Bellum Gallicum

So und so ähnlich vergingen also die ersten Jahre in Freud und Leid auf dem Gymnasium und währenddessen schritten die Achtziger Jahre langsam voran. Neuerdings hörte ich mit absoluter Begeisterung eine Band namens “Frankie goes to Hollywood”. Ihr erster Hit: “Relax” war eingeschlagen wie eine Bombe und gleich darauf hatte ich sie schon zu meiner absoluten Lieblingsband erkoren. In ihrem zweiten Song, der unlängst erschienen war, besangen sie die Schrecken des kalten Krieges, der in jenen Zeiten wie ein Damoklesschwert über den Häuptern der Menschheit hing. Das Lied hieß „Two Tribes“. Das war das Beste, was ich bis dahin gehört hatte. Ich war vollkommen begeistert von diesem Sound. Die langen Versionen des Songs, die auf verschiedenen Maxi-Singles zu finden waren, dröhnten in Dauerschleife in meinem Raum unter den Dachschrägen.

Wenn es einen Soundtrack zu meiner Pubertät gibt, dann ist es diese Musik. Am Anfang heulte eine schwere Sirene. Ein Geräusch, das den Krieg, den Bombenangriff, verhieß. In dieses blecherne Geheule sprach die Stimme eines englischen Nachrichtensprechers: „The air attack warning sounds like….This is the sound. When you hear the air attack warning, you and your family must take cover“ Ich tanzte beseelt dazu durch mein Zimmer, denn diese Musik war neu und gigantisch gut gemacht.

„Are we living in a world, where sex and horror are new gods?“ sang Holly Johnson und darunter trieb der quirlige Bass und darüber heulten die Orgelsounds… Schwebende Synthesizerflächen trugen mich in die Höhe und die heftigen Schläge des Orchesters klangen wie Fontänen, wie hoch hinaufspritzende Gischt. Nie hatte ich zuvor so gut produzierte Musik gehört. “Two Tribes” war ein gigantisch intensives Erlebnis. Mein junges Herz pulsierte in meiner Brust vor Begeisterung.

Das Thema in sich war natürlich weniger erfreulich. Die Welt war vor allem in Westen und Osten unterteilt. Zwei waffenstarrende Militärbündnisse drohten sich gegenseitig mit zigfachem Overkill. Die gesammelte Sprengkraft aller Atomraketen hätte ausgereicht, um die gesamte Menschheit gleich mehrfach zu vernichten. Man lebte in diesen Jahren mit der relativen Gewissheit, dass ein Tastendruck das Ende der Welt bedeuten konnte. “Singing: This’ll be the day that i die! Yeaaaahhhhhh!” Es war gut mit Frankie diese Sorgen und sämtliche sonstigen Betrübnisse einfach wegzutanzen. Diese Musik erhob mich in glücklichere Sphären.

Im Fernsehen sah ich die zumeist recht schrecklichen Nachrichten aus aller Welt. In meinem jungen Teenagerbewusstein keimte erstmalig der Eindruck, dass die Welt zumindest kein uneingeschränkt guter Ort war. Menschen taten anscheinend unausgesetzt schreckliche Dinge. Ich erfuhr über Kriege, Unterdrückung, Gewalt und Umweltzerstörung.

Es wurde mir erstmalig klar, dass wir Menschen auch eine katastrophale, schreckliche Seite hatten. Das zu entdecken, war kein gutes Gefühl, aber auch diese Erkenntnis gehörte wohl zu dem komplexen und langwierigen Prozess des Erwachsenwerdens.

Schulisch lief es nicht unbedingt rund. Ich war, wenn überhaupt, dann nur in den mündlichen Leistungen gut, weil ich gut reden und schnell begreifen konnte. An “häuslichem Fleiß” mangelte es jedoch, wie mir stets attestiert wurde. Fleiß war mir ohnehin fremd. Hausaufgaben habe ich relativ selten ausgeführt. Mich auch noch zuhause mit schulischen Inhalten befassen zu sollen, war einfach zu viel des Guten. Ich improvisierte. Einmal erfand ich einen Aufsatz aus dem Stand und tat so, als lese ich ihn aus dem Heft ab. Es fiel erst auf, als die Lehrerin mich bat eine Passage zu wiederholen, da hatte sie den Braten dann wohl doch gerochen. “Netter Versuch, Sven!” sagte Frau Meckers kopfschüttelnd und machte eine bestimmt eher ungünstige Eintragung in ihr rotes Büchlein.

