Realschule

Die Lehrerkonferenz des Gymnasiums am Moltkeplatz legte meiner Mutter nahe, ihren inzwischen als unhaltbar angesehenen Zögling von der Schule zu nehmen. Um ihr diese Erlösung von mir schmackhaft zu machen, bot man ihr im Gegenzug an, mir ein unverdient gnädiges Übergangszeugnis auszustellen, damit: “Ihr Sohn nicht noch ein weiteres Jahr verliert!”. Und weil die ehrwürdigen Lehrmeister so überzeugend argumentieren, akzeptierte meine Mutter den offerierten Deal. Und das war dann tatsächlich das jähe Ende meiner akademischen Laufbahn.

Es war fair genug. Ich hatte schließlich meine Chancen gehabt. Über fünf Jahre, inklusive eines wiederholten Schuljahres, hatten sie mich ertragen und mir alle Möglichkeiten gegeben. Ich war oft genug ermahnt und gerügt worden. Ich wusste, dass ich meinen Teil nicht ausreichend getan hatte, das war schon klar. Rückblickend wäre ich gerne etwas schlauer und fleißiger gewesen, aber das war ich damals einfach nicht. Die Schule war in meinen Augen, seit langer Zeit schon, lediglich nur noch ein notwendiges Übel gewesen. So flog ich völlig folgerichtig aus dem großen Palast der Bildung, dem Gymnasium am Moltkeplatz. Die renommierte Lehranstalt erkannte schlussendlich ihren Irrtum. Einen Irrtum, der darin bestanden hatte, jemanden wie mich in seine Reihen aufgenommen zu haben, einen Jungen, der letztlich nie wirklich zu würdigen gewusst hatte, was ihm da geboten worden war. Das Moltke spuckte mich aus wie einen faulen Apfel und ich durfte mich darüber wirklich nicht beschweren.

Jetzt musste ich zur Realschule. Konkret war dies die “Marianne-Rhodius-Schule”. Also radelte ich morgens einfach ein paar Ecken weiter. Ich ließ das Gymnasium in meinem Rücken liegen und überquerte die Grenzstraße, fuhr ein Stück die Germaniastraße entlang und bog dann in die Kaiserstraße Richtung Stadtwald ein. Umso näher ich kam, desto aufgeregter wurde ich innerlich. An der Kreuzung von Kaiserstraße und Friedrich-Ebert-Straße angekommen, war ich dann am Ziel. Vis-à-vis vom Kaiserpark stand nun diese neue Schule. Ich betrachtete das Gebäude und fand, dass es recht belanglos aussah. Und tatsächlich stellte ich dann während meiner ersten Schultage dort schnell fest, dass darin auch wirklich alles harmloser und banaler zuging. Vorbei war der edle Zauber im prunkvollen Prachtbau. Dieses etwas banale Gebäude, das ohne jeden Charme und Esprit auskam, hielt auch im Inneren, im täglichen Ablauf, was es äußerlich versprach. Es gab weniger Klassen und Schüler und überhaupt blieb auch auf den zweiten Blick alles recht ernüchternd. “Das habe ich mir also nun eingebrockt!” dachte ich etwas reumütig. Aber dann erwies sich bald, dass der Schulwechsel auch durchaus Vorteile hatte. Durch den gesunkenen Anspruch wurde der ganze Schulalltag wesentlich entspannter für mich. Der Lehrplan war schön seicht und hier gab es auch keine Bonzen, kein soziales Gefälle. Vielleicht war ich nunmehr auf dem Boden der Tatsachen angelangt und letztlich dort gelandet, wo ich eigentlich hingehörte.

In der neunten Klasse auf der Marianne-Rhodius-Schule war ich nun der „Neue“. Ein fremder Junge, der mitten im Schuljahr von der fremden Schule gekommen war und auf einmal zwischen ihnen saß. Zwei Jungs kannte ich allerdings schon vom Moltke. Sie waren diesen Weg der Schande schon vor mir gegangen. Einer von ihnen war sogar der Junge mit dem Grünauge diese schmerzhaften 9 Monate so glücklich zusammengewesen war. Aber das war schon vergessen. Er war ein sehr liebenswerter, freundlicher Kerl und für eine gewisse Zeit wurden wir sogar sehr gute Freunde.

Ich war immer noch der blasse, picklige Typ, der keinen einzigen Muskel am Leib hatte, dessen große Ohren etwas abstanden und der eine relativ breite Nase mitten im leicht pickeligen Gesicht trug. Das war zumindest das Bild, was mir meine Selbstwahrnehmung vermittelte. Ich hielt mich bestimmt nicht für einen Hingucker. Umso größer war meine Überraschung, als ich irgendwann feststellte, dass es ein paar Mädchen in der Klasse gab, die das wohl etwas anders zu sehen schienen. Sie lächelten mich immer öfter an. Wie konnte das sein?

Ich denke, es war wohl in erster Linie diesem Alter geschuldet. Um die 17 war man gemeinhin sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Jedenfalls ergab sich mit der Zeit eine Situation, die ich niemals für möglich gehalten hätte: Die Mädchen meiner Klasse gerieten, zunächst, wie gesagt zu meiner völligen Überraschung, später dann aber durchaus zu meinem wachsenden Vergnügen, mit der Zeit in eine Art zunehmenden Wettbewerb untereinander. Ohne mein großes Zutun entstand eine interessante Psychodynamik zwischen den Mädchen, die darin bestand, dass sie versuchten, sich gegenseitig zu überbieten. Es war wohl eine Art Verdrängungswettbewerb der kleinen Eifersüchteleien. Sah die Eine, dass die Andere mir einen Zettel zusteckte, dann schrieb sie natürlich auch einen und das tat dann auch die Nächste.

Jetzt wollten sie wohl wissen, wer den Neuen kriegt. Das war in erster Linie ein Ding der Rivalität zwischen diesen Schulmädchen untereienander. Sie entzündeten sich selbst. Ich hab nichts gemacht, echt nicht. Ich hab nur mal hier und da gelächelt und geschaut. Der Rest war ein Selbstläufer, zu dem ich kam, wie die Jungfrau zum Kind.

Auf einmal war der blasse Junge, der oft genug auf dem Gymnasium nur der Außenseiter gewesen war, der neue, heiße Typ in der Klasse. In dieser Rolle fand ich mich relativ unerwartet wieder, wie man sich denken kann. Ich fragte mich, wie das überhaupt sein konnte. Vielleicht war es einfach der Reiz des Neuen. Vielleicht übersah ich auch etwas an mir, was eine gewisse Anziehungskraft auf sie ausübte? Ich wusste es nicht, aber was es auch immer war: Ich war der glückliche Nutznießer dieser neuen Situation und ich fand es natürlich wunderbar. Es schmeichelte mir und meinem Ego. Das war eine willkommene Wohltat und Bestätigung, denn in meinem Buckel steckten ja schon ein paar Harpunen und Lanzen aus Enttäuschung, die mir die Walfänger des Schicksals auf den Leib geschleudert hatten.

