Trude, das Kanonenweib, die Hexe und ehemalige Mannheimer Hure wurde irgendwann selbst für die geduldigsten Therapeuten untragbar, weil sie einfach nicht damit aufhörte, ständig unfassbare Obszönitäten von sich zu geben. Sie war halt so und sie blieb sich treu darin. Trude war in diesem Punkt, ob nun gewollt oder ungewollt, beratungsresistent. Ihre verbalen Entgleisungen, die zwar immer noch zur allgemeinen Belustigung beitrugen und die in den unpassendsten Situationen nach wie vor ungläubiges Gelächter, Schamesröte und betretenes Kopfschütteln hervorriefen, wurden letztlich untragbar. Sie sank vor allem im Ansehen der Therapeuten, die diese Aussagen von ihr auf Dauer nicht dulden wollten und als alles nicht half, musste Trude schließlich irgendwann gehen.
Sie war wütend über ihren Rausschmiss und während sie ihre Sachen einsammelnd durch das Blockhaus lief und fluchend ihre Koffer packte, stieß sie die übelsten Flüche und Schmähungen aus. Die Umstehenden lachten zum Teil, weil es eben zu lustig war, was sie sagte und wie sie schimpfte. Es war eine Komödie, ein vulgärer Vulkanausbruch. Sie lief zur Höchstform auf, während sie fahrig ihre Kleider zusammenstopfte und fluchte dabei wie ein Schwermatrose. Heute glaube ich, dass sie sich in diesem Moment verraten und verhöhnt vorkam, weil wir so fröhlich wirkten. Sie muss sich ungeliebt vorgekommen sein. Sie muss gedacht haben, dass wir sie verspotten.
Nicht anders lässt sich jedenfalls erklären, warum Trude sich so grausam an uns allen rächte, als man sie schimpfend und fluchend im Auto zum nächsten Bahnhof brachte. In ihrer unbändigen Wut und Enttäuschung plauderte sie den begleitenden Betreuern auf dieser Autofahrt alle pikanten Geheimnisse aus, von denen sie wusste. Und das waren inzwischen eine ganze Menge. Sie leierte also innerhalb ihrer Wutrede eine lange Liste von Schandtaten ab und ließ nichts aus. Sie wußte von Sex, Besäufnissen und vielen kleinen schmutzigen Geheimnissen und Regelbrüchen, die wir in der Therapie hinter den Rücken der Betreuer begangen hatten. Vom Rücksitz des Autos her spie sie alles aus. Da legten die Therapeuten natürlich die Ohren an.
Wir saßen alle betreten im Stuhlkreis und starrten auf unsere Füße, die nur in Socken steckten, denn die Sauberkeit der Therapieräume wurde dadurch geschont, dass wir unsere Schuhe vor der Türe auszuziehen hatten. Der Raum war achteckig, denn Rudolf Steiner hatte etwas gegen rechte Winkel, glaube ich. In diesem Octagon herrschte eine fast atemlose Stille und Anspannung. Die ganze Gruppe, also alle Bewohner der beiden Blockhäuser, waren zur Krisenintervention in diese Sondergruppe gerufen worden. Ausnahmezustand. Wir durften nicht miteinander reden. Wir tauschten vielsagende Blicke und bissen uns auf die Zähne.
Vorher hatten wir die Anweisung bekommen, alle Regelbrüche, von denen wir wussten, aufzuschreiben. Diese Listen hatten wir nun schon abgegeben. Unsere Beichten quasi. „Es geht um Euren weiteren Aufenthalt bei uns!“ hatte der Therapeut streng und wütend erklärt. „Wenn ihr etwas verschweigt, von dem wir nun wissen, dann müsst ihr gehen, ohne ‚Wenn und Aber‘! Dies ist jetzt die letzte Gelegenheit, sich ehrlich zu machen! Wir brauchen hier Ehrlichkeit, sonst haben wir keine Grundlage für eine funktionierende Zusammenarbeit mehr!“
Sie hatten uns natürlich nicht gesagt, was sie alles wussten. Das war ein sehr cleverer Schachzug. Jetzt pressten sie noch die allerletzten Geheimnisse raus. Schwitzend hatten alle über ihren Zetteln gesessen und darüber nachgedacht, was Trude gewusst haben konnte und was nicht. Und was würden die Anderen beichten? Wer würde dichthalten? Wie groß würde diese Lawine der Schande werden? Naja, jetzt waren die Listen jedenfalls abgegeben und wir harrten der Dinge, die da über uns kommen würden. Auf einmal war richtig Druck im Busch. Es war ein sehr spannender Moment, immerhin ging es ja um Knast für mich. 18 Monate, wenn es schlecht lief.