Im Lateinischen wirkte sich meine fehlende Disziplin allerdings absolut fatal aus. Hier gab es nichts zu improvisieren und schönzureden, wer seine Lektionen nicht gepaukt hatte, war ganz schnell raus und abgehängt. Als sich erneut eine drohende Katastrophe am Notenhorizont abzeichnete, versuchten Mum und ich, das Ding noch zu retten.

Also saßen wir an so manchem Abend am Küchentisch. Mutti fragte mich ab. Für jede Lektion im Lateinbuch, gab es ein paar Seiten mit Vokabeln, die zu lernen waren. Besonders die unregelmäßigen Verben mussten sitzen. Also war man gezwungen, die Wortstämme mitzulernen. Wir wiederholten es, bis ich die Lektion fehlerfrei konnte, aber diese quälende Routine ließ sich einfach nicht Woche für Woche aufrechterhalten. Mal hatte ich Lust und dann wieder keine. Als ich schließlich gnadenlos sechs stand, versuchte meine Mutter es noch mit Nachhilfe, aber auch das war am Ende nicht von Erfolg gekrönt. Ein bemitleidenswerter Abiturient hatte gegen etwas Entgelt für ein paar Wochen das zweifelhafte Vergnügen, mit mir nachmittags über den Deklinationstabellen sitzen zu dürfen. Aber trotz all dieser Bemühungen zog der römische Feldzug am Ende ohne mich weiter. Ich konnte mich einfach nicht dafür begeistern. Latein war und blieb schlichtweg schrecklich. Diese Sprache war lange tot und ich kriegte sie nicht wiederbelebt. Statt der 120 Verbformen lernte ich zu kapitulieren. “Veni, vidi, perdidi.”

Meine lateinische Misere war sicherlich das folgerichtige Ergebnis meiner Faulheit, aber in kleinen Teilen auch die Schuld meines ersten Lateinlehrers, des verehrten Herrn Wemis. Als ich sein Schüler war, hatte er schon schlohweißes Haar und absolvierte die letzten Tage seiner langen Lehrerlaufbahn. Herr Wemis war ein recht gütig blickender Mensch mit einem durchaus angenehmen Wesen, dem man ansah, dass er in seiner Jugend ganz bestimmt einmal recht gut ausgesehen haben musste und selbst nun, im höheren Alter, war er mit seinen klar und scharf gezeichneten Gesichtszügen nicht unangenehm anzusehen. Herr Wemis war also rundherum ein netter Kerl, jedoch war er anderseits vor allem eines: Sichtlich amtsmüde.

Ich war beileibe nicht der Einzige, der keinen Bock auf Latein hatte. Alle hassten es mehr oder weniger. So fanden wir schnell heraus, dass sogar Herr Wemis selbst sich nur allzu gerne davon ablenken ließ. Er kam einfach in ein Alter, in dem man alles nicht mehr so eng sah. Immer öfter kam es vor, dass er aufgrund kleinster Anlässe abgelenkt war, dass er den Unterricht gedanklich verließ und in Erinnerungen an seine Kindheit abschweifte. So war es recht einfach, ihn von dem ungeliebten Lateinischen wegzubringen. Mit eiskalter Berechnung sprachen wir ihn in jeder Stunde entsprechend und gezielt darauf an.

„Herr Wemis, wie war das damals in der Hitlerjugend?“ rief einer dazwischen und dann blickte Herr Wemis aus dem Fenster in die Weite, legte das Buch zur Seite und begann mit in den Himmel gerichtetem Blick zu erzählen. Das klappte ziemlich oft, bis er mit den Wochen und Monaten dann doch merkte, dass unser Interesse weniger seinen immer gleichen Geschichten galt, sondern nur eher darauf gerichtet war den eigentlichen Unterricht vermeiden zu wollen. “Das habe ich Euch doch schon erzählt!” fiel ihm eines Tages bei der hundertsten Wiederholung des immer gleichen Ablaufs auf, aber da war es schon zu spät. Die ganze Klasse war im Lehrplan uneinholbar hinten. Und der liebenswerte Herr Wemis war einfach nicht mehr jung und stark genug, um das noch einmal zu richten. In seiner liebenswürdigen Sanftheit entglitt ihm das alles. Ich glaube, auch er hatte einfach genug von diesem unseligen Latein. Was genug war, war genug. Und so war dieser nette Kerl vor unser aller Augen in die erholsame Leichtigkeit seiner Senilität hineingesegelt, wie in leichten Nebel.

