richtig gut! Es war erhebend und ich konnte etwas höher fliegen. So jung, wie ich war, sah ich nichts Schlechtes darin. Es war Balsam für mich, es tat mir gut, warum sollte ich das nicht genießen? Dass es keine gute Sache ist, wenn man die Gefühle Anderer benutzt, um sich selbst zu pushen, lernte ich erst viel später. Das waren keine Einsichten, die ich mit 17 schon hatte. Und das war okay. Jetzt lernte ich erst einmal diese gute Seite der Medaille kennen und sie war strahlend und beglückend. Und vielleicht hatte ich ja auch ein wenig Glück verdient, wer weiß?

Von dieser Fahrt kam ich also mit stolzer, breiter Brust zurück nach Krefeld. Noch auf der Rückfahrt im Bus knutschte ich mich wie ein Scheich durch mein Harem und hangelte mich durch die Umarmungen, wie Tarzan durch die Lianen. Mein Selbstbewusstsein war an diesen Erfahrungen gewachsen und es war mir sehr eindrucksvoll und eindrücklich gezeigt worden, dass es auch andere Mädchen gab und dass ich sogar beste Chancen bei ihnen hatte. Ich war so vollgepumpt mit Glück, dass ich glaubte, in dieser Woche mindestens 10 Zentimeter größer geworden zu sein. Das bekam auch die Grünäugige vom Gymnasium zu spüren, der ich stolz und pathetisch mit verschränkten Armen vor der Brust verkündete: „Ich brauche Dich nun nicht mehr!“ Irgendwie war es eine Genugtuung nach den ganzen Demütigungen, die sie mir schon zugefügt hatte. Wir standen in meinem Dachkämmerlein unter der Dachschräge und ich fühlte mich wie ein Riese. Da schaute sie verdutzt drein. Bisher war ich ihr willenloser Bettvorleger gewesen. Aber das war nun vorbei.

Und es scheint ein Naturgesetz zu sein: Von diesem Tage an drehte sich das ganze Spiel und nun hing sie mir nach. „Es ist etwas in den Weibern, das so gestrickt ist. Willst Du sie wirklich, dann bist Du sowas von uninteressant, aber willst Du sie nicht, dann vergöttern sie Dich und rennen Dir nach.“ sagte ich zu Woody, als wir wieder auf dem Dach der Krawattenfabrik kifften. Und er lauschte aufmerksam und nickte gelehrig, denn seine Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht waren noch sehr überschaubar. Ich legte mich rückwärts ausgestreckt auf das Dach und stellte mir vor, im Himmel zu fliegen. Das Blau sah unendlich aus.

Und nun erinnern wir uns an meinen Wunsch an das Universum. Ich hatte Gott in vielen verzweifelten Nächten, im Mondlicht weinend, gebeten mir die Liebe des Grünauges zu schenken. Ich war bereit gewesen ihm alles andere dafür zu opfern. „Nur dieses Eine, das tue für mich: Mach, dass sie mich liebt!“ Ich hatte ihm versprochen, dass ich ihn nie wieder um etwas bitten würde, aber diesen einen, alles entscheidenden Wunsch, den musste er mir einfach erfüllen, denn einzig und allein dieses Mädchen war mir als das unendliche Glück auf Erden erschienen. Bekäme ich sie nicht, wäre alles verfehlt.

Nun war es wahr geworden. Zwar hatte es etwas gedauert und es waren ein paar Monate ins Land gegangen, aber das Universum hatte am Ende tatsächlich geliefert. Nun geschah genau das, was aus damaliger Sicht völlig undenkbar erschienen war. Grünauge hatte ihre Liebe zu mir entdeckt.

Nicht lang nach der lebensverändernden Klassenfahrt saß sie eines Tages neben mir und war wie ausgewechselt. Nun liebte sie mich. Sie sagte es. Sie zeigte es. Sie meinte es. Es war keine kurze Teenagerlaune, wie sonst. Es war klar im Raum zu spüren, dass es jetzt ernst war. Sie liebte mich genau so und von Herzen, wie ich es mir gewünscht hatte. Und es ist schrecklich, aber nun in diesem Moment, als es wahr wurde, schien es auf einmal nicht mehr die Erfüllung meiner Träume zu sein. Es setzte kein Glücksregen ein. Der Himmel öffnete sich nicht.

Nun war dieser unglaubliche Moment da, für den ich bereit gewesen war, den ganzen Rest meines Lebens zu opfern. Das Universum hatte das Schicksal zu meinen Gunsten derart verbogen, dass in diesem Augenblick wahr wurde, was ich mir erfleht hatte. Mit tränenschimmernden Blick sah sie mich fragend an und suchte auf dem Grund meiner Augen nach der Liebe, die dort immer gebrannt hatte und fand sie nicht mehr. Ich konnte es selbst nicht fassen. Die Voraussetzungen hatten sich verändert. Nun hatte ich über den Tellerrand geschaut und dahinter einen weitereren Horizont erblickt, der alles verschob und relativierte. Jetzt, da sie in Liebe vor mir saß, war es einfach nicht das Glück, was ich mir darunter vorgestellt hatte. Es schien nicht mehr so wertvoll. Ich öffnete die Schatzkiste und fand sie leer. Wo war meine Liebe jetzt? War sie zu ihr übergewechselt?

Es war, als sei ich einer Fata Morgana entgegengegangen und jetzt, da ich mich am Ziel wähnte, entzauberte sich alles. Jetzt saß sie hier und ich hätte sie nur in Empfang nehmen müssen. Ich hätte sie nur umarmen brauchen, um das glückselige Happy End perfekt zu machen. Und in dieser Sekunde war der Zauber einfach weg. Gemein irgendwie. Für sie und für mich.

Mit der Erfüllung meines Herzenswunsches kam anstatt des Glücks eine unfassbare Ernüchterung einher. Wie konnte das sein? Ich starrte in die leere Schatzkiste und fühlte mich beraubt. Ratlos und schweigend saßen wir auf dem Rand meiner Matratze. Es war eine Lektion des Universums, die ich erst viele Jahre später verstehen würde.

“Dies, nur dieses Eine, wäre das Glück!” hatte ich damals gefleht. Ich war so absolut sicher gewesen. Es war doch in diesen sehnsuchtsvollen Nächten so unzweifelhaft klar erschienen. Mein Herz hatte damals mehr als deutlich gesprochen. Nie hatte ich etwas stärker gefühlt. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich es je wieder anders würde empfinden können. Was war geschehen? Der Wunsch war erfüllt und brachte dennoch keine Erfüllung. Und als wäre diese Lektion nicht schon hart genug, schlug ich nun noch der Liebe, dem Grünauge und dem Universum dreist ins Gesicht und versündigte mich für alle Zeit. Was ich als nächstes tat, sollte mein Karma für tausend Leben negativ aufladen.

In meinem alten und nun nagelneu aufpoliertem Hochmut beschloss ich nun, den Spieß umzudrehen. Ich zog die Lanze aus Demütigung, die sie mir so oft in den Leib getrieben hatte, aus meinem Buckel und rammte sie in ihr nun gnadenlos in ihr wehrloses Herz. In ihr offenes, liebendes Herz, welches ich mit Hilfe der Götter erobert hatte. Der Teufel und das Ego müssen mich geritten haben. Als der maßlose Königssohn, der ich war, und selten war ich maßloser als in jenem Moment, nutzte ich die Situation nun knallhart aus. Ich zog die Augenbraue hoch und in meiner unermesslichen Güte und Gnade sagte ich: “Okay……Nun gut. Du kannst mich jeden Sonntag um exakt 14:00 Uhr besuchen, damit wir Sex haben können!”.

Dies war ein Sündenfall, aber ich bemerkte es kaum. Nun war ich der König und ich diktierte es ihr. Und sie saß da mit der Liebe im Herzen, die ich ihr aufgezwungen hatte, und akzeptierte. “Wenn das alles ist, was ich kriegen kann, nehme ich es!” sagte sie und gehorchte.

Damals habe ich es als gar nicht so schlimm angesehen. Ich verhielt mich einfach wie das einstmals verwöhnte Kind, das ich im Inneren immer noch war, als wäre das Leben ein einziger Spielzeugladen. Erst heute, als langsam alternder Mann, der zurückblickt und sein Leben in Zeilen fasst, sehe ich das Verwerfliche an der ganzen Sache. Was erlaubte ich mir da? Erst zwang ich sie unter Verpfändung meines Lebens und mit der Hilfe des Universums mich zu lieben, um sie dann als Sexdienerin antanzen zu lassen? Es ist übel, aber ich fürchte genau das tat ich. Aber keine Sorge! Ich würde später bitter dafür bezahlen müssen.

Viele Monate in Folge kam sie daraufhin sonntags stets pünktlich mit ihrem Hollandrad zu mir geradelt, stieg die Treppen zu meinem Dachzimmer empor, entkleidete sich und schlüpfte sexy und splitternackt zu mir ins Bett und stellte keine Fragen darüber wo ich mich rumgetrieben hatte. Sie beschenkte mich mit hohen Wogen freudiger Wonne. Sie fand nach unserem ersten Akt meistens noch einen Krümel Hasch irgendwo in den unerforschlichen Tiefen ihrer Handtasche. Wir rauchten ihn nackt und glücklich und wenn wir dann hungrig wurden, zog sie sich an und besorgte uns Pizza und Salat von dem kleinen Italiener auf der Viktoriastraße. Ich lag wie der König von Universien im Bett auf dem Rücken, alle Viere von mir gestreckt und ließ mich bedienen. Zu guter Letzt blies sie mir einen nach allen Regeln der Kunst, als königlich-himmlischen Nachtisch sozusagen, als unerhörtes Highlight des Daseins. Es kann gut sein, dass ich an diesen Sonntagen zu den glücklichsten Jungen zählte, die jemals das Vergnügen hatten, auf diesem Erdenrund zu schreiten. Wie immer beobachtete ich sie genau dabei, wie sie ihren edlen, delikaten Mund dafür hergab. Im Hintergrund das sündige Schaukeln ihrer Brüste. Was für eine Zelebration, was für ein Service! Mir wollte auf Erden kein höherer Genuss einfallen. Und es fällt mir bis heute tatsächlich nicht viel ein, was ich mehr genoss als eben genau dies. Sie sprach und aß mit ihrem wunderschönen Mund, der durchaus edel und schön war, und nun tat sie dies damit. Was war das doch für eine hohe Ehre und gleichzeitig sah es so unverschämt sündig und verboten aus. Wenn ich sie mich auf diese Art in schwindelerregende Höhen entführt hatte und ich zuckersüß im Himmelreich explodierte und ejakulierte, nahm sie das Sperma zwar in den Mund auf, schluckte es aber selten. Sie hatte eine feine Art, es danach in ein Taschentuch zu geben. Das machte sie wirklich formvollendet und mit aristokratischer Miene.

Fast elegant faltete sie das Tuch dann zusammen und gab mitunter einen Kommentar über den Geschmack ab: “Hm, gar nicht so übel heute, hast Du Ananas gegessen?!”