Der Therapeut kam nun nach einiger Zeit aus seiner Teambesprechung mit strenger Miene zurück und wir erwarteten ihn wie einen Richter, wie Angeklagte, die ihren Schuldspruch entgegennahmen. Die Spannung im Raum war hoch und löste sich nur langsam, als die Dinge im Einzelnen zur Sprache kamen und geklärt und besprochen wurden. Es verlief glimpflicher, als ich erwartet hatte, bis der Punkt kam, an dem der Therapeut mit ernster Miene fragte, wer denn noch alles mit Pocahontas geschlafen habe. „Ich bitte da um ein Handzeichen!“ sagte er und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Und ich sah Pocahontas an. Sie verbarg ihr rotes Gesicht, peinlich berührt von Scham und wegen der Ungeheuerlichkeit der Situation lachend, hinter ihren Händen. Zögernd hob ich meinen Arm und ich war nicht schlecht geschockt, als ich sah, wie in dem Raum ein Männerarm nach dem anderen aufzeigte.
Am Ende waren es mindestens fünf Arme, die in die Luft zeigten. Ich war entsetzt. Siehe da: Pocahontas war wohl ziemlich zugänglich gewesen. Ich hatte gar keine Zeit meine Gedanken und Gefühle zu sortieren, denn nun verkündete der Therapeut, dass angesichts dieser Lage keine andere Entscheidung möglich sei, als dass Pocahontas nun auch gehen müsse. Ja, das war klar. Ein solches Mädchen würde den Laden ständig durcheinanderwürfeln. Sie war zu hübsch und zu heiß für dieses Camp. Ich blickte in die Runde und mir wurde klar, dass in der Gruppe einige in sie verliebt waren und ich gehörte wohl auch dazu.
Nach ein paar Schrecksekunden dämmerte mir, dass die Therapie ohne sie ihren ganzen Zauber verlieren würde. Sie wäre einfach nicht mehr da. Sie würde überall fehlen. Ihre Stimme würde nicht mehr, hoch und schön, durch die Gänge hallen, mein Blick würde sie nicht mehr finden, wenn wir morgens zum Stall marschierten. Sie wäre einfach nicht mehr da. Es würde keine verstohlenen Blicke mehr in grüne Augen geben, keine heimlichen Küsse, kein vielsagendes, keckes Lächeln aus diesem hübschen Gesicht. Von nun an würde dieser Ort wie ein Himmel ohne Sonne sein. Ich stellte mir vor, wie leer sich alles ohne sie anfühlen würde und in meiner Brust zog sich etwas zusammen.
Und deswegen ging ich gleich mit. Einzig von dem Impuls getrieben, dass ich mir eine Zukunft in der Therapie ohne sie nicht vorstellen konnte. Ich packte meine Sachen, ohne noch weiter darüber nachzudenken.
Heute, 30 Jahre später, sitze ich an meinem Laptop und tippe mit sehr gemischten Gefühlen diese Zeilen in die Tastatur. In meiner Erinnerung sehe ich dies alles noch ganz deutlich vor mir und ich empfinde sogar sehr deutlich nach, was ich damals fühlte. Diese Mischung aus Verliebtheit, Aufregung und Ungewissheit. Ich kann mein jüngeres Ich verstehen, aber gleichzeitig weiß ich auch, was danach passierte und was für eine kolossale Fehlentscheidung das damals war. Es ist einer der wenigen Momente, die ich wirklich bereue.
Wieder einmal traf ich eine folgenschwere Lebensentscheidung ohne jede Vernunft, ohne jeden Verstand. Meine Gefühle und meine gehegten Vorstellungen von der Zukunft machten es mir damals unmöglich, anders zu handeln, obwohl ich wusste, dass es unweigerlich lebensverändernd sein würde, wenn ich jetzt ging. Ich hätte bleiben dürfen. Und nach einer Weile hätte ich mich sicher an die neue Situation gewöhnt. Tja, das wäre viel besser für mich gewesen. Aber über eine solche Vernunft verfügte ich einfach nicht. So bog ich in einen weiteren Umweg des Lebens ein, einen Weg, der mich steil nach unten führen und Leid in neuer Dimension bedeuten sollte.
Pocahontas und ich wurden am nächsten Morgen zum Bahnhof gebracht. Wir ließen die Holzhütten und den Bodensee, die schöne Natur, die Kühe und die Alpen und all diese Schönheit hinter uns.
Da standen wir am Gleis und ihre schwarzen Haare wehten im schneedurchstöberten Wind und sie lächelte mich verunsichert an. Wir waren beide von den Ereignissen überrumpelt worden. Wir fuhren noch eine Strecke mit dem Zug zusammen. Da saß sie mir gegenüber. Bei Regensburg musste sie raus.
“Du kannschd bei mir schlafa…” bot sie mir an, als die gemeinsamen Minuten schließlich knapp wurden. Sie erzählte mir schnell, dass sie zwar bei den Eltern wohnte, aber ihr eigenes Reich im Elternhaus habe. Das wäre alles kein Problem. Ich schüttelte den Kopf und küsste sie ein letztes Mal und schmeckte das Salz ihrer Tränen. Dann entstieg Pocahontas, dieses wunderhübsche Mädchen, mit einem letzten weinenden Blick über ihre Schulter hinweg, dem Zug und meinem Leben.
Aus dem zweiten Teil von „Umwege. Die innere Reise“: „Höllensturz“ (Augenblicklich in Arbeit, wird wahrcheinlich noch dieses Jahr -2024- erscheinen)