Daytop

Neue Leseprobe aus "Höllensturz" (Umwege. Die innere Reise. Band 2): Daytop.

Lesen Sie den Anfang des Kapitels: "Daytop" aus "Höllensturz" (Das Buch ist augenblicklich in der letzten Bearbeitungsphase und wird voraussichtlich noch in 2024 erscheinen.)
Höllensturz wird voraussichtlich noch in 2024 erscheinen.

Die Szene war eine Wiederholung. Das rote Auto meiner Drogenberaterin erwartete mich vor dem Gefängnistor. Ich schulterte meine Taschen und schritt grinsend auf sie zu. “Hi…” sagte ich durch die geöffnete Wagentür und warf meine Taschen auf den Rücksitz. “Hallo..” sagte mein rettender Engel und lächelte freundlich zurück. Diese Frau hatte mich durch ihre Arbeit rausgeholt. Etwas schämte ich mich für die Umstände, aber gleichzeitig durchströmte mich auch ein gigantisches Gefühl der Erlösung und Befreiung. “Danke, dass sie mich so schnell da rausgeholt haben…” bedankte ich mich bei ihr und sie antwortete wie selbstverständlich: “Das ist ja mein Job!”

Nun saß ich wieder neben ihr und wir fuhren los in Richtung Bergisch Gladbach. Es war die gleiche Szene wie ein paar Monate zuvor, als sie mich aus der Entgiftung in den Süden Deutschlands gefahren hatte. “Auf ein Neues!” dachte ich und das Auto setzte sich in Bewegung. Es ist ein komisches Gefühl, wenn du irgendwohin gebracht wirst, wo du noch nie warst und nichts von diesem Ort weißt, außer dass du dort leben wirst, ob es dir nun gefällt oder nicht. Der gleiche wilde Emotionscocktail wie vor rund einem halben Jahr begann in meinem Inneren aufzusteigen. Die Freude darüber, dass ich den Knast erstmal hinter mir hatte, mischte sich mit dem Frust nicht wirklich frei zu sein und der Besorgnis über das Ungewisse, das mich erwartete. Es war eine widersprüchliche Mischung von Gefühlen. Meine nun wiedergewonnene, teilweise Freiheit hing buchstäblich an seidenen Fäden. Ein falscher Move und ich würde wieder im Gefängnis landen, dann wohl ohne eine weitere Chance auf Therapie. Es war also keine wirkliche Freiheit, aber es war eine ratenweise Chance der echten Freiheit näherzukommen. 

Mit Gedanken dieser Art starrte ich auf die vor uns liegende Straße. Gleichzeitig sog ich den Anblick von Menschen und Straßen und dem freien Sommerhimmel darüber ein, denn ich hatte all diese Dinge seit Monaten nicht mehr erlebt. Ich sah auf banale Alltagsszenen im Straßenbild einer Stadt, die auf einmal wertvoll für mich waren: Menschen an der Ampel. Frauen, die die Straße überqueren. Ein Mann in einem Cabrio. Ein Hund neben ihm. Wenn man monatelang nur Gefängniswände gesehen hat sind solche Anblicke pures Gold.

Passend dazu sagte meine dunkelhaarige Drogenberaterin nur wenige Augenblicke später: “Diesmal musst Du es aber durchziehen!” Ich wusste natürlich, dass sie recht hatte. “Auf jeden Fall!” entgegnete ich lächelnd und fügte dann mit erstorbenem Lächeln noch hinzu: “Dahin möchte ich nicht unbedingt zurück…” Sie nickte und sagte bloß: “Gut!”