Jedenfalls schienen meine Mitschülerinnen altersbedingt in hormoneller Aufruhr zu sein und so glänzten mich immer mehr Augenpaare an, wenn ich den Kopf in der Schulbank nach hinten drehte und in das Rund des Klassenzimmers sah. Sie grinsten um die Wette. Das war wirklich eine sehr angenehme Position. Etwas ähnliches hatte ich, wenn überhaupt, nur in der Grundschule erlebt mit meinem knutschwütigen Vierertisch-Gespann. Ich dachte, ich träume das alles nur! Auch hier kamen nun die ersten Zettelchen aus Löschpapier zu mir, die in schöner Mädchenschrift beschrieben waren. Sie überboten sich in Freundlichkeit.

Meine wirkliche Favoritin auf dieser Schule war aber ein Mädchen in der Parallelklasse. Sie hatte das, was mich anzog. Eine herausragende Persönlichkeit und zwei deutlich hervorragende Busen, die meinem Augenmerk nicht entgangen waren. Dieses Mädchen war aus vielerlei Gründen auffällig. Sie schien auch wirklich alles dafür zu tun. Sie wechselte alle paar Tage ihre grelle Haarfarbe und kleidete sich darüber hinaus so völlig hemmungslos, kreativ und ausgefallen, dass es an manchen Tagen geradezu skurril zu nennen war, wie sie aussah. Aber sie sah immer gut aus. Sie zelebrierte sich selbstbewusst und traute sich was. War sie am gestrigen Tage noch in schwarzweiß-karierter Latzhose und königsblauen Haaren aufgefallen, konnte es sehr gut passieren, dass sie am darauffolgenden Tag mit orangem Haupthaar und Minirock aufmarschierte. Sie lieferte echt eine Show. Sie war ein Star, ein wildes, buntes Mädchen.

Ihr aller auffälligstes Feature waren aber ihre großen Augen. Und ich meine wirklich ihre Augen. Es waren die Augen von Kleopatra. Es waren zwei riesige, verträumte, von Kajal umrandete Scheinwerfer. Das schimmernde obere Lid ließ sie lässig und cool auf halbe Höhe herabhängen, was ihr eine Art coolen Schlafzimmerblick verlieh. Wenn ich ihr als Schulkamerad in der Raucherecke auf dem Schulhof bei einem beiläufigen Gespräch in diese Augen sah, wurde mir auf eine sehr gute Art und Weise ein wenig schwindelig. Ihre magischen Augen schienen der Eingang in eine andere Welt zu sein. Ich brachte sie zum Lachen und manchmal hatte ich ganz leicht das Gefühl, als ginge der eine oder andere Blick ein bisschen tiefer, aber dann lernte ich im Laufe dieser Pausengespräche, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte. Sie erzählte mir, dass sie mit älteren Jungs rumhing. Das waren richtige Typen mit Bartstoppeln und langen Haaren so, richtige junge Männer, die 18 Jahre und älter waren. Das war in dem Alter ein meilenweiter Unterschied. Dagegen war ich noch ein Bubbi. Kleopatra war, was ich zu meinem Bedauern feststellen musste, außer Reichweite.

Dennoch schreib ich ihr kleine Zettel mit Flirtnachrichten, wenn wir gemeinsam mit ihrer Klasse Chemie-Unterricht hatten. Ich hatte ja nichts zu verlieren. Aber ich machte mir keine großen Hoffnungen. Barthaare hatte ich nur einzelne und sie waren in ihrer Anzahl so gering, dass sie schnell gezählt waren.

Immerhin sprach sie mit mir und wir lachten gerne zusammen. Ich mochte sie sofort. Kleopatra hatte eine lockere und angenehme Art. In kurzen gestohlenen Blicken versank ich für flüchtige, intensive Momente in ihren großen Augen. Ich tauchte hinein wie in einen Traum.

Dann verkündete unsere Klassenlehrerin Frau Brackenacker eines Tages das Ziel der diesjährigen Klassenfahrt: “Wir werden also zum Chiemsee fahren!” Ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich als kleiner Junge schon einmal dort gewesen war, auf der Schlösser-Reise mit meiner Mutter. Auf der Herreninsel im Chiemsee hatten wir damals das Schloss von Ludwig dem II. besichtigt. Es war eine schöne Gegend, ohne Frage. Ich freute mich also auf diese Fahrt, denn ich hatte das schöne Bayern in bester Erinnerung.

Schon wenige Wochen später saß ich inmitten meiner Klassenkameraden im Reisebus und wir rollten über endlose Autobahnen gen Süden. Dem Busfahrer waren Musikkassetten übergeben worden und so dudelte im Hintergrund eine wilde Mischung aus Pet Shop Boys, Depeche Mode, Frankie goes to Hollywood und anderen Songs aus den aktuellen Charts. Die Stimmung in der gesamten Klasse war altersgemäß ausgelassen und so war der ganze Bus voller Gekichere und Geplapper. Es wurde Capri-Sonne getrunken. Die Fahrt zog sich scheinbar ewig.

Und wie das bei derlei Ausflügen mit Jungs und Mädchen in dieser Altersgruppe so ist, gilt das eherne und ungeschriebene Naturgesetz, dass die streng getrennten Geschlechter sich nachts in ihren Zimmern besuchen. So trug es sich um Mitternacht in der Jugendherberge zu, dass sich die mutigsten Jungs, barfuss und in Schlafanzüge gewandet, hervorwagten und die langen Flure Richtung Mädchenflügel entlangschlichen. Irgendwann meldeten diese zur Erkundung der Lage ausgesandten Pioniere, dass die Bahn frei war. „Keiner mehr zu sehen. Die sind pennen gegangen!“ Gemeint waren natürlich die begleitenden Lehrer, die bis zu einer gewissen Uhrzeit im Flur wachend ausgeharrt hatten. Mit Adleraugen hatte der Lehrkörper bis dahin in das Dunkel der Gänge gestarrt, um selbst den kleinsten Versuch einer Annäherung der Geschlechter zu verhindern, aber schließlich waren die Augendeckel unwiderstehlich schwer geworden. Jetzt, kurz nach Mitternacht, war nun endlich die Bahn frei und die Natur konnte ihren Lauf nehmen. Der erschlaffte Lehrkörper hatte sich ins weiche Etagenbett in seiner Kammer zurückgezogen. Ein bisschen aufgeregt, breit grinsend und auf Zehenspitzen, schlichen wir nun zu viert im bleichen Mondlicht los, das silbern durch die Fenster sickerte und unsere Gestalten wie Zauber umriss. Das Gefühl von Wagemut und Abenteuer stieg in uns auf. Schließlich öffneten wir kichernd die Türe des Schlafraumes der Mädchen.

