Grundschule

Im Sommer 1976, wurde ich in der katholischen Sollbrüggen-Grundschule eingeschult. Meine Schultüte zierte der Räuber Hotzenplotz, ein Detail, dessen ich mich niemals würde entsinnen können, gäbe es nicht ein Foto von jenem historischen Tage, auf welchem ich zuckersüß in die Kamera schaue. Darauf ist auch zu sehen, dass ich anlässlich meines ersten Schultages einen Jeansanzug trug, den unsere Nachbarin Karin extra für mich bei Quelle bestellt hatte.


Dieser erste Schultag war ein guter Tag! Meine Mutter nahm mich an der Hand und wir gingen den Schulweg gemeinsam. Er war nicht weit. Aufmerksam lauschte ich ihren eindringlichen Anweisungen, als sie mir erklärte, wie ich mich an der großen Straße an der Ampel zu verhalten habe. „Du darfst nur über die Straße gehen, wenn es grün für Dich ist! Und sieh trotzdem nach, ob auch kein Auto kommt!“ Ich hörte ihr sehr aufmerksam zu, auch wenn ich schon oft alleine Ampeln überquert hatte und insbesondere diese.
Aber die Überquerung der Uerdinger Straße war dann auch schon die einzige Gefahrenstelle auf dem Weg zur Schule. Danach waren es nur noch ein paar Meter auf dem Bürgersteig am saftigen Grün des Sollbrüggenparks vorbei und dann, an einer Ecke, stand sie schon: Die Schule.


Um einen asphaltierten Schulhof herum standen zwei Gebäude. Das zur linken Seite war etwas älter und aus rotem Ziegelstein. An den Fenstern sah ich bunte Figuren hängen, die Schulkinder aus Pergamentpapier gebastelt hatten. Auf der anderen Seite des Schulhofes war ein viereckiges, moderneres Betongebäude, das wie ein riesiger Würfel aussah. Dort hinein gingen wir.
Drinnen trafen wir auf lauter andere Kinder, die ebenfalls alle an den Händen ihrer Eltern dastanden. Zum ersten Mal betrat ich ein Klassenzimmer. Die Klassenlehrerin erzählte uns und den beiwohnenden Eltern, welche Schulhefte und Materialien benötigt würden, der Stundenplan wurde vorgestellt und ein paar Schulbücher wurden verteilt. Meine Mutter kaufte mir noch am selben Nachmittag einen orangefarbenen Ledertornister und dort hinein kamen alle Schreibhefte und Stifte und die schweren Bücher, welche sie zuvor in dicke, bunte Plastikfolie eingeschlagen hatte, denn schließlich mussten die Lehrbücher ein paar Schülergenerationen lang halten. Und so ausgerüstet und instruiert begann nun also für mich die Schulzeit.
Aber halt! Das Schulbrot fehlte noch. Im besten Fall war das ein Doppeldecker mit Nutella. Meine Mutter würde also eine Scheibe frischen Graubrotes mit Butter bestreichen und darüber noch Nutella, es zuklappen und es in Papier einschlagen. Mit dieser Zugabe war der Tornister aber nun wirklich vollständig gepackt. Ein, zwei Mal brachte meine Mami mich noch zur Schule und irgendwann durfte oder musste ich dann alleine gehen. Auf dem kurzen Weg gesellten sich immer mehr Schulkinder dazu, sie strömten aus allen Himmelsrichtungen auf die kleine Schule zu. Die meisten hatten einen großen viereckigen Scout-Tornister auf dem Rücken mit Reflektoren und so.


„Das ist ein „U“!“ sagte die Lehrerin und malte es mit einer leichten und schwungvollen Bewegung und dem klackenden und schleifenden Geräusch der Kreide an die Klapptafel. Wir beobachteten sie dabei ganz genau, denn wir würden in Kürze genau diesen Buchstaben in unsere Hefte schreiben müssen. Gebannt verfolgte ich, wie der weiße Strich sich zu einem Buchstaben formte. An meinem winzigen, hölzernen Pult sitzend sprach ich, mit den Anderen im Chor, den Laut nach. „Uuuuuuh!“ wie „Uhu!“ Dann malte ich ihn mit dem Wachsmalstift in mein großes Schreibheft. Mit einem kleinen schmatzenden Geräusch löste sich der Stift von dem Papier als ich absetzte. Und die Lehrerin schritt hinter uns durch die Reihen und flüsterte ihre Kommentare in die Kinderohren:“Sehr gut!“, „Schön!“ oder „Mach‘s nochmal!“ Wir lernten das Schreiben in geschwungener Schreibschrift, die wir, Buchstabe für Buchstabe, Tag für Tag, mit den Stiften in unsere Schreibhefte abmalten. Als Hausaufgabe malten wir dann die mit kleinen Schlaufen an ihren Enden verschnörkelten Buchstaben noch viele Male akkurat nach, fein säuberlich in die vierreihigen Zeilen des Schreibheftes, deren Hilfslinien uns helfen sollten, dabei die richtigen Proportionen einzuhalten. Das erste Wort, welches ich auf diese Art zu schreiben lernte war: „Hut“. Allein das große „H“ war ein einziges Kunstwerk aus geschweiften Schlaufen und geschwungenen Schlingen. Wenn es mir gut gelang, machte es mich ähnlich stolz, wie meine erste Fahrradfahrt.


