Irgendwie dachte ich, dass die Aliens gelandet wären. Mir war, als hinge da ein Raumschiff mit seinem leuchtenden Antriebsaggregat über der Tanzfläche und als hörte ich das Stampfen des Maschinenraums, die ins All hallenden Peilungssignale und die Entladungsgeräusche von Photonenkanonen. Der Ratinger Hof war zum Stargate geworden und ich wurde in das ferne Weltenall teleportiert. Oder hatte ich einen Zeitsprung in die ferne Zukunft gemacht?
Gut, es mag sein, dass ich neben anderen stimmungsverändernden Substanzen auch ne “Pappe” eingeklinkt hatte. Das soll bedeuten, dass ich unter anderem auch LSD zu mir genommen haben könnte. Die Trips waren als kleine bunte Papierschnipsel im Umlauf. Sie sahen recht unscheinbar und harmlos aus. “Wie winzige Briefmarken!” hatte ich anfangs naiv gedacht, jedoch meine Meinung schnell geändert, als ich feststellte, dass diese kleinen Papierschnipsel eine kolossale Wirkung entfachten. Wir nannten die LSD-Trips deswegen “Pappen”.
Jedenfalls würde eine solche “Pappe” meine extremen Sinneswahrnehmungen in diesem Moment ganz gut erklären. So wie ich jetzt hier stand, kam es mir so vor, als hätten fremde Wesen das DJ-Pult, die Tanzfläche und den ganzen Raum übernommen. Für mich war dieser Moment seit den ersten Klängen dieser absonderlichen Musik eine Begegnung mit der dritten Art geworden. Die Tänzer waren zu abstrusen Außerirdischen und die Scheinwerfer zu leuchtenden Brennstufen ihres Ufos geworden, unter dem sie eckig, fremd und rituell tanzten. Ich staunte bunte Bauklötze.
Fremd, neu, futuristisch und etwas mystisch fühlte sich alles um mich herum an. Ungläubig lauschte ich den Soundwaves aus dieser fremden Galaxie, die dem wirren Gesang eines verrücktgewordenen Computers glichen.
In dieser Nacht landete also das Techno-Raumschiff in meiner Welt. Ja gut, ein paar Pillen und Nasen waren gleich mitgelandet, aber das gehörte, wie ich sehr bald lernen würde, auf ebenso wunderliche wie sich ideal ergänzende Weise zusammen. Die Vibrationswellen eroberten den ganzen Raum und drangen in mich. Die fremden Götter aus dem All sprachen zu mir. Sie äußerten sich in einer Sprache aus Sounds und Vibes, aus Frequenzen und Schwingungen. Dazu ritten sie auf pumpenden Rhythmen. Sie ließen interstellare Soundwellen auf mein Trommelfell los, die wie Hypnosestrahlen auf mich wirkten. Alles waberte und pulsierte wie ein elektrischer Pudding um mich herum!
Ja, das war alles überaus erstaunlich. Und es warf meine Hörgewohnheiten komplett über den Haufen. Es war unvergleichbar mit allem, was bis dahin an mein Ohr gedrungen war. Als Kind hatte ich Elvis, die Beatles und ELO gehört, später als Teenager in den Achtzigern, dann Beastie Boys, Frankie goes to Hollywood, Depeche Mode und solche Dinge. Und nun sah ich mich plötzlich und unverhofft, im vertrauten Trockeneisnebel und zwischen den bunt auflechtenden Lichtflecken der Scheinwerfer, diesen knarzenden und blubbernden Klangflächen ausgesetzt. “Was ist das?” fragte ich mich und wurde dabei von stampfenden Bassdrums überfahren wie von einer Panzerbrigade. „Mein lieber Schwan!“ dachte ich. Das war ne ganz andere Nummer. Auf einmal befand ich mich auf einer surrealen Kellerparty in einer intergalaktischen Irrenanstalt.