Und es war einmalig: Ich schaute mich in dem Raum um. Ebenfalls in Mondenschein gehüllt, sah ich, an den Wänden entlang, das Rund der Etagenbetten stehen. In jedem Bett lag ein hübsch gekämmtes, blumig duftendes Mädchen im Nachthemd und aus dem Halbdunkel glitzerten mich die Augenpaare an, wie kleine Sternchen. Sie sahen mich an! Das war wohl der glorreichste Moment, den ich bis dahin erlebt hatte. Wohin ich mich auch wandte, wurde die Bettdecke mit einem breiten Grinsen und leuchtenden Augen einladend aufgeschlagen. Ich hatte die freie Auswahl! Es hört sich an wie ein Traum, wie pure Angeberei, aber ich bin mir relativ sicher, dass ich es wirklich so erlebt habe. Es mag lediglich durch die Schleier der Erinnerung ein wenig verklärt sein.

Ja, was macht man da? Man muss sich irgendwie entscheiden. Sobald man sich jedoch bei der Einen niederlässt, enttäuscht man die Anderen.

Ich wollte mir nach Möglichkeit jedoch nichts entgehen lassen. Ich löste dieses Luxus-Problem, indem ich jede Nacht einfach eine andere Mitschülerin besuchte. Wobei ich zur Ehrenrettung dieser jungen Damen sagen muss, dass das recht harmlos ablief. Da lief jetzt kein harter Sex ab. Es war ganz süßes, liebliches Teenagergefummel, ein bisschen Knutschen und Streicheln, es war alles ganz harmlos, aber gleichzeitig war es zuckersüß. Ich fühlte mich natürlich sauwohl in dieser Lage. In den Schlafraum der Mädchen zu kommen und sich frei aussuchen zu können, wohin man sprang, war erhebend. Ich war, warum auch immer, bei jeder einzelnen jungen Dame willkommen zu der ich mich legte und ich roch dort den Duft ihrer Shampoos und spürte ihre Lippen. „Dolle Sache, so eine Realschule!“ dachte ich.

Mein junges Ego jubilierte. So viel Aufmerksamkeit und Interesse tat einfach gut! Ich fühlte mich so gemocht und willkommen. Es war herrlich. Diese netten Mädchen machten mich zu einem kleinen Helden. Dankbar nahm ich den Flirt mit ihnen allen auf. Ich versuchte meine Aufmerksamkeit möglichst gerecht unter ihnen zu verteilen.

Trotzdem kam es natürlich zu Eifersüchteleien. Sie begannen sich untereinander etwas zu anzuzicken, obwohl sie eigentlich alle seit Jahren gut befreundet waren. Eine psycholgische Kettenreaktion der Rivalitäten, die meinen Marktwert nur noch steigerte. Irgendwie war ich der Glückspilz dieser Klassenfahrt.

Der Lehrer ermahnte die Mädchen: “Ich glaube nicht, dass der Sven wirklich ehrenhafte Absichten verfolgt!” Aber auch diese Belehrung feuerte den kleinen Hype um mich nur noch mehr an. Ich denke auf dieser Klassenfahrt wurde derjenige Teil meines Egos geboren, der sich fortan aus Erfolgserlebnissen bei Frauen nähren würde. Im Fokus eines Mädchens zu stehen, war Superraketentreibstoff für das Selbstwertgefühl. Ich fühlte mich schön, gewollt, beliebt. Das tat richtig gut! Es war erhebend und ich konnte etwas höher fliegen. So jung, wie ich war, sah ich nichts Schlechtes darin. Es war Balsam für mich, es tat mir gut, warum sollte ich das nicht genießen? Dass es keine gute Sache ist, wenn man die Gefühle Anderer benutzt, um sich selbst zu pushen, lernte ich erst viel später. Das waren keine Einsichten, die ich mit 17 schon hatte. Und das war okay. Jetzt lernte ich erst einmal diese gute Seite der Medaille kennen und sie war strahlend und beglückend. Und vielleicht hatte ich ja auch ein wenig Glück verdient, wer weiß?

Von dieser Fahrt kam ich also mit stolzer, breiter Brust zurück nach Krefeld. Noch auf der Rückfahrt im Bus knutschte ich mich wie ein Scheich durch mein Harem und hangelte mich durch die Umarmungen, wie Tarzan durch die Lianen. Mein Selbstbewusstsein war an diesen Erfahrungen gewachsen und es war mir sehr eindrucksvoll und eindrücklich gezeigt worden, dass es auch andere Mädchen gab und dass ich sogar beste Chancen bei ihnen hatte. Ich war so vollgepumpt mit Glück, dass ich glaubte, in dieser Woche mindestens 10 Zentimeter größer geworden zu sein. Das bekam auch die Grünäugige vom Gymnasium zu spüren, der ich stolz und pathetisch mit verschränkten Armen vor der Brust verkündete: „Ich brauche Dich nun nicht mehr!“ Irgendwie war es eine Genugtuung nach den ganzen Demütigungen, die sie mir schon zugefügt hatte. Wir standen in meinem Dachkämmerlein unter der Dachschräge und ich fühlte mich wie ein Riese. Da schaute sie verdutzt drein. Bisher war ich ihr willenloser Bettvorleger gewesen. Aber das war nun vorbei.

Und es scheint ein Naturgesetz zu sein: Von diesem Tage an drehte sich das ganze Spiel und nun hing sie mir nach. „Es ist etwas in den Weibern, das so gestrickt ist. Willst Du sie wirklich, dann bist Du sowas von uninteressant, aber willst Du sie nicht, dann vergöttern sie Dich und rennen Dir nach.“ sagte ich zu Woody, als wir wieder auf dem Dach der Krawattenfabrik kifften. Und er lauschte aufmerksam und nickte gelehrig, denn seine Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht waren noch sehr überschaubar. Ich legte mich rückwärts ausgestreckt auf das Dach und stellte mir vor, im Himmel zu fliegen. Das Blau sah unendlich aus.

Und nun erinnern wir uns an meinen Wunsch an das Universum. Ich hatte Gott in vielen verzweifelten Nächten, im Mondlicht weinend, gebeten mir die Liebe des Grünauges zu schenken. Ich war bereit gewesen ihm alles andere dafür zu opfern. „Nur dieses Eine, das tue für mich: Mach, dass sie mich liebt!“ Ich hatte ihm versprochen, dass ich ihn nie wieder um etwas bitten würde, aber diesen einen, alles entscheidenden Wunsch, den musste er mir einfach erfüllen, denn einzig und allein dieses Mädchen war mir als das unendliche Glück auf Erden erschienen. Bekäme ich sie nicht, wäre alles verfehlt.

Nun war es wahr geworden. Zwar hatte es etwas gedauert und es waren ein paar Monate ins Land gegangen, aber das Universum hatte am Ende tatsächlich geliefert. Nun geschah genau das, was aus damaliger Sicht völlig undenkbar erschienen war. Grünauge hatte ihre Liebe zu mir entdeckt.