Und dann kam Herr Wemis nicht mehr. Dann kam ein anderer Lehrer. Und das war der meistgefürchteste Schleifer am ganzen Moltke. Seinen Namen traue ich mich nicht auszusprechen, aber ich wage es dennoch davon zu berichten, dass er den Klassenraum betrat, wie ein kampferfahrener Zenturio. Sein Blick war wie Eis und seine Stimme wie Stahl. Er war die Rache aus dem Lehrerzimmer, die Antwort auf unser schändliches Benehmen, weil wir die Gutmütigkeit des Herrn Wemis ausgenutzt hatten.

Im Lehrerzimmer musste sich die einsetzende Senilität des lieben Herrn Wemis wohl rumgesprochen haben und daraufhin hatte der Schuldirektor bestimmt entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ausgerufen:“Sapperlot! Die 7c ist lateinisch ja kaum noch zu retten! Desaströs dieser Zustand! Jetzt kann nur noch einer helfen!“ Und so hatte der Direktor als letzte Lösung diesen römischen Feldherrn zur Ehrenrettung des Gymnasiums am Moltkeplatz auf das Schlachtfeld der 7c entsandt.

Jetzt hatten wir den Salat. Dieser Zenturio kam, sah und siebte. Er musste jetzt jede Woche eine Lektion durchpauken, wenn er diese Schulklasse noch irgendwie retten wollte. Wenn er, wie der Direx ihn flehentlich gebeten hatte, „den Lehrplan im Namen der Bildung noch durchsetzen“ wollte, musste das Tempo nun radikal forciert werden. Und so marschierte er eisern voran. Unerbittlich zeterte seine harte Stimme von diesem Moment an die lateinischen Worte in den Klassenraum, von wo sie schallend und unerbittlich in unsere weichen Kinderohren drangen. Ich versuchte zunächst noch den erweiterten Ablativ zu begreifen und ihn in diesem Haufen von toten, kryptischen Worten irgendwo zu erkennen und wie gesagt, ein Abiturient traktierte mich nachmittags noch mit Deklinationstabellen, aber es war am Ende alles sinnlos. Die Worte tanzten vor meinen Augen und ergaben gänzlich auch nicht mehr nur den geringsten Sinn.

Meine Mitschüler marschierten ohne mich in den “bellum galicum”, den gallischen Krieg. Und während ich meine Ohren auf Durchzug stellte, weil ich ohnehin nichts mehr verstand, malte ich Karikaturen an den Rand meines Buches. Einmal erwischte mich der Zenturio dabei. Er schoss auf mich zu und entwand mir mit einer peitschenschnellen Bewegung, mein entstelltes, zerfleddertes, bekritzeltes Lateinbuch. Wutschnaubend blätterte er einige Sekunden darin herum. Eigentlich muss er bei dieser Gelegenheit die zahllosen Karikaturen seiner selbst darin erblickt haben, die ihn sandalen- und helmtragend abbildeten, wie eine Figur aus „Asterix und Obelix“. Ob er dies nun tat, ob er sich selbst als Witzfigur erkannte, oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls riss er das nur noch an dünnen Fäden zusammengehaltene Buch schließlich in die Luft und hielt es entsetzt und mahnend in den hohen Raum über seinem Haupt und dann ergoß er sich in einer wutentbrannten Rede darüber, was für eine unglaubliche Impertinenz der abscheuliche Anblick dieses Schulbuches sei. Sein bartstoppeliges Doppelkinn waberte dabei wie ein Pudding und sein Gesicht wandelte die Farbe, es wurde rot und röter, und die Schweißtropfen quollen aus seinen Schläfen und liefen seitlich durch den Backenbart an seinem Gesicht hinunter..

Auf dem Deckel, des sich nun in bebender Lehrerhand befindlichen Buches, prangte unter dem Titel „Ianua nova“ das Abbild einer antiken Büste. Ich denke, sie zeigte das Konterfei des Augustus. Allerdings hatte ich es gehörig „verschönt“. Ich hatte ihm Sonnenbrille, Zahnlücke und Ziegenbart verpasst. Diese Ungehörigkeit nun umherschwenkend, fuhr der Zenturio fort, dass das Buch nicht einmal mein Eigentum sei und ich mich mit dieser Respektlosigkeit der Sachbeschädigung schuldig gemacht habe und darüber hinaus sei mein ganzes Betragen derart, dass ich mich der ganzen gymnasialen Ausbildung als gänzlich unwürdig erweisen würde. Heute muss ich sagen, dass er da nicht ganz Unrecht hatte, aber damals sah ich das natürlich ganz und gar nicht ein. Ich grinste lediglich etwas verlegen ob seiner gar so echauffierten Rede.