Ich lag selig und bewunderte ihre Schönheit, während sie sich aufrichtete und den Rücken nach hinten durchdrückte, was ihre majestätischen Brüste zu voller Geltung brachte. Sie war solch ein Klasseweib! Eine Sexgöttin. Ein wahres Geschenk des Himmels. Danach ging sie und ich konnte erleichtert und glücklich einschlafen. Diese Sonntage mit dem Grünauge waren im wahrsten Sinne unverschämt gute Tage. Das Universum grollte jedoch. Da braute sich weit entfernt im Zentrum der Galaxien Unheil zusammen. Und es ist keine gute Idee, sich mit dem Universum anzulegen.

In der neuen Schule gab es statt dem Grünauge nun das große Auge der Kleopatra. Ich weiß gar nicht, wie ich letztlich dazu kam, aber nach vielen Zettelchen, die wir im Unterricht hin und her geschickt hatten, nach vielen gemeinsamen Pausen in der Raucherecke, bei denen wir gelacht und ich immer wieder in den fremden Kosmos ihrer Augen eingetaucht war, geschah das Unglaubliche. Irgendwie hatten wir uns zu einem nachmittäglichen Besuch bei ihr verabredet. Das war ein ungeheures Ding für mich, denn wie gesagt, war das Traumauge der Kleopatra zwar wunderschön, aber es war ein Stern aus einer anderen Galaxie, viel zu fern, um jemals erreicht zu werden. Obwohl das Ganze kein Date war, sondern vielmehr eine harmlose Verabredung zweier Schulkameraden, war ich natürlich aufgeregt, denn ich schwärmte schon ziemlich für dieses ungewöhnliche, hübsche Mädchen mit den großen Augen und wie ich ahnte mindestens ebenso tollen Busen. Ich wollte ihr zeigen, wer ich war, also packte ich eine Schallplatte, die gut fand und unser Familienalbum mit meinen ganzen Kindheitsfotos in einen Rucksack und fuhr mit dem Fahrrad zu ihr. Sie hatte mir den Weg gut erklärt und so fand ich das Einfamilienhaus in der ruhigen Wohngegend sofort. Ich weiß noch, wie schüchtern und aufgeregt ich auf den Klingelknopf drückte. Kleopatra öffnete die Türe mit ihrem üblichen, coolen Blick. Ihre glänzenden Augendeckel waren halb herabgelasssen, bis an den Rand ihrer Iris und es wirkte unglaublich souverän und lässig. Irgendwie fand ich, dass sie aussah, als wüsste sie schon lange jedes Geheimnis dieser Welt und als koste es sie sehr viel Geduld mit dem Rest der unwissenden Menschheit umzugehen, der blind umherrannte und noch nach den Antworten suchte. Antworten, die das allsehende Auge der Kleopatra schon seit Anbeginn der Zeit gesehen hatte. Aber ihr kurzes Lächeln hob diesen Eindruck gleich wieder auf die wundervollste Weise auf. Sie führte mich in den Keller, wo sie ein großzügiges Reich bewohnte. Wir spielten uns gegenseitig ein paar Lieblingslieder vor und sahen uns Kinderfotos an. Besonders die Musikauswahl verdeutlichte unsere Unterschiede. Sie hörte am liebsten Cure und New Model Army und ich hatte aus unerfindlichen Gründen eine alte LP von “Markus” mitgebracht, einem Sänger der “Neuen deutschen Welle”, die lange vergessen, nicht up to date und einigermaßen peinlich war. Aber mir bedeuten ein paar Songs von diesem Album etwas und da hatte ich es einfach eingepackt.

Obwohl da auf der formellen Schiene anscheinend nicht viel zusammenzupassen schien, war da doch eine angenehme Stimmung zwischen uns, eine Sympathie, die vollkommen unabhängig von allem Äußerlichen war. Und dann ergab sich auf einmal ein Moment, mit dem ich wirklich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte. Mitten in unserem Geplapper hielten ihre großen Augen meinen Blick auf einmal fest und der ganze Raum begann sich ganz leicht um das Zentrum ihrer Pupille zu drehen. Schlagartig riss unser Gespräch ab. Nun sprachen nur noch die Augen. Ihr Gesicht mit diesem träumerischen, hypnotischen Blick schien heran zu schweben und mir näher zu kommen. Und tatsächlich: Sie war im Begriff, mich, den blassen, segelohrigen Niemand, zu küssen! Das war wirklich unvorhergesehen. Es konnte eigentlich gar nicht wahr sein. Unwirklich wie in einem Traum berührten meine Lippen einen Mund, den ich nie zu hoffen gewagt hätte, jemals küssen zu dürfen.

Der Raum drehte sich und dieser Kuss war für mich so süß wie verbotene Trauben. Irgendwie mochte die mich, obwohl ich eigentlich nicht in Frage kam. Noch in diesem Moment, während unsere Lippen und Zungen sich berührten, wusste ich, dass ich diese Knutscherei nur einem unverschämten Glücksfall zu verdanken hatte, dass es ein gestohlener, heimlicher Moment jenseits der Normalität war, der kaum Aussicht auf Fortsetzung hatte. Kleopatra war einige Nummern zu groß für mich, sie war die Herrscherin über die goldenen Pyramiden und ich war nur ein minderjähriger Sklave aus dem Steinbruch. Ich verdankte diesen Segen einer günstigen Laune. Das wusste ich. Aber der Kuss dieser Wüstenkönigin mit dem allwissenden Blick entflammte mich natürlich und spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich wirklich etwas verliebt in sie.

Bevor ich an diesem Abend schließlich wieder mit dem Rad nach Hause fuhr, beobachtete ich sie noch dabei, wie sie sich vor dem Spiegel für die Disco in der “Kufa” zurechtmachte. Sie würde noch ausgehen. Mein lieber Gevatter! So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Sie stülpte sich eine weiße Perücke über, die sie zuvor mit dem Kreppeisen bearbeitet hatte, umrandete ihre ausdrucksstarken Augen mit dicken, schwarzen Kajal, schwang sich ein weites, schwarzes Cape um und entschwand auf diese Art gewandet in die Nacht, wie eine Fledermaus mit Mozartfrisur. Ich sah ihr nach, wie sie auf dem Fahrrad im Mondlicht mit wehendem Umhang wegflatterte, wie eine bizarre Figur aus einem Comicheft. Ich blieb staunend zurück. Dieses Mädel lebte in einer komplett anderen Welt als ich. Benommen stand ich da. “Aber wow! Die hat mich tatsächlich geküsst!“ erinnerte ich mich freudestrahlend. Als ich schließlich auf meinem Rad den Heimweg ins Dunkel der Nacht antrat, tauchte ihr hypnotischer Schlafzimmerblick wieder vor meinem inneren Auge auf. Das allsehende Auge der Kleopatra sah mich an.

Die amerikanische Sängerin Madonna war in diesen Jahren sehr erfolgreich. Sie war durch zahlreiche Hits in den Charts zu einem wahren Superstar herangewachsen und stand bald in einer Reihe mit den größten Stars wie Prince und Michael Jackson. Regelmäßig erschienen neue Videos von ihr, in denen sie tanzte und sang. Auf ihre Art dominierte sie diese Zeit und somit verfolgte ich ihre Karriere ohne ein besonderer Fan zu sein, schon fast zwangsläufig, weil sie einfach allgegenwärtig war. Diese Frau war damals omnipräsent und unumgänglich. Auf allen Kanälen, die ich auf meinem kleinen, silbernen Fernseher in meinem Dachkämmerchen einschaltete, kam sie mir entgegen. Aber es war schon okay. Wirklich schlecht war ihre Musik nicht. Ebenfalls in dieser Zeit tauchte ein unverschämt hübscher, junger Mann in einem sehr originellen Werbespot für Levi’s Jeans auf, der für Aufsehen sorgte. Der braungebrannte Jüngling mit der schwarzglänzenden Haartolle zog sich in einem Waschsalon bis auf die Unterhose aus, schmiss seine Jeans in die Trommel und setzte sich dann ganz cool, in Unterhosen, zeitungslesend und halbnackt zwischen die anderen wartenden Leute hin, um auf seine saubere Hose zu warten. Dieser Junge sah atemberaubend gut aus. Madonna fand das wohl auch. Aus den englischen Kommentaren der VJs auf den Musiksendern verstand ich, dass sie wohl ein Lied für ihn geschrieben und produziert hatte. Es hieß: “ Each time you break my heart“ und bald darauf konnte man also diesen schönen Jungen aus dem Werbespot in seinem ersten eigenen Musikvideo bewundern. Er sang mit relativ dünner Stimme, aber der Song war gut und so wurde das ganze Ding mit Madonnas Hilfe ein Hit, natürlich auch Dank dieses für einen Mann fast zu schönen Gesichts und eines Augenaufschlags, wie er sonst nur sündhaft schönen Frauen gelang. Ich sah seine zurückgegelte, hohe Tolle, seine braune Haut, seine Art zu tanzen und da hatte er es mir angetan! Ich wollte auch so sein. So schön, so braun, so unwiderstehlich! Leider ergab meine kritische Kontrolle im Badezimmerspiegel, dass ich überhaupt nicht so aussah. Also ging ich kurzerhand zum Drogeriemarkt und besorgte mir Selbstbräuner und blauschwarze Haarfarbe um der Sache näherzukommen.

Am nächsten Tag stand ich mit orangegelbem, fleckigem Gesicht und Händen und pechschwarz gefärbtem Haupthaar in der Raucherecke auf dem Schulhof. Wie sich herausgestellt hatte, war der fachgerechte Umgang mit Selbstbräuner gar nicht so einfach und auch mit der Haarfarbe hatte ich nicht so recht aufgepasst und so mischten sich die gelben, orangen und bräunlichen Flecken noch mit schwarzen Stellen an Stirn, Ohren und Fingern. Außerdem hatte ich nur im Gesicht und an den Händen den Selbstbräuner aufgetragen und auf diese Weise standen diese Körperpartien in einem orangen und krassen Gegensatz zum Rest meines zarten Körpers, der noch in königlicher Blässe leuchtete. Man musste meine Verschönerungsbemühungen wohl als gescheitert ansehen. Auf diese Weise war ich dem guten Aussehen von Nick Kamen nicht wirklich näher gekommen. Ganz im Gegenteil. Es war peinlich. Das Großauge der Kleopatra kicherte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Wenn ich mich so daran entsinne, wie ich dort als verunglückte, schwarzgelbe Tigerente in der Ecke des Pausenhofes stand, dann ist es eigentlich noch viel unerklärlicher als ohnehin schon, dass es nur wenige Tage später dazu kam, dass Kleopatra und ich im betrunkenen Kopf bei meinem athletischen Partykumpel Thor zuhause auf dem Sofa landeten.

Scheinbar ganz ohne die Hilfe der Götter oder des Universums waren wir im Laufe unserer Wochenendaktivitäten in diese Situation geraten. Mit ein paar versprengten Leuten, die wir von Partys eingesammelt hatten, saßen wir irgendwann etwas benebelt von Hasch und Alkohol in Thors Zimmer rum und gegen alle Wahrscheinlichkeit war ich ein zweites Mal damit beschäftigt, die verträumte Herrscherin Ägyptens in meinen Armen zu halten und sie zu küssen. Irgendwann gingen die anderen Besucher und selbst Thor zog sich höflich und augenzwinkernd zurück und überließ uns sein Zimmer bereitwillig. So kam es, dass wir schließlich ungestört waren. Nun waren wir im Dunkeln allein. Ich konnte das alles gar nicht glauben. Nur der fahle Abglanz des Mondlichtes lag über Allem und schimmerte leise vom Weiß ihrer Augen wieder. Es war ein unwirklicher und traumgleicher Moment.