Nicht lang nach der lebensverändernden Klassenfahrt saß sie eines Tages neben mir und war wie ausgewechselt. Nun liebte sie mich. Sie sagte es. Sie zeigte es. Sie meinte es. Es war keine kurze Teenagerlaune, wie sonst. Es war klar im Raum zu spüren, dass es jetzt ernst war. Sie liebte mich genau so und von Herzen, wie ich es mir gewünscht hatte. Und es ist schrecklich, aber nun in diesem Moment, als es wahr wurde, schien es auf einmal nicht mehr die Erfüllung meiner Träume zu sein. Es setzte kein Glücksregen ein. Der Himmel öffnete sich nicht.

Nun war dieser unglaubliche Moment da, für den ich bereit gewesen war, den ganzen Rest meines Lebens zu opfern. Das Universum hatte das Schicksal zu meinen Gunsten derart verbogen, dass in diesem Augenblick wahr wurde, was ich mir erfleht hatte. Mit tränenschimmernden Blick sah sie mich fragend an und suchte auf dem Grund meiner Augen nach der Liebe, die dort immer gebrannt hatte und fand sie nicht mehr. Ich konnte es selbst nicht fassen. Die Voraussetzungen hatten sich verändert. Nun hatte ich über den Tellerrand geschaut und dahinter einen weitereren Horizont erblickt, der alles verschob und relativierte. Jetzt, da sie in Liebe vor mir saß, war es einfach nicht das Glück, was ich mir darunter vorgestellt hatte. Es schien nicht mehr so wertvoll. Ich öffnete die Schatzkiste und fand sie leer. Wo war meine Liebe jetzt? War sie zu ihr übergewechselt?

Es war, als sei ich einer Fata Morgana entgegengegangen und jetzt, da ich mich am Ziel wähnte, entzauberte sich alles. Jetzt saß sie hier und ich hätte sie nur in Empfang nehmen müssen. Ich hätte sie nur umarmen brauchen, um das glückselige Happy End perfekt zu machen. Und in dieser Sekunde war der Zauber einfach weg. Gemein irgendwie. Für sie und für mich.

Mit der Erfüllung meines Herzenswunsches kam anstatt des Glücks eine unfassbare Ernüchterung einher. Wie konnte das sein? Ich starrte in die leere Schatzkiste und fühlte mich beraubt. Ratlos und schweigend saßen wir auf dem Rand meiner Matratze. Es war eine Lektion des Universums, die ich erst viele Jahre später verstehen würde.

“Dies, nur dieses Eine, wäre das Glück!” hatte ich damals gefleht. Ich war so absolut sicher gewesen. Es war doch in diesen sehnsuchtsvollen Nächten so unzweifelhaft klar erschienen. Mein Herz hatte damals mehr als deutlich gesprochen. Nie hatte ich etwas stärker gefühlt. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich es je wieder anders würde empfinden können. Was war geschehen? Der Wunsch war erfüllt und brachte dennoch keine Erfüllung. Und als wäre diese Lektion nicht schon hart genug, schlug ich nun noch der Liebe, dem Grünauge und dem Universum dreist ins Gesicht und versündigte mich für alle Zeit. Was ich als nächstes tat, sollte mein Karma für tausend Leben negativ aufladen.

In meinem alten und nun nagelneu aufpoliertem Hochmut beschloss ich nun, den Spieß umzudrehen. Ich zog die Lanze aus Demütigung, die sie mir so oft in den Leib getrieben hatte, aus meinem Buckel und rammte sie in ihr nun gnadenlos in ihr wehrloses Herz. In ihr offenes, liebendes Herz, welches ich mit Hilfe der Götter erobert hatte. Der Teufel und das Ego müssen mich geritten haben. Als der maßlose Königssohn, der ich war, und selten war ich maßloser als in jenem Moment, nutzte ich die Situation nun knallhart aus. Ich zog die Augenbraue hoch und in meiner unermesslichen Güte und Gnade sagte ich: “Okay……Nun gut. Du kannst mich jeden Sonntag um exakt 14:00 Uhr besuchen, damit wir Sex haben können!”.

Dies war ein Sündenfall, aber ich bemerkte es kaum. Nun war ich der König und ich diktierte es ihr. Und sie saß da mit der Liebe im Herzen, die ich ihr aufgezwungen hatte, und akzeptierte. “Wenn das alles ist, was ich kriegen kann, nehme ich es!” sagte sie und gehorchte.

Damals habe ich es als gar nicht so schlimm angesehen. Ich verhielt mich einfach wie das einstmals verwöhnte Kind, das ich im Inneren immer noch war, als wäre das Leben ein einziger Spielzeugladen. Erst heute, als langsam alternder Mann, der zurückblickt und sein Leben in Zeilen fasst, sehe ich das Verwerfliche an der ganzen Sache. Was erlaubte ich mir da? Erst zwang ich sie unter Verpfändung meines Lebens und mit der Hilfe des Universums mich zu lieben, um sie dann als Sexdienerin antanzen zu lassen? Es ist übel, aber ich fürchte genau das tat ich. Aber keine Sorge! Ich würde später bitter dafür bezahlen müssen.

Viele Monate in Folge kam sie daraufhin sonntags stets pünktlich mit ihrem Hollandrad zu mir geradelt, stieg die Treppen zu meinem Dachzimmer empor, entkleidete sich und schlüpfte sexy und splitternackt zu mir ins Bett und stellte keine Fragen darüber wo ich mich rumgetrieben hatte. Sie beschenkte mich mit hohen Wogen freudiger Wonne. Sie fand nach unserem ersten Akt meistens noch einen Krümel Hasch irgendwo in den unerforschlichen Tiefen ihrer Handtasche. Wir rauchten ihn nackt und glücklich und wenn wir dann hungrig wurden, zog sie sich an und besorgte uns Pizza und Salat von dem kleinen Italiener auf der Viktoriastraße. Ich lag wie der König von Universien im Bett auf dem Rücken, alle Viere von mir gestreckt und ließ mich bedienen. Zu guter Letzt blies sie mir einen nach allen Regeln der Kunst, als königlich-himmlischen Nachtisch sozusagen, als unerhörtes Highlight des Daseins. Es kann gut sein, dass ich an diesen Sonntagen zu den glücklichsten Jungen zählte, die jemals das Vergnügen hatten, auf diesem Erdenrund zu schreiten. Wie immer beobachtete ich sie genau dabei, wie sie ihren edlen, delikaten Mund dafür hergab. Im Hintergrund das sündige Schaukeln ihrer Brüste. Was für eine Zelebration, was für ein Service! Mir wollte auf Erden kein höherer Genuss einfallen. Und es fällt mir bis heute tatsächlich nicht viel ein, was ich mehr genoss als eben genau dies. Sie sprach und aß mit ihrem wunderschönen Mund, der durchaus edel und schön war, und nun tat sie dies damit. Was war das doch für eine hohe Ehre und gleichzeitig sah es so unverschämt sündig und verboten aus. Wenn ich sie mich auf diese Art in schwindelerregende Höhen entführt hatte und ich zuckersüß im Himmelreich explodierte und ejakulierte, nahm sie das Sperma zwar in den Mund auf, schluckte es aber selten. Sie hatte eine feine Art, es danach in ein Taschentuch zu geben. Das machte sie wirklich formvollendet und mit aristokratischer Miene.