Allmorgendlich, wenn die Klassenlehrerin den Raum betrat, hatten wir aufzustehen und wir begrüßten sie im einhelligen Chor:“Guten Morgen, Frau Lehrerin!“ Und dann beteten wir stehend das „Vater unser“, beziehungsweise sagten wir es auf. Ich verstand größtenteils gar nicht, was ich da sagte. Es waren seltsame Worte. Irgendwas mit „Gib uns Brot!“ kam darin vor. „Ja, war Gott denn auch ein Bäcker?“ Als ungetauftes, konfessionsloses Kind hatte ich keine Ahnung, was diese Gebete bedeuten sollten. Ich sprach es nach, ohne
zu wissen, was ich da sagte.


Auf dem Pausenhof hüpften die Mädchen beim Gummitwist und die Jungs jagten sich beim Fangen. „Kleck!“ wurde dauernd gerufen und „Hab Dich!“ Andere liefen an Strohhalmen saugend, die in kleinen Papp-Packungen steckten umher, denn es gab für jeden von uns zur großen Pause eine Milch. Neben der Vollmilch stand noch Kakao oder Erdbeermilch zur Auswahl, oder aber, und dies war meine Wahl, Bananenmilch. Das war die neueste Variante im Schulmilch-Angebot und sie schmeckte so unsagbar künstlich nach Banane, dass es eigentlich mit dem Geschmack einer Banane nicht viel gemein hatte, aber das konnte mich nicht davon abhalten, diesen süßen Geschmack nur umso mehr zu lieben.


Ich habe keine schlechten Erinnerungen an die Grundschule und so absolvierte ich sie gern und gänzlich ungetrübt. Bis auf eine einzige Ausnahme. Diese Ausnahme hieß: Frank Dowitz. Er war der Klassenrüpel. Er war diese Sorte Kind, die einen Groll von zuhause mitbrachten und auf dem Schulhof nach Blitzableitern dafür suchten. Der klassische „Bully“, wie die Amerikaner diesen Typus nennen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er seine Bösartigkeit auch an mir ausprobieren würde. Und tatsächlich kam sehr bald schon jene große Pause, in der er mich aus seinen missmutigen Augenschlitzen heraus erspähte. Ihm missfiel wohl meine Freude, die ich an einem gefalteten Papierflieger hatte, den ich über Pausenhof gleiten ließ, und dem ich fröhlich hinterherrannte. Beim nächsten Landepunkt war Frank schneller und ich sah hilflos mit an, wie sein Fuß sich auf meinen Flieger senkte. Genüsslich zerstampfte er ihn. Der Junge war böse. “Warum machst Du das?” fragte ich ihn entsetzt. “Weil ich es will!” antwortete er nur ganz cool. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Seine Boshaftigkeit erschreckte mich. So etwas kannte ich bisher nicht.
Als er merkte, dass ich mich von seiner Dreistigkeit einschüchtern ließ, war er zufrieden, denn er hatte ein weiteres Opfer gefunden. Somit demütigte mich immer mal wieder, wenn ihm der schlechte Sinn danach stand und auf diese Weise suchte er wohl meine Grenze. Mangels Mut und aus Ratlosigkeit ließ ich ihn gewähren. Manchmal passte er mich auf dem Heimweg ab und piesackte mich dann. Er schubste mich ein wenig herum und war frech und gemein, drohte und schüchterte mich ein.


Die kleine Blechdose mit Wachsmalstiften wurde bald durch ein Federmäppchen abgelöst. Ein solches war eine famose Sache. Meines war, wie die meisten Modelle zweigeteilt: Es hatte zwei Fächer die ringsrum mit einem Reißverschluss zu schließen waren. Auf der einen Seite waren Bunt- und Filzstifte zu finden, die alle nach Farben sortiert waren und mit einzelnen Gummischlaufen in ordentlicher Reihe gehalten wurden. Das zweite Fach war für das Geodreieck, Lineal, Radiergummi, Anspitzer und den Füller vorbehalten. Der Füller war nun unser Schreibgerät! Auch er war ein wunderliches Dingen, das man aufschrauben konnte um kleine Plastikpatronen mit Tinte hineinzuschieben. Von da an gab zwei Sorten von Schülern: Diejenigen die einen Füller der Marke „Geha“ hatten und jene, die ein Modell des Herstellers „Pelikan“ bevorzugten. Ich war ein „Geha“- Mann! Durch ein kleines Fensterchen, das wie ein rundes Bullauge auf halber Höhe des Schreibers saß, konnte man schauen, ob noch genug Tinte im Füller war. Mein Füller war für mich sowas wie eine kleine Rakete. Ich ließ ihn vom Pult abheben und in den Weltraum des Klassenzimmers starten. Von hinter dem Bullauge könnte ich die Welt von oben sehen, wenn ich als winziges Männlein in der Füllerrakete sitzen würde. Wie toll wäre das? Als Frau Adamsen unsere Lehrerin sagte: “Sven! Könntest Du bitte aufpassen?”, war der Ausflug ins Weltall jedoch gleich wieder abrupt beendet. Ja, ein Füller war eine tolle Sache, aber noch viel faszinierender war die magische Wunderwaffe, die mit dem Zeitalter des Füllfederhalters einherging und gleich neben ihm im Federmäppchen zu finden war: Der Tintenkiller! Hier betraten wir das Wunderland der Magie! Mit diesem Wunderstift war es möglich, dereinst Geschriebenes gleich wieder unsichtbar werden zu lassen. „Zauberei!“ dachte ich. Mit der anderen Seite des Tintenkillers war es wiederum möglich, erneut über das „Ausgekillerte“ zu schreiben. Diese Korrektur blieb dann jedoch für immer und war nicht erneut korrigierbar. Der Tintenkiller war für mich genauso toll wie Ladykracher und Knallfrösche. Bei Klassenarbeiten war das „Killern“ jedoch verboten! Ein falsch geschriebenes Wort hatte durchgestrichen und neu geschrieben zu werden.