Münster lag schnell hinter uns und bald rahmten uns die Leitplanken der Autobahn ein. Meine Gedanken rannten im Kopf umher und ich fragte meine Drogenberaterin: “Wie ist es da?” Es war wirklich die exakte Kopie unserer damaligen Fahrt, sogar die Fragen waren gleich. Ein echtes Déjà-vu. Während sie unablässig den Verkehr um uns herum beobachtete, sagte sie nur: ”Soweit ich weiß, soll es ganz gut da sein. Ich habe schon ein paar Klienten dahin gebracht. Die meisten fanden es wohl ganz gut.” Hatte sie beim letzten Mal nicht genau dasselbe geantwortet? Aber was sollte sie auch anderes sagen? Sie war eine Drogenberaterin und natürlich konnte sie nicht im Detail wissen, was mich da genau erwartete. Sie machte ihren Job und sie machte ihn augenscheinlich sehr gut, denn dank ihr war ich immerhin recht schnell wieder aus dem Gefängnis rausgekommen. Ich war ihr dankbar dafür. Ich atmete tief ein und aus. Na ja, wir würden sehen müssen… Ich musste es selbst erfahren und herausfinden.

Als die ersten Hinweisschilder mit dem Ortsnamen “Bergisch Gladbach” auftauchten, stieg meine Aufregung. Schon wenig später fuhr der rote Kleinwagen durch eine altertümliche Toreinfahrt und dann sah ich es zum ersten Mal: Das ockergelbe Schlößchen, umfasst von einem Burggraben, der ganz grün vor Algen war.

Die beschauliche Szenerie wurde recht freundlich von der Junisonne beschienen, als wir auf dem Innenhof einrollten. Auf den ersten Blick sah es eigentlich ganz schön aus. Eine kurze Steinbrücke führte über den Graben auf die alte, hölzerne Eingangstüre zu. Ein paar junge Leute lehnten rauchend an einem Geländer. Als ich mit meiner kalkweißen Gefängnisblässe und den schweren Taschen an ihnen vorüber ging, beäugten sie mich, aber es war viel weniger gruselig als im Knast. Es waren sogar junge Frauen darunter. Ein paar sahen mich recht verkniffen an, andere lächelten und sagten: “Hi!”

Ich tat einen Schritt in die angenehme Kühle des Schlößchens hinein und war überrascht. Immerhin, verglichen zu meinem vorherigen Domizil, der Justizvollzugsanstalt Münster, musste man es als einen gehörigen Aufstieg bezeichnen. Ich drehte mich im Eingang noch einmal um, und sah im grellen Sommerlicht über den Burggraben hinweg eine Baumallee entlang, zu deren Seiten sich Wiesen ausbreiteten und an deren Rändern vereinzelt ein paar kleinere Gemüsebeete angelegt waren. Das sah alles nicht übel aus. Da war ein freier Himmel. Da waren Farben. Am hinteren Ende der kleinen Baumallee wartete ein mit Sand aufgeschütteter Volleyballplatz darauf, bespielt zu werden. Der Sommerwind bewegte die Blätter in den Baumkronen und das erzeugte dieses wunderbare Geräusch, jenes Blätterrauschen, welches mich schon seit Kindertagen immer besänftigte, wenn ich es vernahm. Angesichts dieser Schönheit tat ich einen kleinen Glücksseufzer und ich spürte wie eine ganze Reihe Steine von meinem Herzen kullerten. Meine Sorgen waren wie so oft unbegründet gewesen. Dies war bestimmt kein schlechter Ort.

Mit neuem Mut wandte mich wieder der Empfangshalle zu, wenn das nicht ein zu großspuriges Wort ist, für jenen hohen Raum, in dessen kühlem Halbdunkel ich mich nun überaus neugierig umsah. Schließlich wollte ich ja schnell sehen und verstehen, wo ich nun gelandet war. 

Der große Raum wurde von einer dunklen, breiten Holztreppe dominiert, die sich linkerhand im Halbkreis zu den höheren Etagen emporwandte. In einer Nische, in der Krümmung der Treppe, hing eine große, golden glänzende Messingglocke. Sehr merkwürdig. Aber gerade diese Glocke, die mir nun erstmals ins Auge fiel, spielte eine geradezu tragende Rolle in diesem Haus und in den kommenden Monaten würde ich noch lernen, was es damit auf sich hatte.