Fast elegant faltete sie das Tuch dann zusammen und gab mitunter einen Kommentar über den Geschmack ab: “Hm, gar nicht so übel heute, hast Du Ananas gegessen?!”

Ich lag selig und bewunderte ihre Schönheit, während sie sich aufrichtete und den Rücken nach hinten durchdrückte, was ihre majestätischen Brüste zu voller Geltung brachte. Sie war solch ein Klasseweib! Eine Sexgöttin. Ein wahres Geschenk des Himmels. Danach ging sie und ich konnte erleichtert und glücklich einschlafen. Diese Sonntage mit dem Grünauge waren im wahrsten Sinne unverschämt gute Tage. Das Universum grollte jedoch. Da braute sich weit entfernt im Zentrum der Galaxien Unheil zusammen. Und es ist keine gute Idee, sich mit dem Universum anzulegen.

In der neuen Schule gab es statt dem Grünauge nun das große Auge der Kleopatra. Ich weiß gar nicht, wie ich letztlich dazu kam, aber nach vielen Zettelchen, die wir im Unterricht hin und her geschickt hatten, nach vielen gemeinsamen Pausen in der Raucherecke, bei denen wir gelacht und ich immer wieder in den fremden Kosmos ihrer Augen eingetaucht war, geschah das Unglaubliche. Irgendwie hatten wir uns zu einem nachmittäglichen Besuch bei ihr verabredet. Das war ein ungeheures Ding für mich, denn wie gesagt, war das Traumauge der Kleopatra zwar wunderschön, aber es war ein Stern aus einer anderen Galaxie, viel zu fern, um jemals erreicht zu werden. Obwohl das Ganze kein Date war, sondern vielmehr eine harmlose Verabredung zweier Schulkameraden, war ich natürlich aufgeregt, denn ich schwärmte schon ziemlich für dieses ungewöhnliche, hübsche Mädchen mit den großen Augen und wie ich ahnte mindestens ebenso tollen Busen. Ich wollte ihr zeigen, wer ich war, also packte ich eine Schallplatte, die gut fand und unser Familienalbum mit meinen ganzen Kindheitsfotos in einen Rucksack und fuhr mit dem Fahrrad zu ihr. Sie hatte mir den Weg gut erklärt und so fand ich das Einfamilienhaus in der ruhigen Wohngegend sofort. Ich weiß noch, wie schüchtern und aufgeregt ich auf den Klingelknopf drückte. Kleopatra öffnete die Türe mit ihrem üblichen, coolen Blick. Ihre glänzenden Augendeckel waren halb herabgelasssen, bis an den Rand ihrer Iris und es wirkte unglaublich souverän und lässig. Irgendwie fand ich, dass sie aussah, als wüsste sie schon lange jedes Geheimnis dieser Welt und als koste es sie sehr viel Geduld mit dem Rest der unwissenden Menschheit umzugehen, der blind umherrannte und noch nach den Antworten suchte. Antworten, die das allsehende Auge der Kleopatra schon seit Anbeginn der Zeit gesehen hatte. Aber ihr kurzes Lächeln hob diesen Eindruck gleich wieder auf die wundervollste Weise auf. Sie führte mich in den Keller, wo sie ein großzügiges Reich bewohnte. Wir spielten uns gegenseitig ein paar Lieblingslieder vor und sahen uns Kinderfotos an. Besonders die Musikauswahl verdeutlichte unsere Unterschiede. Sie hörte am liebsten Cure und New Model Army und ich hatte aus unerfindlichen Gründen eine alte LP von “Markus” mitgebracht, einem Sänger der “Neuen deutschen Welle”, die lange vergessen, nicht up to date und einigermaßen peinlich war. Aber mir bedeuten ein paar Songs von diesem Album etwas und da hatte ich es einfach eingepackt.

Obwohl da auf der formellen Schiene anscheinend nicht viel zusammenzupassen schien, war da doch eine angenehme Stimmung zwischen uns, eine Sympathie, die vollkommen unabhängig von allem Äußerlichen war. Und dann ergab sich auf einmal ein Moment, mit dem ich wirklich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte. Mitten in unserem Geplapper hielten ihre großen Augen meinen Blick auf einmal fest und der ganze Raum begann sich ganz leicht um das Zentrum ihrer Pupille zu drehen. Schlagartig riss unser Gespräch ab. Nun sprachen nur noch die Augen. Ihr Gesicht mit diesem träumerischen, hypnotischen Blick schien heran zu schweben und mir näher zu kommen. Und tatsächlich: Sie war im Begriff, mich, den blassen, segelohrigen Niemand, zu küssen! Das war wirklich unvorhergesehen. Es konnte eigentlich gar nicht wahr sein. Unwirklich wie in einem Traum berührten meine Lippen einen Mund, den ich nie zu hoffen gewagt hätte, jemals küssen zu dürfen.

Der Raum drehte sich und dieser Kuss war für mich so süß wie verbotene Trauben. Irgendwie mochte die mich, obwohl ich eigentlich nicht in Frage kam. Noch in diesem Moment, während unsere Lippen und Zungen sich berührten, wusste ich, dass ich diese Knutscherei nur einem unverschämten Glücksfall zu verdanken hatte, dass es ein gestohlener, heimlicher Moment jenseits der Normalität war, der kaum Aussicht auf Fortsetzung hatte. Kleopatra war einige Nummern zu groß für mich, sie war die Herrscherin über die goldenen Pyramiden und ich war nur ein minderjähriger Sklave aus dem Steinbruch. Ich verdankte diesen Segen einer günstigen Laune. Das wusste ich. Aber der Kuss dieser Wüstenkönigin mit dem allwissenden Blick entflammte mich natürlich und spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich wirklich etwas verliebt in sie.

Bevor ich an diesem Abend schließlich wieder mit dem Rad nach Hause fuhr, beobachtete ich sie noch dabei, wie sie sich vor dem Spiegel für die Disco in der “Kufa” zurechtmachte. Sie würde noch ausgehen. Mein lieber Gevatter! So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Sie stülpte sich eine weiße Perücke über, die sie zuvor mit dem Kreppeisen bearbeitet hatte, umrandete ihre ausdrucksstarken Augen mit dicken, schwarzen Kajal, schwang sich ein weites, schwarzes Cape um und entschwand auf diese Art gewandet in die Nacht, wie eine Fledermaus mit Mozartfrisur. Ich sah ihr nach, wie sie auf dem Fahrrad im Mondlicht mit wehendem Umhang wegflatterte, wie eine bizarre Figur aus einem Comicheft. Ich blieb staunend zurück. Dieses Mädel lebte in einer komplett anderen Welt als ich. Benommen stand ich da. “Aber wow! Die hat mich tatsächlich geküsst!“ erinnerte ich mich freudestrahlend. Als ich schließlich auf meinem Rad den Heimweg ins Dunkel der Nacht antrat, tauchte ihr hypnotischer Schlafzimmerblick wieder vor meinem inneren Auge auf. Das allsehende Auge der Kleopatra sah mich an.