So lernten wir Wort um Wort. Satz um Satz. Oder wir lernten die Sprache dadurch, dass wir laut aus unseren Schul-Lesebüchern vorlesen mussten. Abwechselnd nahm Frau Adamsen uns der Reihe nach dran. Es fiel uns unterschiedlich leicht. Manche schafften es nur langsam und stockend aus den gedruckten Buchstaben ein gesprochenes Wort zu formen, Anderen gelang es müheloser. Mit dem Finger unter den Worten entlangfahrend, lasen wir auf diese Art die Kurzgeschichten aus dem Schulbuch vor. Das war ein schönes Fach, fast wie eine Märchenstunde. Ich fand die Geschichten meistens ganz gut. Zum Beispiel wie der Pfannkuchen „Kantaper, kantaper“ in den Wald rollte. Es war mitunter aber durchaus eine Geduldsprobe und Herausforderung nicht vorzusagen, wenn ein Klassenkamerad im Buchstabensalat hoffnungslos steckenblieb und dabei in eine Art gestotterte Zeitlupe verfiel. Ich biss mir auf die Zunge und hielt die Luft an, um nicht das Wort, an dem er zu ersticken drohte, in den Klassenraum zu rufen! Manche Mitschüler drucksten, schnauften und schwitzten derart gequält an den Worten herum, als säßen sie bei einem großen Geschäft auf dem Klo. Aber so sehr sie auch drückten und quetschten, es wollte nicht recht herauskommen. Oder was herauskam, ergab keinen Sinn, oder es war erkennbar geraten. So hatte jeder seine Eigenart und sein ganz eigenes Tempo darin, sich mit der Sprache in geschriebener Form anzufreunden.
Wie gut wir alles gelernt und verstanden hatten, konnten wir bei den Klassenarbeiten beweisen. Bei absoluter Stille im Klassenraum schrieben wir mit vor Konzentration herausgepressten Zungenspitzen unsere Diktate oder Aufsätze. Ich war kein Streber, aber insgesamt ein ganz guter Schüler, denn es machte mir größtenteils richtig Spaß diese Dinge zu lernen. Im Unterricht reckten wir unsere Arme in wildem Wettbewerb in die Luft, um uns zu „melden“, wenn wir anzeigen wollten, dass wir zumindest in bestem Glauben daran waren, beispielsweise eine Rechenaufgabe oder irgendeine andere Frage des Lehrers richtig beantworten zu können. Dabei mit den Fingern zu schnipsen, um die Aufmerksamkeit des Lehrkörpers auf sich zu lenken, war hierbei nicht gerne gesehen. “Nicht schnippen bitte!” ermahnte Frau Adamson des Öfteren, aber dennoch kam es im Zuge des überschäumenden Lerneifers immer wieder vor. Besonders wenn man, ganz ergriffen von der Begeisterung über die eigene Denkleistung, sich so reckte, dass man fast vom Stuhl abhob, weil man unbedingt drankommen wollte. Die Arme wurden dann so entschieden mit erhobenem Zeigefinger in den Raum gehoben, dass sich die jungen Schultern den vor Erregung roten Ohren näherten. Manche riefen auch:”Ich weiß es! Ich weiß es!”. Oft brachten wir eifrigen Schüler dabei auch seltsame Kehllaute hervor, die eine Art strebendes Stöhnen waren, ein Junken, das bedeuten sollte:“ Ich weiß es! Nimm mich dran!“ Die Mädchen mit ihren Haarspangen und Zöpfen benahmen sich meist gesitteter, schmollten aber gelegentlich, wenn sie wegen schnipsender und zappelnder Jungs nicht aufgerufen wurden. Das Lernen machte jedenfalls Spaß.

Aus: „Umwege. Die innere Reise. Band 1: Der Königssohn

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