Er donnerte mir den maroden Fladen wieder aufs Pult und der Buchdeckel verabschiedete sich nun gänzlich. Er flatterte mit einigen weiteren gelösten Blättern über die Pultkante hinaus. Alle auf diese Weise nun sichtbar werdenden Seiten waren mit Comicfiguren überschmiert. Tja. Da war ich mit meinem Latein wohl am Ende. So schien es. Ich denke, in diesem Moment war meine Versetzung endgültig gestorben. Verächtlich wandte der Zenturio sich von mir ab, schlug sich seinen Umhang über die Schulter, rückte seinen goldenen Helm zurecht und fuhr auf seinem Streitwagen mit sandalenbewährten Füßen im Unterricht fort in Richtung Gallien.

Zu meiner Ehrenrettung ist nicht viel zu sagen, obgleich anzumerken ist, dass ich nicht in allen Fächern auf die gleiche, tragische Art und Weise versagte. Ausgerechnet im Deutschen erzielte ich den einen oder anderen Achtungserfolg. Unsere überaus gestrenge Deutschlehrerin Frau Meckers, die zumindest gemäß meiner Erinnerung nach, stets stocksteif dastehend und in Spitzenblusen mit Stehkragen zu dozieren geruhte, sah anscheinend milder auf mich. Dies ist umso seltsamer, da sie tatsächlich in ihrem sämtlichen Gebaren kurz vor oder nach der Jahrhundertwende stehengeblieben zu sein schien. Sie war quasi das Zweitschlimmste, neben dem Zenturio, was das Lehrerzimmer an Schreckgestalten gegen die Schülerschaft hervorzubringen wusste. Auch sie war gefürchtet und recht unbeliebt, weil sie ausnahmslos ernsthaft und jederzeit vollkommen humorlos zu sein pflegte. Darüber hinaus verkörperte sie eine geradezu unbarmherzig zu nennende Härte. Sie wurde deswegen von der Schülerschaft ungeliebt und schroff intern nur „die Holztitte“ genannt.
Es kursierte tatsächlich das bösartige Gerücht, sie trüge eine hölzerne Brustprothese. Man ahnte zwar, dass diese üble Nachrede der reinen Gehässigkeit geschuldet sei und einem gar bösartigen Schülergeist, wahrscheinlich aus Groll über gänzlich unerfreuliche Deutschstunden oder schlechter, ungerechter Zeugnisnoten wegen, entsprungen sein musste, aber ganz sicher war man sich in unserem Alter auch wieder nicht. Was wusste man schon? Treffend war es allemal, weil es ihrer Härte und Steifigkeit den besten Ausdruck verlieh. An ihr war einfach nichts Weiches und deswegen stimmte das Bild.

Ihr fehlte zur perfekten Karikatur der Sittlichkeitsdame nur noch das Monokel. Sie war ein klares Feindbild für die meisten Schüler. Ihre Humorlosigkeit war auf grausam beeindruckende Weise vollkommen. Frau Meckers Körperspannung war stets maximal. Stocksteif ging sie umher, als besäße sie gar keine Wirbel, die ihrem Rückgrat Flexibilität ermöglicht hätten. Ausgerechnet Frau Meckers, die selbst bei den bravsten Strebermädchen ein derartiges Grausen hervorrief, dass sich sogar auf den Häuptern dieser besten Töchter, zu beiden Seiten des Mittelscheitels gleichermaßen, die Haare zu Berge stellten, legte eines Tages hinter mir stehend, die Arme ihres versteiften Lehrkörpers auf meine Schultern und verlautbarte: „Ihr könntet Euch ruhig alle eine Scheibe von Svens Wortschatz abschneiden!“ Und was noch unheimlicher war: Aus ihren sonst kalten Adleraugen sprühte echte Anerkennung und Wohlmeinen dabei. Fast hätte man glauben können, ihre Lippen würden für einen flüchtigen Augenblick von einer Regung umspielt. War es gar ein angedachtes Lächeln? Man hätte es fast annehmen mögen, wenn es nicht schlichtweg undenkbar gewesen wäre, denn in ihrer Physiognomie war einfach kein freundlicher Ausdruck vorgesehen. Konnte es dennoch sein? Diese ganze Szene war ein unerhörter Vorgang, der seinesgleichen suchte. Sollte gar ein schlagendes, menschliches Herz unter ihrer hölzernen Brust pochen? Die ganze Klasse blieb stumm vor Schock und es folgten ein paar Sekunden konsternierter Stille. Niemand wusste es zu deuten.