In diesem Licht sahen diese Augen noch viel mystischer aus als ohnehin schon. Unsere Küsse waren süß und wie gestohlen aus einer fernen Welt. Mein Herz wummerte aufgeregt und ich konnte mein Glück nicht fassen, als sie im silbernen Halbdunkel schließlich sogar ihr Höschen abstreifte, denn dies bedeutete wohl, dass ich in die Königskammer der Pyramiden eingeladen war.

Wieviel Glück kann man haben? Zuckersüß, feucht und weich empfing sie mich, während ich in der Weite ihres Schlafzimmerbicks verloren ging und ich konnte kaum glauben, dass dies wirklich geschah. Meine Hände umfingen die satten Halbkugeln ihres Busens. Wie, in aller Welt, war das zu erklären? Das Mondlicht umzeichnete sanft unsere Silhouetten und ich glitt, wie auf Samt in den goldenen Palast der Wüstenkönigin. Ich war Ali Baba und Sesam hatte sich geöffnet. Das römische Reich fiel in Ägypten ein.

Ich fand, dass das Leben für einen so jungen Bengel wie mich in diesen Tagen gar nicht besser hätte laufen können. Immer wieder sonntags kam Grünauge und verwöhnte mich und dann genoss ich ja auch noch die Aufmerksamkeit meiner reizenden Klassenkameradinnen. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie der Reihe nach zu besuchen. Ich strampelte sie sogar an einem einzelnen Nachmittag alle mit dem Fahrrad ab, nur um zu schauen, wie sich das anfühlte. Es war fast wie ein Experiment. Ich klingelte an den Haustüren und jedes Mal wiederholte sich daraufhin eine ähnliche Szene. Grinsende Köpfe mit wechselnden Haarfarben öffneten die Türen und ich folgte ihnen durch fremde Wohnungen in ein Zimmer und dort wurde dann ein bisschen auf dem Bett rumgeknutscht. Nichts weiter. Ich konnte mich ein bisschen begehrt fühlen. Es waren süße, kleine Schwärmereien. Wir spielten eine kleine Komödie.

Andernorts konnte es da schon derber abgehen! Manche Partys wurden regelrecht wild. Gelegentlich gab es diese besonderen Garten- und Geburtstagsparties, die geradezu entgleisten, auf denen sich wirklich alle sinnlos betranken und dann wurde dort, wie auf Kommando, wild rumgemacht. Thor klapperte mit mir nachwievor alle Events ab. Und manchmal landete man dabei eben auf dieser Art Party. Wenn irgendwo ein Riesenhaufen Fahrräder vor einem Haus stand, dann war man schon irgendwie richtig. Das war einfach ein interessantes Alter. Alle waren in ihrer Findungsphase und probierten sich aus. Kaum einer, auch die Mädchen nicht, suchen direkt den Partner für’s Leben. Da reichte es auch schon mal, sich für den Abend oder auch nur für 20 Minuten nahezukommen. So gab es, ab und an, eben diese legendären Ausnahmepartys, wo diese völligen Enthemmungen stattfanden, auf denen die Teenagerlust zu einer Art Lauffeuer wurde und alles irgendwann in so einer Art “Orgienmodus” gipfelte und schließlich jeder mit jedem fummelte. Es war bei diesen Gelegenheiten durchaus üblich, dass die Knutsch- und Fummelpartner vielfach wechselten. Es war als brächen Dämme. Wir reden von betrunkenen Teenagern, die in einer Art Kettenreaktion ihre Hemmungen verlieren. Es war die Zeit der Teenagerfummelorgien, der ersten Besäufnisse, der ersten Joints… Es war ziemlich wild. Das kennt doch jeder, oder nicht? Ich hielt Thor mitten in dem lebendigen Treiben im Vorbeigehen meinen Mittelfinger unter die Nase:”Rate mal!” Er schnüffelte daran und sagte ein paar Namen, aber er lag jedes Mal daneben. Wir lachten uns kaputt.

Neidisch sah ich an einem Spätsommerabend, vom Sattel meines Hollandrades, den Rücklichtern des Wagens nach, der mich eben auf der Grenzstraße in Richtung Stadtwald überholt hatte. Am Horizont flammten die Bremslichter unter einem sich langsam rosa färbenden Himmel auf. Da hinten, irgendwo am Rande des Stadtwalds, war die erste Party dieses Wochenendes. Jetzt waren die ersten Autos zum Fuhrpark der Partymeute hinzugekommen.

In keiner Lebensphase wogen die Jahre des Altersunterschiedes schwerer. Zwischen 17 und 19 lagen Welten. Die ein, zwei oder drei Jahre Älteren schienen Lichtjahre voraus. Die waren sowas von cool. Ich meine, ein Auto zu fahren, wie übermäßig stark war das denn bitte? Die ersten Leute betraten somit schon sichtbar die Welt der Erwachsenen. Wer einen Autoführerschein hatte und ein Auto, war in meinen noch nicht ganz volljährigen Augen ein Übermensch und Coolheitsgott! Ich strampelte schwitzend mit meinem Hollandrad hinterher, auf dem Weg zu der Gartenparty, die einer meiner ehemaligen “Gymnasiumsfreunde” im Wohlstandsgürtel um den Stadtwald herum gab. Die laue Luft dieses Sommerabends roch nach dem Parfüm, dass die Sträucher, Hecken und Bäume verbreiteten. Jung und mit einem Herzen voller unerfüllter Lebenslust trat ich in die Pedale. Die Party war irgendwo in einem der edlen Viertel, die rund um den Stadtwald lagen. Hier standen die großen, schönen Häuser und Villen der wohlhabenden Menschen unserer Stadt. Und nun sah ich die ersten Jungs mit ihren Cabrios an mir vorbeibrausen. Ich sah ihnen mit sehnsuchtsvollem Gefühlen nach, sah wie sie in Richtung Stadtwald verschwanden.

Wenig später, im lila-rosanen Farbenspiel der Dämmerung, als ich endlich bei der gesuchten Adresse ankam, sah ich die Wagen und Mopeds in einer langsam rollenden Prozession an einem Gartentor vorbeirollen. Das war unverkennbar der Eingang zur Party. Eine Traube aus ausgelassenen Jungs und Mädels stand johlend davor. Es war ein einziges großes Hallo. Ich machte mein Fahrrad mit dem Nummernschloss an einer Laterne fest. Wie in einem Highschoolfilm rollten die Champions und coolen Kids in chromglänzenden Automobilen an mir vorbei. Der kupferrote Schimmer der Abendsonne spiegelte sich dabei unwiderstehlich im Lack der Karosserien wider.

Dann sprangen die Türen auf und die lachenden Sonnyboys entstiegen, frisch gestylt, den prachtvollen Wagen und schwer schlugen die Autotüren hinter ihnen ins Schloss. Breitschultrig und lachend stiefelten sie der Musik und dem Gartentor entgegen: Es waren dies die jungen Helden der Nacht. Ich sah es fast in Zeitlupe ablaufen, wie in einem Kinofilm, in einem Werbespot.

Mit roten Ohren und blassem Gesicht stand ich später im Dunkel der dritten Reihe und beobachtete die wirklich coolen Jungs, wie sie den Mittelpunkt der Party bildeten. Ich sah, wie die Mädchen sie mit ihren Augen anglitzerten, wie die Jungs sie bewunderten und wie jedermann versuchte ein wenig Aufmerksamkeit von ihnen zu erheischen. Es hatte einen gewissen Zauber. Diese Typen hatten die Aura des Interessanten, der Schönheit und der jugendlichen Souveränität. Irgendwas in mir wollte auch so sein. Ich war beeindruckt. Sie waren strahlend, selbstbewusst und laut, sie hatten Schneid und ihnen schien die Welt zu gehören.

Ich hingegen wurde kaum gesehen. Ich konnte wirklich froh sein, dass ich hier überhaupt geduldet wurde und gerade noch Einlass bekommen hatte. Ohne Thor wäre ich wahrscheinlich draußen geblieben, aber wie immer war ich in seinem Windschatten irgendwie mit reingehuscht. “Er ist mit mir hier!” sagte Thor nur und ihm schlugen die Jungs am Einlass selten etwas ab. Die hochgezüchteten, schönen Wohlstandstöchter mit ihren excellent geschminkten Gesichtern würdigten mich keines Blickes. Ich hatte nichts zu bieten, keinen Namen, keine Herkunft, keinen Schneid. So blieb mir nur, dies pralle Leben als unsichtbarer Niemand zu beobachten. Und das tat ich. Ziemlich neidisch und eifersüchtig, aber auch fast atemlos vor Bewunderung. Ich saugte diesen Sommerabend mit all seiner Energie, den Stimmen, dem Gläserklingen, dem Lachen und der Musik ein. Thor hingegen war mittendrin. Er ließ seinerseits gekonnt die Puppen tanzen. Er kannte ja jeden, auch die Älteren, und so war er auf seine selbstbewusste Art überall dabei. Er gröhlte, lachte, prostete und tanzte mitten im Treiben. Irgendetwas in mir wollte auch so sein, aber ich war gefangen in meiner Schüchternheit und Unsicherheit und hatte weder den Mumm, noch das Geld, noch das Aussehen, um da irgendwie ranzukommen.

In diesen Jahren war es unter anderem Mode geworden, Baseball zu spielen. Und so entstanden auch in Krefeld ein paar rivalisierende Clubs. “Bobbins” und “Crocodiles” und wie sie alle hießen. Die Leitkultur war damals noch eindeutig amerikanisch. Hollywood hatte uns fest im Griff. Einige waren als Austauschstudenten in den Staaten gewesen und sie hatten diesen Teil des Lifestyles mitgebracht. Also hingen irgendwann deutlich sichtbar, überall diese “All american Guys” auf den Parties in ihren Baseballjacken und Caps rum, verbanden sich zu gröhlenden Trauben und bestimmten das Geschehen deutlich mit.

„Seht diesen Lustsklaven! Nur Muskeln und Samenstränge!“ rief einer von Ihnen nun. Es war ein schwarzgelockter junger Mann, der nun spontan einen seiner Buddies zur Versteigerung anbot. Er riss den muskulösen Arm seines blonden Kumpels in die Höhe wie ein Ringrichter nach einem Boxkampf. „Höre ich ein Gebot?“ Zuerst quiekten und kicherten die angesprochenen Mädchen nur, aber dann traute sich eine und rief: “Zwanzig Mark!” und alles lachte und gröhlte. “Was? Das soll ja wohl ein Witz sein!” reagierte der junge Mann mit den schwarzen Locken. “Der kann’s die ganze Nacht! Das ist eine einmalige Gelegenheit! Also bitte! Was höre ich?” Alles lachte und feixte und die zugerufenen Summen aus Frauenmündern wurden langsam höher. Da lief vor meinen Augen ein Leben ab, das prall und lebendig war, das mich anzog und faszinierte, dessen ich aber kein Teil war. Ich war unsichtbar in dieser Welt, spielte keine Rolle darin. Ich sah nur zu. Der schwarzlockige Typ lief nun zur Höchstform auf und schrie ins Publikum:“Das darf ja noch nicht alles sein! Seht doch die guten Zähne!“ Und so nahm diese improvisierte Szene einen köstlichen Verlauf, an dessen Ende eine glücklich lachende, bezaubernd hübsche Dame schließlich den Zuschlag erhielt. Das handelseinige Paar schritt dann unter grandiosem Beifall aus dem Gartentor in Richtung der dunklen Baumsilhouetten des Waldeswaldes hinaus.