Durch den farbig blinkenden Nebel sah ich Leute, die sich ganz anders bewegten, als ich das jemals zuvor bei einer humanoiden Lebensform gesehen hatte. Sie zuckten im Beat wie unter Elektroschocks und sie gebärdeten sich insgesamt grotesk. Sie reckten ihre Arme bizarr in die Höhe und ihre Gesichter waren ekstatisch verzerrt. Was zur Hölle war hier auf einmal los? Hatte ich den Verstand verloren? War ich tot und im Maschinenraum der Hölle gelandet? War ich vielleicht tatsächlich durch einen extraterrestrischen Traktorstrahl entführt und in eine ferne Galaxie gebeamt worden?
Besser kann ich Euch den Kulturschock, den ich in jener Nacht erlebte, nicht beschreiben. Meine gekannte Welt brach auf, zerbarst, und etwas ganz Neues und Fremdes zeigte sich dahinter. Noch eine ganze Weile stand ich wie ein Fragezeichen da, während alles um mich herum nun ein groteskes Stampfen und Brummen war. In dieser Nacht traf mich die Zeitenwende. Von hier an würde alles anders sein.
Im Ratinger Hof kam am frühen Morgen immer der „Rausschmeißer“. Das fremde Ufo verschwand und mit ihm der ganze kosmische Zauber. Die Musik verstummte, das Licht ging schlagartig an und vom hinteren Ende des Clubs schritt der Türsteher mit dunkler Aura langsam nach vorne und rief: “Feierabend!“. Mit langem, wallenden Ledermantel schob er sich wie eine Wand aus der dunklen Tiefe des Clubs heran, wie das leibhaftige Böse, und trieb die verpeilte Meute vor sich her, an der Kasse vorbei, auf die Straße. Das Personal wollte schließlich auch einmal nach Hause. Hier würde es keine Zugabe mehr geben, das war klar.
Ich wurde mit der Blase der übrigen Gäste auf die Ratinger Straße gespült. Der Morgen graute schon. Da sie wieder: Die normale irdische Welt. Ich fühlte mich wie vom Ufo ausgespuckt und kam nicht klar. War ich eben noch im Dunkel des Clubs in ferne Sounduniversen entführt worden, stand ich nun schlagartig in der fast schon taghellen Düsseldorfer Altstadt. Die Steinhäuser und das Kopfsteinpflaster, das Tageslicht, das alles kam mir nun ebenso seltsam vor, wie zuvor der Trip ins All. Wiederum äugte ich weltfremd um mich, als wäre die Alien-DNA mit Hilfe der fremden Soundwellen in mein Hirn getragen worden und als würde ich nun aus fremden Augen auf meinen Heimatplaneten blicken. Die übrigen Leute verteilten sich schnell in alle Himmelsrichtungen und ich stand da wie teleportiert, wie Zaphod Beeblebrox.
Ratlos und desorientiert wankte ich los, bis ich in meinem zerfaserten Hirn auf eine ungefähre Erinnerung stieß, in welche Richtung ich gehen musste, um eine U-Bahnstation zu finden. Während ich ging, blickte auf den Gehsteig vor meinen Füßen, um dort den Sinn des Lebens zu suchen. Ich fand ihn nicht.
Diese Welt war mir nun insgesamt zu viel und ich fühlte mich irgendwie nackt, schutzlos und verstört. Ich wollte mich schnell unter einem Stein verbergen. Ich war eine lichtscheue Kakerlake, schleimig und grünlich fluoreszierend. Ein Ungeziefer “from outer space”, als welches ich schnell aus dem Tageslicht verschwinden musste, bevor die Erdenbürger bemerkten, dass ich nicht mehr zu ihnen gehörte. Weltfremd und möglichst klein zusammengekauert saß ich in der U-Bahn und schlich mich später, von der Endhaltestelle an, in die Schatten der Häuserwände gedrückt, von Häuserblock zu Häuserblock nach Hause.
Höllensturz ist der zweite Teil meiner Autobiografie: Umwege. Die innere Reise und erscheint voraussichtlich noch in 2024.