Die amerikanische Sängerin Madonna war in diesen Jahren sehr erfolgreich. Sie war durch zahlreiche Hits in den Charts zu einem wahren Superstar herangewachsen und stand bald in einer Reihe mit den größten Stars wie Prince und Michael Jackson. Regelmäßig erschienen neue Videos von ihr, in denen sie tanzte und sang. Auf ihre Art dominierte sie diese Zeit und somit verfolgte ich ihre Karriere ohne ein besonderer Fan zu sein, schon fast zwangsläufig, weil sie einfach allgegenwärtig war. Diese Frau war damals omnipräsent und unumgänglich. Auf allen Kanälen, die ich auf meinem kleinen, silbernen Fernseher in meinem Dachkämmerchen einschaltete, kam sie mir entgegen. Aber es war schon okay. Wirklich schlecht war ihre Musik nicht. Ebenfalls in dieser Zeit tauchte ein unverschämt hübscher, junger Mann in einem sehr originellen Werbespot für Levi’s Jeans auf, der für Aufsehen sorgte. Der braungebrannte Jüngling mit der schwarzglänzenden Haartolle zog sich in einem Waschsalon bis auf die Unterhose aus, schmiss seine Jeans in die Trommel und setzte sich dann ganz cool, in Unterhosen, zeitungslesend und halbnackt zwischen die anderen wartenden Leute hin, um auf seine saubere Hose zu warten. Dieser Junge sah atemberaubend gut aus. Madonna fand das wohl auch. Aus den englischen Kommentaren der VJs auf den Musiksendern verstand ich, dass sie wohl ein Lied für ihn geschrieben und produziert hatte. Es hieß: “ Each time you break my heart“ und bald darauf konnte man also diesen schönen Jungen aus dem Werbespot in seinem ersten eigenen Musikvideo bewundern. Er sang mit relativ dünner Stimme, aber der Song war gut und so wurde das ganze Ding mit Madonnas Hilfe ein Hit, natürlich auch Dank dieses für einen Mann fast zu schönen Gesichts und eines Augenaufschlags, wie er sonst nur sündhaft schönen Frauen gelang. Ich sah seine zurückgegelte, hohe Tolle, seine braune Haut, seine Art zu tanzen und da hatte er es mir angetan! Ich wollte auch so sein. So schön, so braun, so unwiderstehlich! Leider ergab meine kritische Kontrolle im Badezimmerspiegel, dass ich überhaupt nicht so aussah. Also ging ich kurzerhand zum Drogeriemarkt und besorgte mir Selbstbräuner und blauschwarze Haarfarbe um der Sache näherzukommen.

Am nächsten Tag stand ich mit orangegelbem, fleckigem Gesicht und Händen und pechschwarz gefärbtem Haupthaar in der Raucherecke auf dem Schulhof. Wie sich herausgestellt hatte, war der fachgerechte Umgang mit Selbstbräuner gar nicht so einfach und auch mit der Haarfarbe hatte ich nicht so recht aufgepasst und so mischten sich die gelben, orangen und bräunlichen Flecken noch mit schwarzen Stellen an Stirn, Ohren und Fingern. Außerdem hatte ich nur im Gesicht und an den Händen den Selbstbräuner aufgetragen und auf diese Weise standen diese Körperpartien in einem orangen und krassen Gegensatz zum Rest meines zarten Körpers, der noch in königlicher Blässe leuchtete. Man musste meine Verschönerungsbemühungen wohl als gescheitert ansehen. Auf diese Weise war ich dem guten Aussehen von Nick Kamen nicht wirklich näher gekommen. Ganz im Gegenteil. Es war peinlich. Das Großauge der Kleopatra kicherte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Wenn ich mich so daran entsinne, wie ich dort als verunglückte, schwarzgelbe Tigerente in der Ecke des Pausenhofes stand, dann ist es eigentlich noch viel unerklärlicher als ohnehin schon, dass es nur wenige Tage später dazu kam, dass Kleopatra und ich im betrunkenen Kopf bei meinem athletischen Partykumpel Thor zuhause auf dem Sofa landeten.

Scheinbar ganz ohne die Hilfe der Götter oder des Universums waren wir im Laufe unserer Wochenendaktivitäten in diese Situation geraten. Mit ein paar versprengten Leuten, die wir von Partys eingesammelt hatten, saßen wir irgendwann etwas benebelt von Hasch und Alkohol in Thors Zimmer rum und gegen alle Wahrscheinlichkeit war ich ein zweites Mal damit beschäftigt, die verträumte Herrscherin Ägyptens in meinen Armen zu halten und sie zu küssen. Irgendwann gingen die anderen Besucher und selbst Thor zog sich höflich und augenzwinkernd zurück und überließ uns sein Zimmer bereitwillig. So kam es, dass wir schließlich ungestört waren. Nun waren wir im Dunkeln allein. Ich konnte das alles gar nicht glauben. Nur der fahle Abglanz des Mondlichtes lag über Allem und schimmerte leise vom Weiß ihrer Augen wieder. Es war ein unwirklicher und traumgleicher Moment.

In diesem Licht sahen diese Augen noch viel mystischer aus als ohnehin schon. Unsere Küsse waren süß und wie gestohlen aus einer fernen Welt. Mein Herz wummerte aufgeregt und ich konnte mein Glück nicht fassen, als sie im silbernen Halbdunkel schließlich sogar ihr Höschen abstreifte, denn dies bedeutete wohl, dass ich in die Königskammer der Pyramiden eingeladen war.

Wieviel Glück kann man haben? Zuckersüß, feucht und weich empfing sie mich, während ich in der Weite ihres Schlafzimmerbicks verloren ging und ich konnte kaum glauben, dass dies wirklich geschah. Meine Hände umfingen die satten Halbkugeln ihres Busens. Wie, in aller Welt, war das zu erklären? Das Mondlicht umzeichnete sanft unsere Silhouetten und ich glitt, wie auf Samt in den goldenen Palast der Wüstenkönigin. Ich war Ali Baba und Sesam hatte sich geöffnet. Das römische Reich fiel in Ägypten ein.