Unbemerkt verließ auch ich wenig später die Party, weil ich zu einer bestimmten Uhrzeit zuhause sein musste. Ungesehen schloss ich mein Fahrrad auf, zerrte es aus dem Haufen der anderen Räder hinaus und radelte allein ins Dunkel der Nacht. Mein Weg war einzig beleuchtet durch das flackernde, dynamobetriebene Licht meines quietschenden Hollandrades.

So wandte ich mich, des Nachts in meinem Kämmerlein liegend,mit pochendem Herzchen erneut an Gott und das Universum. Was ich nun wollte, war aber kein Mädchen und keine Liebe. Nein, nun wollte ich so cool und schön und toll sein, wie mir eben diese jungen Helden und Idole erschienen waren, die ich auf den Partys beobachtet hatte. Ich wollte auch im Mittelpunkt der Party sein. Ich wollte ins Zentrum, ins Spotlight. Alles in mir wollte eine solche Unwiderstehlichkeit, solche Schönheit und Wirkung. Ich wollte auch Eindruck schinden. Ich wollte nicht mehr übersehen werden und immer wieder nur erleben, dass ich nicht konkurrenzfähig war. Das Ego erwachte zu seiner vollen Gier. Mir stand der Sinn nun nach Geltung! „Mach mich schön, Gott!“ hieß der Auftrag an das Universum. “Lass mich gut aussehen und unwiderstehlich sein, lass mich das lachende, genießende Zentrum des Lebens sein!”. Ich vermutete das Glück darin. Und mit meiner pickeligen Haut, der schwächlichen Blässe, der breiten Nase, die ich von meinem Vater geerbt hatte, der hohen Stirn und den Segelohren, sah ich wirklich nicht so aus, als wäre das irgendwie möglich.

Zudem hatte ich keinen einzigen Muskel am ganzen Körper. Ich hätte mir die Füße in der Flasche waschen können und meine Rippen und Gelenke stachen hart aus der bleichen Haut heraus. Da waren eigentlich keine Schultern. Die dünnen Spinnenarme wuchsen scheinbar direkt aus dem Hals. Zu dieser kritischen Selbstbeschau kam ich jedenfalls, nachdem ich eines Nachts in meinem Dachkämmerlein zum ersten Mal „Rocky“ mit Sylvester Stallone gesehen hatte. In einer Szene stand er, nur mit einem fleckigem Unterhemd bekleidet, im Türrahmen seiner einfachen Behausung und stützte sich am oberen Türbalken ab. Zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt fiel meine Aufmerksamkeit auf das Thema der männlichen Muskulatur. Ich staunte, wie beeindruckend seine Rückenmuskeln seitlich hervortraten. Augenblicklich verstand ich, wie sexy und attraktiv das aussah und wirkte. Im Finale des Filmes, dem entscheidenden Kampf, sah ich nur noch seinen Körper. Ich war beeindruckt! Der vom Schweiß überzogene, muskelbepackte Oberkörper glänzte im Licht der Scheinwerfer, wenn Rocky durch den Ring tanzte.

Nach dem Film stellte ich mich in Unterhosen vor den Spiegel und begann zu weinen, weil das, was ich erblickte, absolut jämmerlich war. Ein Strichmännchen!

Also flehte und bettelte ich Gott wiederum mit meinen Herzenswünschen an. Diesmal wollte ich alles. Ich wollte Schönheit, Coolheit, Aufmerksamkeit. Ich wollte wie Rocky, wie Elvis, wie George Michael und Nick Kamen, wie die coolen Baseballjungs sein. So senkte ich mein fettiges Teenagergesicht über die gefalteten Hände, kniete im Mondlicht und bat Gott mich cool zu machen. Diesmal wusste ich ganz genau, was ich wollte.

Bellum Gallicum

So und so ähnlich vergingen also die ersten Jahre in Freud und Leid auf dem Gymnasium und währenddessen schritten die Achtziger Jahre langsam voran. Neuerdings hörte ich mit absoluter Begeisterung eine Band namens “Frankie goes to Hollywood”. Ihr erster Hit: “Relax” war eingeschlagen wie eine Bombe und gleich darauf hatte ich sie schon zu meiner absoluten Lieblingsband erkoren. In ihrem zweiten Song, der unlängst erschienen war, besangen sie die Schrecken des kalten Krieges, der in jenen Zeiten wie ein Damoklesschwert über den Häuptern der Menschheit hing. Das Lied hieß „Two Tribes“. Das war das Beste, was ich bis dahin gehört hatte. Ich war vollkommen begeistert von diesem Sound. Die langen Versionen des Songs, die auf verschiedenen Maxi-Singles zu finden waren, dröhnten in Dauerschleife in meinem Raum unter den Dachschrägen.

Wenn es einen Soundtrack zu meiner Pubertät gibt, dann ist es diese Musik. Am Anfang heulte eine schwere Sirene. Ein Geräusch, das den Krieg, den Bombenangriff, verhieß. In dieses blecherne Geheule sprach die Stimme eines englischen Nachrichtensprechers: „The air attack warning sounds like….This is the sound. When you hear the air attack warning, you and your family must take cover“ Ich tanzte beseelt dazu durch mein Zimmer, denn diese Musik war neu und gigantisch gut gemacht.

„Are we living in a world, where sex and horror are new gods?“ sang Holly Johnson und darunter trieb der quirlige Bass und darüber heulten die Orgelsounds… Schwebende Synthesizerflächen trugen mich in die Höhe und die heftigen Schläge des Orchesters klangen wie Fontänen, wie hoch hinaufspritzende Gischt. Nie hatte ich zuvor so gut produzierte Musik gehört. “Two Tribes” war ein gigantisch intensives Erlebnis. Mein junges Herz pulsierte in meiner Brust vor Begeisterung.

Das Thema in sich war natürlich weniger erfreulich. Die Welt war vor allem in Westen und Osten unterteilt. Zwei waffenstarrende Militärbündnisse drohten sich gegenseitig mit zigfachem Overkill. Die gesammelte Sprengkraft aller Atomraketen hätte ausgereicht, um die gesamte Menschheit gleich mehrfach zu vernichten. Man lebte in diesen Jahren mit der relativen Gewissheit, dass ein Tastendruck das Ende der Welt bedeuten konnte. “Singing: This’ll be the day that i die! Yeaaaahhhhhh!” Es war gut mit Frankie diese Sorgen und sämtliche sonstigen Betrübnisse einfach wegzutanzen. Diese Musik erhob mich in glücklichere Sphären.

Im Fernsehen sah ich die zumeist recht schrecklichen Nachrichten aus aller Welt. In meinem jungen Teenagerbewusstein keimte erstmalig der Eindruck, dass die Welt zumindest kein uneingeschränkt guter Ort war. Menschen taten anscheinend unausgesetzt schreckliche Dinge. Ich erfuhr über Kriege, Unterdrückung, Gewalt und Umweltzerstörung.

Es wurde mir erstmalig klar, dass wir Menschen auch eine katastrophale, schreckliche Seite hatten. Das zu entdecken, war kein gutes Gefühl, aber auch diese Erkenntnis gehörte wohl zu dem komplexen und langwierigen Prozess des Erwachsenwerdens.

Schulisch lief es nicht unbedingt rund. Ich war, wenn überhaupt, dann nur in den mündlichen Leistungen gut, weil ich gut reden und schnell begreifen konnte. An “häuslichem Fleiß” mangelte es jedoch, wie mir stets attestiert wurde. Fleiß war mir ohnehin fremd. Hausaufgaben habe ich relativ selten ausgeführt. Mich auch noch zuhause mit schulischen Inhalten befassen zu sollen, war einfach zu viel des Guten. Ich improvisierte. Einmal erfand ich einen Aufsatz aus dem Stand und tat so, als lese ich ihn aus dem Heft ab. Es fiel erst auf, als die Lehrerin mich bat eine Passage zu wiederholen, da hatte sie den Braten dann wohl doch gerochen. “Netter Versuch, Sven!” sagte Frau Meckers kopfschüttelnd und machte eine bestimmt eher ungünstige Eintragung in ihr rotes Büchlein.

Im Lateinischen wirkte sich meine fehlende Disziplin allerdings absolut fatal aus. Hier gab es nichts zu improvisieren und schönzureden, wer seine Lektionen nicht gepaukt hatte, war ganz schnell raus und abgehängt. Als sich erneut eine drohende Katastrophe am Notenhorizont abzeichnete, versuchten Mum und ich, das Ding noch zu retten.

Also saßen wir an so manchem Abend am Küchentisch. Mutti fragte mich ab. Für jede Lektion im Lateinbuch, gab es ein paar Seiten mit Vokabeln, die zu lernen waren. Besonders die unregelmäßigen Verben mussten sitzen. Also war man gezwungen, die Wortstämme mitzulernen. Wir wiederholten es, bis ich die Lektion fehlerfrei konnte, aber diese quälende Routine ließ sich einfach nicht Woche für Woche aufrechterhalten. Mal hatte ich Lust und dann wieder keine. Als ich schließlich gnadenlos sechs stand, versuchte meine Mutter es noch mit Nachhilfe, aber auch das war am Ende nicht von Erfolg gekrönt. Ein bemitleidenswerter Abiturient hatte gegen etwas Entgelt für ein paar Wochen das zweifelhafte Vergnügen, mit mir nachmittags über den Deklinationstabellen sitzen zu dürfen. Aber trotz all dieser Bemühungen zog der römische Feldzug am Ende ohne mich weiter. Ich konnte mich einfach nicht dafür begeistern. Latein war und blieb schlichtweg schrecklich. Diese Sprache war lange tot und ich kriegte sie nicht wiederbelebt. Statt der 120 Verbformen lernte ich zu kapitulieren. “Veni, vidi, perdidi.”

Meine lateinische Misere war sicherlich das folgerichtige Ergebnis meiner Faulheit, aber in kleinen Teilen auch die Schuld meines ersten Lateinlehrers, des verehrten Herrn Wemis. Als ich sein Schüler war, hatte er schon schlohweißes Haar und absolvierte die letzten Tage seiner langen Lehrerlaufbahn. Herr Wemis war ein recht gütig blickender Mensch mit einem durchaus angenehmen Wesen, dem man ansah, dass er in seiner Jugend ganz bestimmt einmal recht gut ausgesehen haben musste und selbst nun, im höheren Alter, war er mit seinen klar und scharf gezeichneten Gesichtszügen nicht unangenehm anzusehen. Herr Wemis war also rundherum ein netter Kerl, jedoch war er anderseits vor allem eines: Sichtlich amtsmüde.