Es dauerte nicht lange und ich wurde sehr freundlich von eilends herbeistürmenden Mitarbeitern begrüßt. Meine schüchterne Unsicherheit verflog schnell, denn ich spürte, dass diese Leute solche Situationen gewohnt waren. Mit ihrer entspannten Gelassenheit und freundlichen Worten nahmen sie mir schnell meine Scheu. Alles was jetzt folgte, geschah in einer gewissen, geölten Routine, denn das Kommen und Gehen von Patienten gehörte hier quasi zum Tagesgeschäft. So wurde ich auch gleich mit freundlicher Professionalität übergangslos durch das Aufnahmeprozedere geleitet. 

Nach ein paar wenigen Formalitäten im Büro der Therapeuten, wurde ich von zwei Patienten abgeholt und durch das Haus geführt. Alle Gegebenheiten wurden mir ausführlich gezeigt und erklärt. Eine Unmenge von Regeln, Namen, Räumen und Terminen prasselte auf mich ein.

„Das kommt Dir jetzt viel vor, aber bald hast Du alles drauf, dann läuft das wie von selbst!“ sagte das blonde Mädel neben mir, als sie spürte, dass ich von der schieren Menge der Informationen etwas überfordert war. Sie war das erste Mädchen, das ich seit Monaten sah. Auch das fand ich natürlich irgendwie aufregend. Danach wurden in meinem Beisein sämtlichen Sachen aus meinen beiden Taschen von meinen beiden Begleitern doppelt gefilzt. Sie befühlten jede Naht meiner Klamotten und kontrollierten jede Socke. Dabei waren sie penibelst genau, um sicherzugehen, dass ich keine Drogen bei mir hatte. Als das getan war, schleppten wir meine Sachen auf eines der Zimmer, in dem ich wie jeder Bewohner von nun an ein Bett und einen kleinen Schrank haben würde. Ich sah an der Anzahl der leeren Betten, dass ich den Raum wohl mit drei weiteren Jungs teilen würde. Alles in allem wirkte das Schlößchen recht freundlich auf mich und dem ersten Augenschein nach, waren wir hier wirklich gut untergebracht. Durch das sonnenhelle Fenster winkten die vom Wind bewegten Bäume herein.

Ich kam also frisch aus der Haft in der neuen Therapie an und wie es der Zufall so wollte, gingen wir an diesem ersten Nachmittag gleich gemeinsam ins Freibad. Ich brauche hier nicht zu erklären, wie durchaus erfrischend das für mich in vielerlei Hinsicht war. Nach Monaten kam ich quasi direkt aus dem Schatten meiner Zelle in den sonnigen Pool. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Da liefen echte Mädchen aus Fleisch und Blut in Bikinis rum. Ich genoss jedes kleinste Detail. Die Sonne, die Gerüche von Gras, Chlor und Sonnenmilch. 

Ich stand, ganz bleich und beeindruckt, zwischen tobenden Kindern, halbnackten Frauen und all dem anderen lebendigen Treiben, welches üblicherweise an einem Sommertag in solch einem Freibad herrscht. Aus der Reduziertheit des Gefängnisses, aus der Entsagung und Enge, auf einmal in dieser strahlenden Buntheit zu stehen und die Gerüche einzuatmen, war überreich. Dankbar spürte ich die Sonne auf meiner Haut und sog alles in tiefen Atemzügen ein, sprang ins Wasser und tauchte ein, in eine wiedergewonnene Freiheit, deren Wert ich nun mehr zu schätzen wusste als je zuvor.

Auschnitt (Anfang des Kapitels „Daytop“) aus „Höllensturz“ (Umwege. Die innere Reise. Band 2, noch unveröffentlicht)

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