Ich fand, dass das Leben für einen so jungen Bengel wie mich in diesen Tagen gar nicht besser hätte laufen können. Immer wieder sonntags kam Grünauge und verwöhnte mich und dann genoss ich ja auch noch die Aufmerksamkeit meiner reizenden Klassenkameradinnen. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie der Reihe nach zu besuchen. Ich strampelte sie sogar an einem einzelnen Nachmittag alle mit dem Fahrrad ab, nur um zu schauen, wie sich das anfühlte. Es war fast wie ein Experiment. Ich klingelte an den Haustüren und jedes Mal wiederholte sich daraufhin eine ähnliche Szene. Grinsende Köpfe mit wechselnden Haarfarben öffneten die Türen und ich folgte ihnen durch fremde Wohnungen in ein Zimmer und dort wurde dann ein bisschen auf dem Bett rumgeknutscht. Nichts weiter. Ich konnte mich ein bisschen begehrt fühlen. Es waren süße, kleine Schwärmereien. Wir spielten eine kleine Komödie.

Andernorts konnte es da schon derber abgehen! Manche Partys wurden regelrecht wild. Gelegentlich gab es diese besonderen Garten- und Geburtstagsparties, die geradezu entgleisten, auf denen sich wirklich alle sinnlos betranken und dann wurde dort, wie auf Kommando, wild rumgemacht. Thor klapperte mit mir nachwievor alle Events ab. Und manchmal landete man dabei eben auf dieser Art Party. Wenn irgendwo ein Riesenhaufen Fahrräder vor einem Haus stand, dann war man schon irgendwie richtig. Das war einfach ein interessantes Alter. Alle waren in ihrer Findungsphase und probierten sich aus. Kaum einer, auch die Mädchen nicht, suchen direkt den Partner für’s Leben. Da reichte es auch schon mal, sich für den Abend oder auch nur für 20 Minuten nahezukommen. So gab es, ab und an, eben diese legendären Ausnahmepartys, wo diese völligen Enthemmungen stattfanden, auf denen die Teenagerlust zu einer Art Lauffeuer wurde und alles irgendwann in so einer Art “Orgienmodus” gipfelte und schließlich jeder mit jedem fummelte. Es war bei diesen Gelegenheiten durchaus üblich, dass die Knutsch- und Fummelpartner vielfach wechselten. Es war als brächen Dämme. Wir reden von betrunkenen Teenagern, die in einer Art Kettenreaktion ihre Hemmungen verlieren. Es war die Zeit der Teenagerfummelorgien, der ersten Besäufnisse, der ersten Joints… Es war ziemlich wild. Das kennt doch jeder, oder nicht? Ich hielt Thor mitten in dem lebendigen Treiben im Vorbeigehen meinen Mittelfinger unter die Nase:”Rate mal!” Er schnüffelte daran und sagte ein paar Namen, aber er lag jedes Mal daneben. Wir lachten uns kaputt.

Neidisch sah ich an einem Spätsommerabend, vom Sattel meines Hollandrades, den Rücklichtern des Wagens nach, der mich eben auf der Grenzstraße in Richtung Stadtwald überholt hatte. Am Horizont flammten die Bremslichter unter einem sich langsam rosa färbenden Himmel auf. Da hinten, irgendwo am Rande des Stadtwalds, war die erste Party dieses Wochenendes. Jetzt waren die ersten Autos zum Fuhrpark der Partymeute hinzugekommen.

In keiner Lebensphase wogen die Jahre des Altersunterschiedes schwerer. Zwischen 17 und 19 lagen Welten. Die ein, zwei oder drei Jahre Älteren schienen Lichtjahre voraus. Die waren sowas von cool. Ich meine, ein Auto zu fahren, wie übermäßig stark war das denn bitte? Die ersten Leute betraten somit schon sichtbar die Welt der Erwachsenen. Wer einen Autoführerschein hatte und ein Auto, war in meinen noch nicht ganz volljährigen Augen ein Übermensch und Coolheitsgott! Ich strampelte schwitzend mit meinem Hollandrad hinterher, auf dem Weg zu der Gartenparty, die einer meiner ehemaligen “Gymnasiumsfreunde” im Wohlstandsgürtel um den Stadtwald herum gab. Die laue Luft dieses Sommerabends roch nach dem Parfüm, dass die Sträucher, Hecken und Bäume verbreiteten. Jung und mit einem Herzen voller unerfüllter Lebenslust trat ich in die Pedale. Die Party war irgendwo in einem der edlen Viertel, die rund um den Stadtwald lagen. Hier standen die großen, schönen Häuser und Villen der wohlhabenden Menschen unserer Stadt. Und nun sah ich die ersten Jungs mit ihren Cabrios an mir vorbeibrausen. Ich sah ihnen mit sehnsuchtsvollem Gefühlen nach, sah wie sie in Richtung Stadtwald verschwanden.

Wenig später, im lila-rosanen Farbenspiel der Dämmerung, als ich endlich bei der gesuchten Adresse ankam, sah ich die Wagen und Mopeds in einer langsam rollenden Prozession an einem Gartentor vorbeirollen. Das war unverkennbar der Eingang zur Party. Eine Traube aus ausgelassenen Jungs und Mädels stand johlend davor. Es war ein einziges großes Hallo. Ich machte mein Fahrrad mit dem Nummernschloss an einer Laterne fest. Wie in einem Highschoolfilm rollten die Champions und coolen Kids in chromglänzenden Automobilen an mir vorbei. Der kupferrote Schimmer der Abendsonne spiegelte sich dabei unwiderstehlich im Lack der Karosserien wider.

Dann sprangen die Türen auf und die lachenden Sonnyboys entstiegen, frisch gestylt, den prachtvollen Wagen und schwer schlugen die Autotüren hinter ihnen ins Schloss. Breitschultrig und lachend stiefelten sie der Musik und dem Gartentor entgegen: Es waren dies die jungen Helden der Nacht. Ich sah es fast in Zeitlupe ablaufen, wie in einem Kinofilm, in einem Werbespot.

Mit roten Ohren und blassem Gesicht stand ich später im Dunkel der dritten Reihe und beobachtete die wirklich coolen Jungs, wie sie den Mittelpunkt der Party bildeten. Ich sah, wie die Mädchen sie mit ihren Augen anglitzerten, wie die Jungs sie bewunderten und wie jedermann versuchte ein wenig Aufmerksamkeit von ihnen zu erheischen. Es hatte einen gewissen Zauber. Diese Typen hatten die Aura des Interessanten, der Schönheit und der jugendlichen Souveränität. Irgendwas in mir wollte auch so sein. Ich war beeindruckt. Sie waren strahlend, selbstbewusst und laut, sie hatten Schneid und ihnen schien die Welt zu gehören.