Ich war beileibe nicht der Einzige, der keinen Bock auf Latein hatte. Alle hassten es mehr oder weniger. So fanden wir schnell heraus, dass sogar Herr Wemis selbst sich nur allzu gerne davon ablenken ließ. Er kam einfach in ein Alter, in dem man alles nicht mehr so eng sah. Immer öfter kam es vor, dass er aufgrund kleinster Anlässe abgelenkt war, dass er den Unterricht gedanklich verließ und in Erinnerungen an seine Kindheit abschweifte. So war es recht einfach, ihn von dem ungeliebten Lateinischen wegzubringen. Mit eiskalter Berechnung sprachen wir ihn in jeder Stunde entsprechend und gezielt darauf an.

„Herr Wemis, wie war das damals in der Hitlerjugend?“ rief einer dazwischen und dann blickte Herr Wemis aus dem Fenster in die Weite, legte das Buch zur Seite und begann mit in den Himmel gerichtetem Blick zu erzählen. Das klappte ziemlich oft, bis er mit den Wochen und Monaten dann doch merkte, dass unser Interesse weniger seinen immer gleichen Geschichten galt, sondern nur eher darauf gerichtet war den eigentlichen Unterricht vermeiden zu wollen. “Das habe ich Euch doch schon erzählt!” fiel ihm eines Tages bei der hundertsten Wiederholung des immer gleichen Ablaufs auf, aber da war es schon zu spät. Die ganze Klasse war im Lehrplan uneinholbar hinten. Und der liebenswerte Herr Wemis war einfach nicht mehr jung und stark genug, um das noch einmal zu richten. In seiner liebenswürdigen Sanftheit entglitt ihm das alles. Ich glaube, auch er hatte einfach genug von diesem unseligen Latein. Was genug war, war genug. Und so war dieser nette Kerl vor unser aller Augen in die erholsame Leichtigkeit seiner Senilität hineingesegelt, wie in leichten Nebel.

Und dann kam Herr Wemis nicht mehr. Dann kam ein anderer Lehrer. Und das war der meistgefürchteste Schleifer am ganzen Moltke. Seinen Namen traue ich mich nicht auszusprechen, aber ich wage es dennoch davon zu berichten, dass er den Klassenraum betrat, wie ein kampferfahrener Zenturio. Sein Blick war wie Eis und seine Stimme wie Stahl. Er war die Rache aus dem Lehrerzimmer, die Antwort auf unser schändliches Benehmen, weil wir die Gutmütigkeit des Herrn Wemis ausgenutzt hatten.

Im Lehrerzimmer musste sich die einsetzende Senilität des lieben Herrn Wemis wohl rumgesprochen haben und daraufhin hatte der Schuldirektor bestimmt entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ausgerufen:“Sapperlot! Die 7c ist lateinisch ja kaum noch zu retten! Desaströs dieser Zustand! Jetzt kann nur noch einer helfen!“ Und so hatte der Direktor als letzte Lösung diesen römischen Feldherrn zur Ehrenrettung des Gymnasiums am Moltkeplatz auf das Schlachtfeld der 7c entsandt.

Jetzt hatten wir den Salat. Dieser Zenturio kam, sah und siebte. Er musste jetzt jede Woche eine Lektion durchpauken, wenn er diese Schulklasse noch irgendwie retten wollte. Wenn er, wie der Direx ihn flehentlich gebeten hatte, „den Lehrplan im Namen der Bildung noch durchsetzen“ wollte, musste das Tempo nun radikal forciert werden. Und so marschierte er eisern voran. Unerbittlich zeterte seine harte Stimme von diesem Moment an die lateinischen Worte in den Klassenraum, von wo sie schallend und unerbittlich in unsere weichen Kinderohren drangen. Ich versuchte zunächst noch den erweiterten Ablativ zu begreifen und ihn in diesem Haufen von toten, kryptischen Worten irgendwo zu erkennen und wie gesagt, ein Abiturient traktierte mich nachmittags noch mit Deklinationstabellen, aber es war am Ende alles sinnlos. Die Worte tanzten vor meinen Augen und ergaben gänzlich auch nicht mehr nur den geringsten Sinn.

Meine Mitschüler marschierten ohne mich in den “bellum galicum”, den gallischen Krieg. Und während ich meine Ohren auf Durchzug stellte, weil ich ohnehin nichts mehr verstand, malte ich Karikaturen an den Rand meines Buches. Einmal erwischte mich der Zenturio dabei. Er schoss auf mich zu und entwand mir mit einer peitschenschnellen Bewegung, mein entstelltes, zerfleddertes, bekritzeltes Lateinbuch. Wutschnaubend blätterte er einige Sekunden darin herum. Eigentlich muss er bei dieser Gelegenheit die zahllosen Karikaturen seiner selbst darin erblickt haben, die ihn sandalen- und helmtragend abbildeten, wie eine Figur aus „Asterix und Obelix“. Ob er dies nun tat, ob er sich selbst als Witzfigur erkannte, oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls riss er das nur noch an dünnen Fäden zusammengehaltene Buch schließlich in die Luft und hielt es entsetzt und mahnend in den hohen Raum über seinem Haupt und dann ergoß er sich in einer wutentbrannten Rede darüber, was für eine unglaubliche Impertinenz der abscheuliche Anblick dieses Schulbuches sei. Sein bartstoppeliges Doppelkinn waberte dabei wie ein Pudding und sein Gesicht wandelte die Farbe, es wurde rot und röter, und die Schweißtropfen quollen aus seinen Schläfen und liefen seitlich durch den Backenbart an seinem Gesicht hinunter..

Auf dem Deckel, des sich nun in bebender Lehrerhand befindlichen Buches, prangte unter dem Titel „Ianua nova“ das Abbild einer antiken Büste. Ich denke, sie zeigte das Konterfei des Augustus. Allerdings hatte ich es gehörig „verschönt“. Ich hatte ihm Sonnenbrille, Zahnlücke und Ziegenbart verpasst. Diese Ungehörigkeit nun umherschwenkend, fuhr der Zenturio fort, dass das Buch nicht einmal mein Eigentum sei und ich mich mit dieser Respektlosigkeit der Sachbeschädigung schuldig gemacht habe und darüber hinaus sei mein ganzes Betragen derart, dass ich mich der ganzen gymnasialen Ausbildung als gänzlich unwürdig erweisen würde. Heute muss ich sagen, dass er da nicht ganz Unrecht hatte, aber damals sah ich das natürlich ganz und gar nicht ein. Ich grinste lediglich etwas verlegen ob seiner gar so echauffierten Rede.

Er donnerte mir den maroden Fladen wieder aufs Pult und der Buchdeckel verabschiedete sich nun gänzlich. Er flatterte mit einigen weiteren gelösten Blättern über die Pultkante hinaus. Alle auf diese Weise nun sichtbar werdenden Seiten waren mit Comicfiguren überschmiert. Tja. Da war ich mit meinem Latein wohl am Ende. So schien es. Ich denke, in diesem Moment war meine Versetzung endgültig gestorben. Verächtlich wandte der Zenturio sich von mir ab, schlug sich seinen Umhang über die Schulter, rückte seinen goldenen Helm zurecht und fuhr auf seinem Streitwagen mit sandalenbewährten Füßen im Unterricht fort in Richtung Gallien.

Zu meiner Ehrenrettung ist nicht viel zu sagen, obgleich anzumerken ist, dass ich nicht in allen Fächern auf die gleiche, tragische Art und Weise versagte. Ausgerechnet im Deutschen erzielte ich den einen oder anderen Achtungserfolg. Unsere überaus gestrenge Deutschlehrerin Frau Meckers, die zumindest gemäß meiner Erinnerung nach, stets stocksteif dastehend und in Spitzenblusen mit Stehkragen zu dozieren geruhte, sah anscheinend milder auf mich. Dies ist umso seltsamer, da sie tatsächlich in ihrem sämtlichen Gebaren kurz vor oder nach der Jahrhundertwende stehengeblieben zu sein schien. Sie war quasi das Zweitschlimmste, neben dem Zenturio, was das Lehrerzimmer an Schreckgestalten gegen die Schülerschaft hervorzubringen wusste. Auch sie war gefürchtet und recht unbeliebt, weil sie ausnahmslos ernsthaft und jederzeit vollkommen humorlos zu sein pflegte. Darüber hinaus verkörperte sie eine geradezu unbarmherzig zu nennende Härte. Sie wurde deswegen von der Schülerschaft ungeliebt und schroff intern nur „die Holztitte“ genannt.
Es kursierte tatsächlich das bösartige Gerücht, sie trüge eine hölzerne Brustprothese. Man ahnte zwar, dass diese üble Nachrede der reinen Gehässigkeit geschuldet sei und einem gar bösartigen Schülergeist, wahrscheinlich aus Groll über gänzlich unerfreuliche Deutschstunden oder schlechter, ungerechter Zeugnisnoten wegen, entsprungen sein musste, aber ganz sicher war man sich in unserem Alter auch wieder nicht. Was wusste man schon? Treffend war es allemal, weil es ihrer Härte und Steifigkeit den besten Ausdruck verlieh. An ihr war einfach nichts Weiches und deswegen stimmte das Bild.

Ihr fehlte zur perfekten Karikatur der Sittlichkeitsdame nur noch das Monokel. Sie war ein klares Feindbild für die meisten Schüler. Ihre Humorlosigkeit war auf grausam beeindruckende Weise vollkommen. Frau Meckers Körperspannung war stets maximal. Stocksteif ging sie umher, als besäße sie gar keine Wirbel, die ihrem Rückgrat Flexibilität ermöglicht hätten. Ausgerechnet Frau Meckers, die selbst bei den bravsten Strebermädchen ein derartiges Grausen hervorrief, dass sich sogar auf den Häuptern dieser besten Töchter, zu beiden Seiten des Mittelscheitels gleichermaßen, die Haare zu Berge stellten, legte eines Tages hinter mir stehend, die Arme ihres versteiften Lehrkörpers auf meine Schultern und verlautbarte: „Ihr könntet Euch ruhig alle eine Scheibe von Svens Wortschatz abschneiden!“ Und was noch unheimlicher war: Aus ihren sonst kalten Adleraugen sprühte echte Anerkennung und Wohlmeinen dabei. Fast hätte man glauben können, ihre Lippen würden für einen flüchtigen Augenblick von einer Regung umspielt. War es gar ein angedachtes Lächeln? Man hätte es fast annehmen mögen, wenn es nicht schlichtweg undenkbar gewesen wäre, denn in ihrer Physiognomie war einfach kein freundlicher Ausdruck vorgesehen. Konnte es dennoch sein? Diese ganze Szene war ein unerhörter Vorgang, der seinesgleichen suchte. Sollte gar ein schlagendes, menschliches Herz unter ihrer hölzernen Brust pochen? Die ganze Klasse blieb stumm vor Schock und es folgten ein paar Sekunden konsternierter Stille. Niemand wusste es zu deuten.

Das war zwar unerwartet nett von ihr, aber es diente auch nicht unbedingt zur Steigerung meines Renommees. Ausgerechnet die Holztitte adelte mich, ja sie hatte mich sogar berührt, weil meine geschriebenen Worte ihr Deutschlehrerherz erfreut hatten, wahrscheinlich weil ich Relativsätze schrieb, die ihr Wohlgefallen fanden.