Das war zwar unerwartet nett von ihr, aber es diente auch nicht unbedingt zur Steigerung meines Renommees. Ausgerechnet die Holztitte adelte mich, ja sie hatte mich sogar berührt, weil meine geschriebenen Worte ihr Deutschlehrerherz erfreut hatten, wahrscheinlich weil ich Relativsätze schrieb, die ihr Wohlgefallen fanden.

Wie sie so hinter mir stand und mich gegenüber der übrigen Klasse hervorhob, war es ein bisschen so, als hätte Dracula mich gebissen, oder als hätte der Führer meinen Kopf getätschelt. Ich fühlte eine Mischung aus Stolz und Schande und fragte mich, ob ich jetzt ewig leben würde.

Im Physiksaal hallte wieder einmal die salbadernde Stimme Herrn Zausels im hohen und weiten Raum über unseren Köpfen. Von den Hörsaalrängen aus sahen wir ihn dort unten zwischen der Tafel und dem Overheadprojektor hin und her stolzieren. Er schmierte hier etwas hin und schrieb dort etwas auf, unterstrich es gegebenfalls dramatisch, lief dabei unablässig redend auf und ab, und verlautbarte auf diese Art irgendwelche Tatsachen seines Fachgebietes. Eine Darbietung, der ich schwerlich willens war, Folge zu leisten.

Manches Mal war es dennoch interessant. Er sprach davon, wie ein Mann names Newton anhand eines herabfallenden Apfels von einem Baum etwas über die Erdanziehung und Gravitation im Allgemeinen entdeckt hatte. Von Blitzen und elektrischem Strom hatte ich an dieser Stelle auch schon etwas gehört und für allezeit unvergessen blieb Herr Zausels Demonstration der Zentrifugalkraft, als er wie wild am Rad gedreht hatte.

Aber so interessant es auch immer sein mochte, sobald sich der Lehrer zur Tafel umwand, spuckten wir durch Strohhalme und kleine Blasrohre, die wir aus Stiften gebaut hatten, zerkaute Papierkügelchen an die Tafel. Dort blieben die kleinen Batzen aus spuckegetränktem Papierbrei meist kleben und am Ende der Stunde sah die Tafel auf diese Weise dann immer aus wie eine Raufasertapete. Zausel drohte daraufhin zunächst mit Klassenbucheinträgen und als dies nicht den geringsten Effekt hatte, später sogar mit der nächsten Stufe schulischer Strafen, mit schriftlichen Tadeln. Diese wurden dann zur Kenntnisnahme an die Eltern verschickt und lauteten in meinem Fall beispielsweise wie folgt: „Ihr Sohn schoss mit Papierkügelchen durch das Klassenzimmer.“ Meine Mutter lachte, als sie diesen blauen Brief las, denn sie meinte, das lese sich, als wäre ich selbst durch das Klassenzimmer geschossen mit kleinen Papierkügelchen unter’m Arm und somit fand sie diese Benachrichtigung der Lehrerschaft über mein Verhalten eher amüsant. Natürlich fragte sie mich zu dem Hintergrund und ermahnte mich, dass ich lieber aufpassen und lernen sollte. Sie sagte auch, dass sich sowas ja nicht unbedingt gehören würde, aber nachdem sie sich zuvor schon über den Schrieb kaputtgelacht hatte, kam das Ganze nicht sehr glaubwürdig rüber. Ganz sicher hatte sie bestimmt recht, aber besonders aufgeschlossen war man mit 13 Jahren solcherlei Vernunftsansichten sicherlich nicht.

Die Autorität des Physiklehrers Zausel wurde von der Klassengemeinschaft auf eine harte Probe gestellt. Dieser Zweikampf gipfelte darin, dass hinter seinem Rücken aus Provokationsgründen mitgebrachte Radios aufgestellt und angeschaltet und sogar dicke Zigarren entzündet wurden. Ausnahmsweise mal nicht von mir. Es war eine Art Wettbewerb entstanden, wer sich die größte aller Dreistigkeiten gegen Herrn Zausel erlauben würde. Und die Entzündung der Zigarre, nebst lauten Radioklängen war, das musste ich neidlos anerkennen, zweifelsohne die Krone der Unverschämtheit. Wie gesagt: Teenager sind gnadenlos. Und Herr Zausel wurde über all dies ungehörige Schülergebahren immer zauseliger.

Schreibe einen Kommentar