Ich hingegen wurde kaum gesehen. Ich konnte wirklich froh sein, dass ich hier überhaupt geduldet wurde und gerade noch Einlass bekommen hatte. Ohne Thor wäre ich wahrscheinlich draußen geblieben, aber wie immer war ich in seinem Windschatten irgendwie mit reingehuscht. “Er ist mit mir hier!” sagte Thor nur und ihm schlugen die Jungs am Einlass selten etwas ab. Die hochgezüchteten, schönen Wohlstandstöchter mit ihren excellent geschminkten Gesichtern würdigten mich keines Blickes. Ich hatte nichts zu bieten, keinen Namen, keine Herkunft, keinen Schneid. So blieb mir nur, dies pralle Leben als unsichtbarer Niemand zu beobachten. Und das tat ich. Ziemlich neidisch und eifersüchtig, aber auch fast atemlos vor Bewunderung. Ich saugte diesen Sommerabend mit all seiner Energie, den Stimmen, dem Gläserklingen, dem Lachen und der Musik ein. Thor hingegen war mittendrin. Er ließ seinerseits gekonnt die Puppen tanzen. Er kannte ja jeden, auch die Älteren, und so war er auf seine selbstbewusste Art überall dabei. Er gröhlte, lachte, prostete und tanzte mitten im Treiben. Irgendetwas in mir wollte auch so sein, aber ich war gefangen in meiner Schüchternheit und Unsicherheit und hatte weder den Mumm, noch das Geld, noch das Aussehen, um da irgendwie ranzukommen.

In diesen Jahren war es unter anderem Mode geworden, Baseball zu spielen. Und so entstanden auch in Krefeld ein paar rivalisierende Clubs. “Bobbins” und “Crocodiles” und wie sie alle hießen. Die Leitkultur war damals noch eindeutig amerikanisch. Hollywood hatte uns fest im Griff. Einige waren als Austauschstudenten in den Staaten gewesen und sie hatten diesen Teil des Lifestyles mitgebracht. Also hingen irgendwann deutlich sichtbar, überall diese “All american Guys” auf den Parties in ihren Baseballjacken und Caps rum, verbanden sich zu gröhlenden Trauben und bestimmten das Geschehen deutlich mit.

„Seht diesen Lustsklaven! Nur Muskeln und Samenstränge!“ rief einer von Ihnen nun. Es war ein schwarzgelockter junger Mann, der nun spontan einen seiner Buddies zur Versteigerung anbot. Er riss den muskulösen Arm seines blonden Kumpels in die Höhe wie ein Ringrichter nach einem Boxkampf. „Höre ich ein Gebot?“ Zuerst quiekten und kicherten die angesprochenen Mädchen nur, aber dann traute sich eine und rief: “Zwanzig Mark!” und alles lachte und gröhlte. “Was? Das soll ja wohl ein Witz sein!” reagierte der junge Mann mit den schwarzen Locken. “Der kann’s die ganze Nacht! Das ist eine einmalige Gelegenheit! Also bitte! Was höre ich?” Alles lachte und feixte und die zugerufenen Summen aus Frauenmündern wurden langsam höher. Da lief vor meinen Augen ein Leben ab, das prall und lebendig war, das mich anzog und faszinierte, dessen ich aber kein Teil war. Ich war unsichtbar in dieser Welt, spielte keine Rolle darin. Ich sah nur zu. Der schwarzlockige Typ lief nun zur Höchstform auf und schrie ins Publikum:“Das darf ja noch nicht alles sein! Seht doch die guten Zähne!“ Und so nahm diese improvisierte Szene einen köstlichen Verlauf, an dessen Ende eine glücklich lachende, bezaubernd hübsche Dame schließlich den Zuschlag erhielt. Das handelseinige Paar schritt dann unter grandiosem Beifall aus dem Gartentor in Richtung der dunklen Baumsilhouetten des Waldeswaldes hinaus.

Unbemerkt verließ auch ich wenig später die Party, weil ich zu einer bestimmten Uhrzeit zuhause sein musste. Ungesehen schloss ich mein Fahrrad auf, zerrte es aus dem Haufen der anderen Räder hinaus und radelte allein ins Dunkel der Nacht. Mein Weg war einzig beleuchtet durch das flackernde, dynamobetriebene Licht meines quietschenden Hollandrades.

So wandte ich mich, des Nachts in meinem Kämmerlein liegend,mit pochendem Herzchen erneut an Gott und das Universum. Was ich nun wollte, war aber kein Mädchen und keine Liebe. Nein, nun wollte ich so cool und schön und toll sein, wie mir eben diese jungen Helden und Idole erschienen waren, die ich auf den Partys beobachtet hatte. Ich wollte auch im Mittelpunkt der Party sein. Ich wollte ins Zentrum, ins Spotlight. Alles in mir wollte eine solche Unwiderstehlichkeit, solche Schönheit und Wirkung. Ich wollte auch Eindruck schinden. Ich wollte nicht mehr übersehen werden und immer wieder nur erleben, dass ich nicht konkurrenzfähig war. Das Ego erwachte zu seiner vollen Gier. Mir stand der Sinn nun nach Geltung! „Mach mich schön, Gott!“ hieß der Auftrag an das Universum. “Lass mich gut aussehen und unwiderstehlich sein, lass mich das lachende, genießende Zentrum des Lebens sein!”. Ich vermutete das Glück darin. Und mit meiner pickeligen Haut, der schwächlichen Blässe, der breiten Nase, die ich von meinem Vater geerbt hatte, der hohen Stirn und den Segelohren, sah ich wirklich nicht so aus, als wäre das irgendwie möglich.

Zudem hatte ich keinen einzigen Muskel am ganzen Körper. Ich hätte mir die Füße in der Flasche waschen können und meine Rippen und Gelenke stachen hart aus der bleichen Haut heraus. Da waren eigentlich keine Schultern. Die dünnen Spinnenarme wuchsen scheinbar direkt aus dem Hals. Zu dieser kritischen Selbstbeschau kam ich jedenfalls, nachdem ich eines Nachts in meinem Dachkämmerlein zum ersten Mal „Rocky“ mit Sylvester Stallone gesehen hatte. In einer Szene stand er, nur mit einem fleckigem Unterhemd bekleidet, im Türrahmen seiner einfachen Behausung und stützte sich am oberen Türbalken ab. Zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt fiel meine Aufmerksamkeit auf das Thema der männlichen Muskulatur. Ich staunte, wie beeindruckend seine Rückenmuskeln seitlich hervortraten. Augenblicklich verstand ich, wie sexy und attraktiv das aussah und wirkte. Im Finale des Filmes, dem entscheidenden Kampf, sah ich nur noch seinen Körper. Ich war beeindruckt! Der vom Schweiß überzogene, muskelbepackte Oberkörper glänzte im Licht der Scheinwerfer, wenn Rocky durch den Ring tanzte.

Nach dem Film stellte ich mich in Unterhosen vor den Spiegel und begann zu weinen, weil das, was ich erblickte, absolut jämmerlich war. Ein Strichmännchen!

Also flehte und bettelte ich Gott wiederum mit meinen Herzenswünschen an. Diesmal wollte ich alles. Ich wollte Schönheit, Coolheit, Aufmerksamkeit. Ich wollte wie Rocky, wie Elvis, wie George Michael und Nick Kamen, wie die coolen Baseballjungs sein. So senkte ich mein fettiges Teenagergesicht über die gefalteten Hände, kniete im Mondlicht und bat Gott mich cool zu machen. Diesmal wusste ich ganz genau, was ich wollte.

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