Wie sie so hinter mir stand und mich gegenüber der übrigen Klasse hervorhob, war es ein bisschen so, als hätte Dracula mich gebissen, oder als hätte der Führer meinen Kopf getätschelt. Ich fühlte eine Mischung aus Stolz und Schande und fragte mich, ob ich jetzt ewig leben würde.

Im Physiksaal hallte wieder einmal die salbadernde Stimme Herrn Zausels im hohen und weiten Raum über unseren Köpfen. Von den Hörsaalrängen aus sahen wir ihn dort unten zwischen der Tafel und dem Overheadprojektor hin und her stolzieren. Er schmierte hier etwas hin und schrieb dort etwas auf, unterstrich es gegebenfalls dramatisch, lief dabei unablässig redend auf und ab, und verlautbarte auf diese Art irgendwelche Tatsachen seines Fachgebietes. Eine Darbietung, der ich schwerlich willens war, Folge zu leisten.

Manches Mal war es dennoch interessant. Er sprach davon, wie ein Mann names Newton anhand eines herabfallenden Apfels von einem Baum etwas über die Erdanziehung und Gravitation im Allgemeinen entdeckt hatte. Von Blitzen und elektrischem Strom hatte ich an dieser Stelle auch schon etwas gehört und für allezeit unvergessen blieb Herr Zausels Demonstration der Zentrifugalkraft, als er wie wild am Rad gedreht hatte.

Aber so interessant es auch immer sein mochte, sobald sich der Lehrer zur Tafel umwand, spuckten wir durch Strohhalme und kleine Blasrohre, die wir aus Stiften gebaut hatten, zerkaute Papierkügelchen an die Tafel. Dort blieben die kleinen Batzen aus spuckegetränktem Papierbrei meist kleben und am Ende der Stunde sah die Tafel auf diese Weise dann immer aus wie eine Raufasertapete. Zausel drohte daraufhin zunächst mit Klassenbucheinträgen und als dies nicht den geringsten Effekt hatte, später sogar mit der nächsten Stufe schulischer Strafen, mit schriftlichen Tadeln. Diese wurden dann zur Kenntnisnahme an die Eltern verschickt und lauteten in meinem Fall beispielsweise wie folgt: „Ihr Sohn schoss mit Papierkügelchen durch das Klassenzimmer.“ Meine Mutter lachte, als sie diesen blauen Brief las, denn sie meinte, das lese sich, als wäre ich selbst durch das Klassenzimmer geschossen mit kleinen Papierkügelchen unter’m Arm und somit fand sie diese Benachrichtigung der Lehrerschaft über mein Verhalten eher amüsant. Natürlich fragte sie mich zu dem Hintergrund und ermahnte mich, dass ich lieber aufpassen und lernen sollte. Sie sagte auch, dass sich sowas ja nicht unbedingt gehören würde, aber nachdem sie sich zuvor schon über den Schrieb kaputtgelacht hatte, kam das Ganze nicht sehr glaubwürdig rüber. Ganz sicher hatte sie bestimmt recht, aber besonders aufgeschlossen war man mit 13 Jahren solcherlei Vernunftsansichten sicherlich nicht.

Die Autorität des Physiklehrers Zausel wurde von der Klassengemeinschaft auf eine harte Probe gestellt. Dieser Zweikampf gipfelte darin, dass hinter seinem Rücken aus Provokationsgründen mitgebrachte Radios aufgestellt und angeschaltet und sogar dicke Zigarren entzündet wurden. Ausnahmsweise mal nicht von mir. Es war eine Art Wettbewerb entstanden, wer sich die größte aller Dreistigkeiten gegen Herrn Zausel erlauben würde. Und die Entzündung der Zigarre, nebst lauten Radioklängen war, das musste ich neidlos anerkennen, zweifelsohne die Krone der Unverschämtheit. Wie gesagt: Teenager sind gnadenlos. Und Herr Zausel wurde über all dies ungehörige Schülergebahren immer zauseliger.

Fehlbohrung

Sonntags gab es eine Art Kinderdisko in der Herz-Jesu-Kirche. Das war natürlich nicht in der Kirche selbst, sondern es gab ein angrenzendes Gebäude und dort war eine Art Teestube. Sie nannten es “Schluff” glaube ich, weil einige Sitzbänke aus ausgedienten Eisenbahnwaggons stammten. Es war ganz gemütlich da.  Es gab eine kleine Tanzfläche und einen Kicker. Eine Cola oder Fanta kostete 50  Pfennig. Ich war 12. Der Kicker war stets schwer umlagert und die größeren Jungs dominierten das Gerät, weil sie schon viel geübter waren. Bewundernd sah ich zu, wie sie mit so unglaublicher Kraft und Schnelligkeit die Kugeln ins Tor knallten, dass das Holz krachte. Der Gewinner blieb immer am Tisch und so wechselten die Gegner. Im Hintergrund lief die übliche Popmusik dieser Zeit und das bedeutete im Jahr 1982 auch viel Neue deutsche Welle, Nena, Markus, Hubert Kah usw. Ich hampelte dort die ersten Tanzeinlagen meines jungen Lebens unter den blinkenden, bunten Lichtern. Wahrscheinlich zu “Nur geträumt” oder so. 

Da waren auch Mädchen. Und so kam es, dass wir eines Tages mit einer gemischten kleinen Gruppe ins Kino gingen. Es gab einen Film mit Markus und Nena. Neben mir saß die schwarzhaarige Claudia. Sie war nicht ganz so hübsch wie die bezaubernde Nena, in die ich ein wenig verliebt war, aber sie taugte durchaus als Übungsobjekt für erste Fummelversuche. Zunächst wagten wir uns an die seltsamen Zungenküsse. Man sollte waschmaschinenartig die Zunge kreisen lassen, hatte ich mir sagen lassen. Als Claudia und ich unsere Zungen also weisungsgemäß, mechanisch und ungeschickt routieren ließen, fand ich es wenig erfreulich und befremdlich und es machte auch nicht wirklich Spaß, aber man tat es aus irgendeinem Grund. Wahrscheinlich aus Neugier und Experimentierfreude, auf Befehl der ersten Sexualhormone, aber Lust kam dabei nicht auf, zumindest erinnere ich mich nicht daran. 

Mein erster kindlicher Ausflug in das Sexualleben sollte aber noch sehr peinlich werden, denn neben der anstrengenden und relativ unbeholfenen Zungenkreiserei gingen nun auch die Hände auf Wanderschaft. Ich tastete den fremden Körper ab. Es war eine Art Expedition der Hände in unbekanntes Gebiet. Ich stand unter hohem Streß dabei. Schließlich wagte ich es, meine Hand in den vorderen Bereich ihrer Hose zu schieben. Dort fanden meine Fingerkuppen üppiges Schamhaar vor und ich bohrte mit meinem Finger darin herum. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wo anatomisch jetzt genau die Scheide bei einer Frau angebracht war. Hätte ich doch damals im Biounterricht besser aufgepasst, als die Overheadfolie mit dem Lageplan dran gewesen war. Aber vor lauter Peinlichkeit hatte ich damals nicht alles so genau mitbekommen. Ich erinnerte mich nur an meinen Klassenkameraden Ralf, der lachend vom Stuhl gekippt war. Ich will Ralf nicht die Schuld geben, aber ich dachte doch tatsächlich, es wäre vorne dran. Ich stellte mir vor, dass das Loch bei der Frau im Bereich des Venushügels zu finden sei. Ich hatte sogar bei meinen ersten Erektionen gedacht, dass mein Penis eine Fehlbildung sei, weil ich annahm er müsse im rechten Winkel nach vorne abstehen, damit man eben, ich dachte das sei so ähnlich wie bei Legobausteinen, den Mann auf die Frau stecken kann. Aber mein Penis hatte im steilen Winkel nach oben gezeigt. Eine Fehlkonstruktion! Verzweifelt hatte ich im Badezimmer gestanden und tatsächlich versucht ihn zu korrigieren und runterzudrücken. Soweit meine kindliche, vollkommen ahnungslose Theorie zum Sex. Nun war die Steckstelle bei diesem Mädchen an der vermuteten Stelle partout nicht zu finden. War sie denn auch fehlgebildet? Ich begann zu schwitzen. Wie konnte das bloß sein? Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, etwas tiefer zu suchen, quasi nach unten hin, zwischen den Beinen. Wer kommt denn bitte auf sowas? So bohrte ich mit meinem Finger an ihrem Schambein herum, bis sie mich lachend fragte: „Sach ma: Suchste wat?“ Und mit puterrotem Kopf zog ich peitschenschnell meine Hand aus ihrer Hose zurück und schämte mich für den Rest des Filmes mit roten Ohren, während ich sie im Nachbarsitz leise kichern hörte. Dieser „Vorstoß“ meines Mittelfingers verreckte wegen Unkenntnis der weiblichen Anatomie am Schambein. Eine unfassbar peinliche Angelegenheit, aber auch der Beweis für meine völlige kindliche Unschuld und Ahnungslosigkeit. Junge, was habe ich mich geschämt! Ich hatte doch tatsächlich mit meinem Finger an der falschen Stelle gebohrt. Eine geradezu grandiose Fehlleistung. Hach, könnte ich doch nur im Erdboden versinken. Diese Schmach! Das war unvergleichlichen Maße peinlicher als das Nichtschwimmerbecken und alles, was ich sonst noch erlebt hatte!

Ja, ich war größtenteils noch ein ahnungsloses Kind. Und das betraf nicht nur die weibliche Anatomie, sondern eigentlich alle Bereiche des Lebens. Wie hätte es auch anders sein sollen? Ich war ja erst wenige Jahre auf der Welt und es gab so viel zu entdecken. Da konnte man ja nicht jedes Detail wissen! Erzählt es bloß nicht weiter!

Aus dem Kapitel: „Das Ende der Kindheit“ / Umwege. Die innere Reise. Band 1: Der Königssohn

Der Umweg des Ego.

Als Kind hatte ich niemals darüber nachgedacht, wer ich sei. Welches spielende Kind im Sandkasten denkt schon darüber nach? Du patscht einfach dein Förmchen in den Sand, vollkommen ungestört durch jede Selbstreflektion. Das ist der Frieden, den die Kinder noch haben.

Nun begann mein Verstand jedoch, die gewaltige Aufgabe in Angriff zu nehmen, sich selbst und die Welt, in der er sich befand, verstehen zu wollen. Hatte ich als Kind noch alles hingenommen, wie es war, meldete sich nun eine Stimme in mir, die hinter die Dinge schauen wollte. Die Horizonte wurden weiter und mein erwachender Blick sammelte alles ein, was dazwischen lag. Mein Hirn wuchs und damit auch seine Fähigkeiten. Ich begann verstehen zu wollen, was dieses Leben und meine eigene Rolle darin ist. 

Auf dieser beginnenden inneren Suche blickte ich eines Tages in den Spiegel, sah mir in die Augen und begegnete mir erstmals selbst. Der kindlichen Selbstverständlichkeit beraubt, starrte ich mich eines Abends beim Zähneputzen fragend an. Wer sah mich da an? „Wer bist du?“ fragte mein Blick das Spiegelbild. Erstmals sah ich nicht in voller Selbstverständlichkeit auf mich, sondern durch die Brille des Verstandes. Genau in dieser Sekunde geschah es. Dieser Moment war die Geburt meines Egos. Fortan würde ich nicht mehr einfach sein, was ich war. Nun fing ich an, in meinem Verstand ein Bild von mir selbst zu erschaffen. Ich fing an, mich selbst zu hinterfragen. Das menschliche Hirn ist ein großer Frager. Es will ergründen und begreifen. So sah ich auf meine Erscheinung, die sich im Spiegel die Zähne schrubbte und die Fragen kamen. Fast zeitgleich mit der Selbstwahrnehmung entstand auch unbemerkt so etwas wie eine Selbstbewertung. Nach der Frage: “Wer bin ich?” kam gleich: “Bin ich gut so, wie ich bin?” Beides schien miteinander zwangsläufig einherzugehen.

Das ist der Beginn des gigantischsten aller Umwege. Ein Weg, der uns paradoxerweise von unserem wahren Selbst wegführt. Es ist der Weg des Egos. Das Ego ist die Selbstbeschau durch den Verstand. So stand ich vor dem Spiegel und erlebte fast eine Trennung von meinem wahren, unschuldigen Selbst. Da war der Schauende und der Angeschaute. Ich begann in dieser Sekunde damit, eine Meinung und Vorstellung von mir selbst zu bekommen. Ich weiß, dass es bei dir genauso war, ob es dir nun bewusst ist, oder nicht. Bevor wir dies aber nun beginnen zu bedauern, möchte ich zur allgemeinen Beruhigung gleich ebenso anführen , dass dieser Weg für jedes denkende Wesen unvermeidlich ist. Adam hatte in den Apfel gebissen und deswegen das Paradies verloren. Ein Schicksal, das den Tieren und Pflanzen erspart bleibt. Einzig der Mensch begibt sich auf diese Reise, die der Preis für einen freien, denkenden Geist ist.

Der 50jährige Mann, der dies alles heute niederschreibt, würde seinem jugendlichen “Ich” gerne raten, diesen Weg des Ego nicht zu weit zu gehen. “Übertreibe es nicht, mein Junge!” Denn rückblickend weiß ich heute sehr wohl, dass ich dies in fataler Weise getan habe. Ach, könnte ich doch nur in der Zeit zurückrufen… 

Als mein eigener weiser Berater würde ich dem Teenager vor dem Spiegel gerne sagen:“Frag nicht soviel! Bleib einfach, was Du bist und immer warst und immer sein wirst. Es gibt eigentlich gar nicht so viel zu fragen. Patsche einfach dein Förmchen in den Sand, mein lieber, guter Junge!“ 

Aber ich weiß auch, dass es natürlich vollkommen sinnlos gewesen wäre, als Geist aus der Zukunft im Spiegel zu erscheinen, denn selbst wenn ein solch schauerliches Kunststück gelingen könnte, so hätte mein junges Ich doch keinerlei Chance gehabt, es zu verstehen. Der erwachende Geist, der Verstand, hinterfragt einfach alles. Er rennt jede Straße entlang und irgendwie muss es ja auch so sein, denn zu begreifen und zu lernen ist ja seine Aufgabe. Er blickt wie ein jagender Fuchs in alle Richtungen und allem, was sein Augenlicht streift, wird er nachstellen. Er wird versuchen, es zu fassen und es zu zerpflücken. Er will und muss begreifen. Ganz besonders gilt das für das eigene Spiegelbild. Nichts ist ihm interessanter.

Mancher Umweg will einfach gegangen sein, denn auf seiner Strecke gibt es anscheinend Notwendiges zu lernen. Wie lang und schwer würde jedoch dieser Umweg über das Ego und die Selbstbewertung werden! All die Mühen auf dieser langen Reise, ja die Qualen sogar, nur um am Ende zu begreifen, dass es der falsche Weg ist, dass man all das, jenes über viele Jahre mühsam gezimmerte Selbstbild, am besten gleich wieder vergisst. Nun, Fehler müssen wahrscheinlich gemacht sein, um aus ihnen zu lernen. Manchmal muss man etwas verlieren, um seinen Wert zu erkennen. Ich verlor also den kindlichen Frieden und kletterte in das Ego hinein wie ein Affe auf einen Baum. Ich glaubte wohl, von da oben eine bessere Aussicht zu haben. Es würde mich Jahrzehnte kosten, um zu lernen, dass alles Gedachte letztlich unwahr ist und die Wahrheit lediglich erfahren werden kann. 

Meine Warnungen und Ratschläge wären also sinnlos gewesen. Es blieb unvermeidlich, dass ich auf einen Egotrip gehen würde. Und in meiner königlichen Überheblichkeit würde ich es derart maßlos tun, dass sich der Äquator wie eine Runde im Park dagegen ausnehmen würde. Mein Verstand würde ein riesiges Ego hervorbringen. Ein Ego, das versuchen würde, das Vergnügen wie Schmalzbrote in sich hineinzuschlingen und das am Ende seiner Umlaufbahn um sich selbst wieder im Sandkasten auskommen würde.

Zunächst stand ich aber erst einmal noch eingeklemmt zwischen Kloschüssel und Waschbecken in unserem winzigen Badezimmer, starrte mich an und tat den ersten Schritt auf dieser Reise. Ich fragte mich, wer ich sei. Ich sah in Augen, die ich nicht begriff.

Auszug aus dem Kapitel: „Das Moltke“ aus „Umwege. Die innere Reise. Band 1:Der Königssohn“

Geburt

Ein perfekter Himmel wölbte sich weit und blau über Frankfurt am Main. In den grellen Strahlen der Sommersonne glitzerte der Fluss golden und die Hochhäuser warfen schwarze, schräge Schatten.

Lebensfroh flog ein kleiner Spatz in dieser leuchtenden Pracht. Freudig, ja fast schon übermütig, schwebte er durch das wechselnde Spiel aus Licht und Schatten. Er flatterte in freudigen Wellen. Mal stieg er hoch, dann ließ er sich wieder gefährlich tief sinken. Er bewegte sich so schnell und unvorhersehbar, dass es fast unmöglich war, ihm dabei mit dem bloßen Auge zu folgen. Denn nirgendwo hielt er es lange aus. War er eben noch auf dem üppigen Ast einer Buche gelandet, stürzte er sich von dort sogleich wieder wagemutig in die Tiefe. Daraufhin segelte er gleich wieder in einem weiteren, kühnen Bogen dem nächsten Baum und Zweig entgegen.

Dieser Tag war so schön, dass der junge Spatz einfach von seinem Glück singen musste. Und so kam es, dass sein frohes Zwitschern erklang und es in der Tat von seiner schieren Freude am Leben kündete. Jeder, der es vernahm, wurde davon beglückt. Auch der eilige Passant, der mit wehender Krawatte und engagiertem Gang dem Bankenviertel entgegeneilte, nahm es heimlich und unterbewußt wahr. Ohne dass er es ahnte, tat auch ihm der frohe Gesang des winzigen Piepmatzes in der Seele gut. Denn die Seele verstand es sofort. Sie kannte das Lied des Glücks.

Keine halbe Minute später saß der kleine Luftakrobat schon wieder auf dem Erdboden und sah sich, mit ruckartigen Kopfdrehungen, in allen Richtungen um. Zwischenzeitlich tat er dies, um etwas Nahrung zu finden. Er hüpfte dort, flatterte hier, und pickte gegebenenfalls etwas auf, was er für Nahrung hielt. Manches Mal war er dabei allerdings so voreilig, dass er auf diese Weise in seinem Spatzenleben schon den einen oder anderen durchaus zweifelhaften Krümel verschluckt hatte.

Unregelmäßig stieß er seinen klaren, hellen Ruf aus, blinzelte, drehte das Köpfchen, und wenn er nichts erspähte, nichts erkennen konnte, was wenigstens den Anschein erweckte essbar zu sein, dann sprang er wieder blitzartig davon und schoß mit knatterndem Flügelflattern ganz plötzlich hinfort. Auf diese Art sauste er also nun dauernd umher.

Wo war er denn nun? Ah, dort! Gerade landete er auf der Rückenlehne einer Bank im Taunuspark. Ein älterer Herr saß dort, vertieft lesend, die Beine elegant übergeschlagen. Sein gepflegtes Hosenbein war mit einer akkuraten Bügelfalte verziert und der Rest seiner überaus stilvollen Erscheinung verschwand hinter der weit aufgespannten Zeitung, die er ausgestreckt, wie einem kleinen Paravent, vor sich hielt. Im Halbschatten eines Baumes sitzend, gab dieser Herr ein vollendetes Bild von Kultur und Würde ab. Seine Körperhaltung und die gediegene Ruhe, mit welcher er dort die täglichen Nachrichten aus aller Welt studierte, wirkten so erhaben und friedlich, dass es eine wahre Freude war, ihn dabei zu betrachten.

Am oberen Rand seiner „Frankfurter Rundschau“ prangte das heutige Datum: 11.Juli 1970. Eine leicht vom sanften Wind bewegte Linde warf tanzende Schatten auf die Szene und versetzte alles in ein malerisches Licht- und Schattenspiel. Unser feiner Herr war nun just im Begriff mit dem Studium eines Artikel zu beginnen, der von der überraschenden Freilassung des Bischofes von Shanghai durch die Volksrepublik China berichtete, da sprang der kleine, unstete Spatz wieder auf, denn weder der Bischof, noch China, ja selbst die so ideale Haltung des lesenden Herrn interessierten ihn herzlich wenig und so hüpfte er kurzerhand hinfort, denn seine Spatzenerfahrung sagte ihm, dass hier nichts für ihn abfallen würde. Außerdem war unserem lieben Spatz, den wir ja jetzt schon ein wenig kennen, jener zeitungslesende Herr durchaus seinerseits schon bekannt, denn dieser geruhte dort jeden Tag so prächtig zu sitzen und niemals war von dort auch nur die kleinste Brotkrume zu Boden gefallen.
 

Dieser Mann aß nicht, er las, und dies anscheinend sehr gründlich und mit aller gottgegebenen Muse. Und man mag es bedauern, aber solches Tun war in seiner Natur für Spatzen nun einmal unergiebig.

Also startete unser gefiederter Winzling augenblicklich einen weiteren seiner unvorhersehbaren Flüge. Wieder schraubte er sich ins lichtdurchtränkte Blau des Himmels und dieses Mal glänzten seine Federn dabei so majestätisch im Sonnenlicht, war er so voll und ganz in seinem Element, dass ein Adler nicht hätte anmutiger sein können. Er ließ sich nunmehr etwas abfallen, glitt eine kurze Strecke, und flatterte dann wieder hinauf, um anschließend in den kühlenden Schatten eines großen Baumes einzutauchen. Dort wollte er sich nun doch etwas ausruhen. Nahe des Stammes, auf einem schattigen Ast, ließ er sich also nieder und sah sich, ganz wie es seinem spatzenhaften Wesen entsprach, neugierig um. Schließlich blickte er lange aus seinen kleinen, schwarzen Knopfaugen auf das ihm gegenüberliegende Haus. 

Die geputzten Fenster in der hohen Fassade glänzten im Sonnenlicht, manche davon so grell, dass sie wie polierte Spiegel blendeten. Wenig konnte der Spatz ahnen, dass dies Gebäude ein Krankenhaus war. Hinter einem der vielen Fenster erblickte sein blinzelndes Spatzenauge nun ein bleiches Menschengesicht.

Wer da so blass und rothaarig hinter der Scheibe stand, war meine Mama und sie blickte gar zu unschuldig drein. Aber ganz so unberührt wie sie mit ihrer verträumt schmollenden Unterlippe und den babyblauen Augen in diesem Augenblick auch aussehen mochte, konnte sie beileibe nicht mehr sein, denn obwohl sie gerade erst zarte 17 Lebensjahre zählte, war sie doch mehr oder weniger im Begriff, ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Sie stand da und wusste gar nicht so recht, wie ihr geschah und was sie in den nächsten Stunden ganz genau erwarten würde. Ein paar Tage war sie jetzt schon überfällig und dennoch in ihrer Jugend gleichzeitig noch naiv genug, um ihre ersten Wehen doch tatsächlich für Bauchschmerzen gehalten zu haben.

Nur wenige Stunden zuvor, daheim am Telefon, hatte die Krankenschwester zu ihr gesagt, sie solle besser vorbeikommen. Fast widerwillig war sie dann hingegangen, in der festen Überzeugung, danach schnell wieder nach Hause zu kommen. Fast schmollend war sie losgestapft, als hätte sie komplett vergessen, hochschwanger zu sein. Ja, sie war tatsächlich unbeschlagen genug, um so herrlich ahnungslos zu sein.

Ich selbst habe natürlich keine Erinnerung an dieses Geschehen, denn ich lag währenddessen, selig dämmernd und durch einen Nabel versorgt, im Bauche meiner Mama und ließ es mir dort recht gut gehen. Wahrscheinlich habe ich ebenfalls keinerlei Anlass gesehen, diesen angenehmen Zustand zu beenden.

Nun hatte man meine werdende Mutter kurzerhand an einen Tropf angeschlossen. “Mit einem wehenfördernden Mittel!” wie die Schwester erklärt hatte, um der ganzen Geburtsangelegenheit etwas Vortrieb zu leisten. Es mag durchaus sein, dass es mir im Leib meiner Mutter tatsächlich so gut ging, dass ich gar keine Anstalten machte, hinauszukommen. Diese Trägheit würde mir in der Tat ähnlich sehen, denn Anstrengungen jeder Art würde ich auch im späteren Leben eher gering schätzen. Aber wie gesagt: Dies sind Vermutungen, denn ich kann mich wirklich nicht daran entsinnen.

Heute, so beschlossen die Ärzte, sollte also der Tag sein. Mama würde an diesem Tage nicht wieder einfach unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Es ließ sich nicht länger verhindern. Die Ärzte würden mich aus dem warmen, angenehmen Dasein im Inneren meiner Mutter in die Welt holen, ob ich nun wollte, oder nicht. Dieser Tag würde also mein Geburtstag werden, mein erster Tag in dieser Welt.

Jetzt noch, kurz zuvor, als meine blutjunge Mutter so träumend und etwas scheu aus dem Fenster sah und auf ihre Geburtswehen wartete, wirkte sie einfach nur schüchtern, unschuldig und zart.

Auf den prächtigen Kastanienbaum gegenüber blickend, durch dessen Geäst das Sonnenlicht blinkte, sann sie noch einmal darüber nach, wie dies denn nun alles gekommen war. Von dem Spatz, der sie vom Baum aus unterdes beobachtete, ahnte sie freilich nicht das geringste. 

“Das ist alles etwas früher als geplant geschehen!” dachte sie bei sich. Doch ohne Frage war das Kind, das sie nun unter ihrem klopfenden Herzen trug, das Ergebnis einer ehrlichen und aufrechten Liebe und somit war doch letztlich alles richtig und gut, wie sie fand. Meine Mama sah also versonnen mit unscharfem Blick in die Ferne und vor ihrem inneren Auge schwebten ein paar Szenen aus den letzten Jahren. Sie sah, wie sie Papa in der Schule kennengelernt hatte. Sie grinste bei der Erinnerung daran, wie er barfuß die steinernen Treppen des Gymnasiums hochgesprungen war, wie er sich hektisch seinen Weg durch den Schülerstrom gebahnt hatte und dabei in jeder Facette seines Wesens so gänzlich anders gewesen war, als seine Mitschüler.

Diese Liebesgeschichte unter Schülern hatte sich in dem hessischen und zauberhaften Ort namens “Rothenburg an der Fulda” zugetragen. Sie, die schüchterne Rothaarige und er, der schwarzhaarige, wuschelige und wilde Hippyjunge. Irgendwann hatten sie sich angesehen, hatten sich ihre Blicke verfangen und dann hatten sie sich verliebt. Wie das eben so passiert.

Jetzt lebten sie in einer kleinen Wohnung in Frankfurt und hatten beide die Schule schon seit einiger Weile frühzeitig verlassen. Und dann war sie plötzlich schwanger geworden. Wie sie so dastand, im hellen Licht der Sonne, das schräg durch das hohe Fenster auf sie fiel, waren ihre Gefühle eine Mischung aus freudiger Erwartung und Furcht vor dem unbekannten Erlebnis des Gebärens. 

Ein paar Stunden später sollte es aber dann endgültig soweit sein. Sie bekam schließlich und endlich die erhofften starken Wehen. Sie waren extrem schmerzhaft für sie. So bahnte es sich an: Mein Dasein auf dieser Welt. Etwas erzwungen, von Medikamenten und Ärzten angeschoben, aber schließlich wohl doch ziemlich alternativlos. Und wie es im Leben nunmal so ist: Es ging von Beginn an mit Schmerz einher. 

Was für meine Mutter in dem Moment großes Leiden war, war für mich ein Tunnel und dann, an dessen Ende dieser Zauber: Das glitzernde, strahlende Licht. Ein Klaps und ich tat einen ersten Schrei. Schon wieder Schmerz. Es fing ja wirklich gut an. 

Zum ersten Mal spürte ich Luft an der Haut. Sie war kälter als die Wärme im Inneren meiner Mutter. Ein erster Reflex des Zwerchfells und ich sog erstmals Luft in meine zarten, winzigen, rosa Lungen. Erster ungedämpfter Schall drang an meine Ohren und Licht in meine Augen, die das Sehen noch nicht kannten. Hier war ich nun. Ein weiterer Mensch in der Welt. Allerdings zuerst noch als schrumpeliges, glitschiges Würmchen. Ich wurde meiner erschöpften Mutter an die Brust gelegt, was mich sogleich etwas beruhigte und in meiner Mama ein ungekanntes Glücksgefühl auslöste. Augenblicklich vergaß sie den erlittenen Schmerz und empfing den süßen Lohn dafür: Ein gesundes, geliebtes Kind, das an ihrem Herzen lag. Welch ein Moment.

“Wo war denn bitte mein Vater?” mag man sich fragen. Nun, zur damaligen Zeit war es den jungen Vätern nicht gestattet, bei den Geburten dabei zu sein. Lediglich am Telefon berichtete der Arzt meinem Vater, der namentlich “Claus Dieter” hieß, und der seinerseits auch erst 19 Lebensjahre zählte, dass sein gesunder Sohn nun geboren sei. „Die junge Mutter und ihr Sohn sind wohlauf! Alles ist sehr gut verlaufen!“ berichtete der Arzt routiniert am Hörer und mein blutjunger Vater vernahm es äußerst aufgeregt, wie es durchaus seiner generell etwas nervösen Art entsprach. Und damit mein junger Dad wenigstens einen akustischen Beweis meiner Existenz zu hören bekam, schnippte der Arzt mit dem Finger an mein winziges, rosa Füßchen, damit ich eine kleine Probe meiner Stimmgewalt als hörbares Lebenszeichen von mir gab. So war das damals noch. So plärrte ich meinem Vater erste Grüße zu, ohne es zu ahnen. Und auch er erlebte jenseits des Telefonhörers Gefühle, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Da stand er nun und war Vater. Eigentlich war das ja eine unfassbare Sache. Dabei war er selbst noch etwas pickelig im Gesicht und noch nicht wirklich ein Mann. Überwältigt schaute er unter seinem schwarzen Wuschelkopf und aus den Gläsern seiner kleinen, runden Brille hervor, als er den Hörer des Telefons einhängte. Über seiner Oberlippe sah man einem zarten Flaum von ersten, wenigen Barthaaren.

Claus Dieter kam also tags darauf erst ins Krankenhaus, stürzte ins Zimmer und war vollkommen überwältigt, als er mich erstmalig erblickte. Er war außer sich. Ein 19 jähriger Vater, der von seinen Gefühlen übermannt wurde und fast nicht wusste, wie ihm geschah. Meine beiden Eltern waren ja selbst noch halbe Kinder. Und da waren sie nun beschenkt mit dem Wunder des Lebens, das dem Laufe der Natur folgend aus ihrer Vereinigung hervorgegangen war. Dies war der erste Moment der jungen Familie Bost. Dies war der Anfang meines Lebens.


Ich will es Euch im Folgenden so gut beschreiben, wie ich es vermag.

Als Säugling im Alter von wenigen Stunden und Tagen wurde ich zunächst mit den anderen neuen Erdenbürgern, die ungefähr zeitgleich mit mir in diesem Krankenhaus geboren waren, auf einem langen Wagen liegend von den fleißigen Händen der Krankenschwestern durch lange Gänge geschoben. Es war eine erste Fahrt und ich teilte diese Erfahrung mit anderen Menschenwürmchen von der Säuglingsstation. Wir wurden um ein paar Ecken gekarrt, zu den Krankenzimmern, wo die Mütter uns schon ungeduldig erwarteten. Wegen des ungewohnten Geruckels plärrten wir alle laut, sodass man uns in den mütterlichen Betten schon von weitem hören konnte. Die Zimmernachbarin sagte zu meiner Mutter: „Ah, da kommen sie wieder!“ Wenig später wurde ich als kleines, lebendiges Paket den ausgestreckten Armen meiner im Wochenbett liegenden Mama übergeben.

Wie dankbar und glücklich empfingen mich diese? Wie heil mutet doch eine  solche Szene an, in der eine Mutter ihr Neugeborenes hält? In diesem Feld der Liebe ging es mir ebenso gut wie im Mutterleib. Dabei wurde ich einmal fast verwechselt! Um ein Haar wäre ich an die falsche Brust angelegt worden, aber meine Mutter war aufmerksam: „Hey, das ist aber meiner!“ protestierte sie. Man stelle sich das vor! Es gibt durchaus diese Geschichten von Verwechslungen. Mein Leben wäre ein völlig anderes geworden. Aber ich hatte Glück! Ich blieb bei der besten Mutter, die ein Wesen haben kann, weil sie von Anfang an gut auf mich aufpasste.

Irgendwann wurde ich in ein Kissen weich eingehüllt und meiner Mutter mitgegeben: Wir durften nach Hause. Auf ins Leben! Meine Mutter trug mich stolz und froh über die Straße und über ihrem Kopf flog in einer sonnenlichtdurchtränkten Sekunde ein piepsender, trällender Spatz hinweg und es war, als sänge er vom Glück!