Als Kind hatte ich niemals darüber nachgedacht, wer ich sei. Welches spielende Kind im Sandkasten denkt schon darüber nach? Du patscht einfach dein Förmchen in den Sand, vollkommen ungestört durch jede Selbstreflektion. Das ist der Frieden, den die Kinder noch haben.
Nun begann mein Verstand jedoch, die gewaltige Aufgabe in Angriff zu nehmen, sich selbst und die Welt, in der er sich befand, verstehen zu wollen. Hatte ich als Kind noch alles hingenommen, wie es war, meldete sich nun eine Stimme in mir, die hinter die Dinge schauen wollte. Die Horizonte wurden weiter und mein erwachender Blick sammelte alles ein, was dazwischen lag. Mein Hirn wuchs und damit auch seine Fähigkeiten. Ich begann verstehen zu wollen, was dieses Leben und meine eigene Rolle darin ist.
Auf dieser beginnenden inneren Suche blickte ich eines Tages in den Spiegel, sah mir in die Augen und begegnete mir erstmals selbst. Der kindlichen Selbstverständlichkeit beraubt, starrte ich mich eines Abends beim Zähneputzen fragend an. Wer sah mich da an? „Wer bist du?“ fragte mein Blick das Spiegelbild. Erstmals sah ich nicht in voller Selbstverständlichkeit auf mich, sondern durch die Brille des Verstandes. Genau in dieser Sekunde geschah es. Dieser Moment war die Geburt meines Egos. Fortan würde ich nicht mehr einfach sein, was ich war. Nun fing ich an, in meinem Verstand ein Bild von mir selbst zu erschaffen. Ich fing an, mich selbst zu hinterfragen. Das menschliche Hirn ist ein großer Frager. Es will ergründen und begreifen. So sah ich auf meine Erscheinung, die sich im Spiegel die Zähne schrubbte und die Fragen kamen. Fast zeitgleich mit der Selbstwahrnehmung entstand auch unbemerkt so etwas wie eine Selbstbewertung. Nach der Frage: “Wer bin ich?” kam gleich: “Bin ich gut so, wie ich bin?” Beides schien miteinander zwangsläufig einherzugehen.
Das ist der Beginn des gigantischsten aller Umwege. Ein Weg, der uns paradoxerweise von unserem wahren Selbst wegführt. Es ist der Weg des Egos. Das Ego ist die Selbstbeschau durch den Verstand. So stand ich vor dem Spiegel und erlebte fast eine Trennung von meinem wahren, unschuldigen Selbst. Da war der Schauende und der Angeschaute. Ich begann in dieser Sekunde damit, eine Meinung und Vorstellung von mir selbst zu bekommen. Ich weiß, dass es bei dir genauso war, ob es dir nun bewusst ist, oder nicht. Bevor wir dies aber nun beginnen zu bedauern, möchte ich zur allgemeinen Beruhigung gleich ebenso anführen , dass dieser Weg für jedes denkende Wesen unvermeidlich ist. Adam hatte in den Apfel gebissen und deswegen das Paradies verloren. Ein Schicksal, das den Tieren und Pflanzen erspart bleibt. Einzig der Mensch begibt sich auf diese Reise, die der Preis für einen freien, denkenden Geist ist.
Der 50jährige Mann, der dies alles heute niederschreibt, würde seinem jugendlichen “Ich” gerne raten, diesen Weg des Ego nicht zu weit zu gehen. “Übertreibe es nicht, mein Junge!” Denn rückblickend weiß ich heute sehr wohl, dass ich dies in fataler Weise getan habe. Ach, könnte ich doch nur in der Zeit zurückrufen…
Als mein eigener weiser Berater würde ich dem Teenager vor dem Spiegel gerne sagen:“Frag nicht soviel! Bleib einfach, was Du bist und immer warst und immer sein wirst. Es gibt eigentlich gar nicht so viel zu fragen. Patsche einfach dein Förmchen in den Sand, mein lieber, guter Junge!“
Aber ich weiß auch, dass es natürlich vollkommen sinnlos gewesen wäre, als Geist aus der Zukunft im Spiegel zu erscheinen, denn selbst wenn ein solch schauerliches Kunststück gelingen könnte, so hätte mein junges Ich doch keinerlei Chance gehabt, es zu verstehen. Der erwachende Geist, der Verstand, hinterfragt einfach alles. Er rennt jede Straße entlang und irgendwie muss es ja auch so sein, denn zu begreifen und zu lernen ist ja seine Aufgabe. Er blickt wie ein jagender Fuchs in alle Richtungen und allem, was sein Augenlicht streift, wird er nachstellen. Er wird versuchen, es zu fassen und es zu zerpflücken. Er will und muss begreifen. Ganz besonders gilt das für das eigene Spiegelbild. Nichts ist ihm interessanter.
Mancher Umweg will einfach gegangen sein, denn auf seiner Strecke gibt es anscheinend Notwendiges zu lernen. Wie lang und schwer würde jedoch dieser Umweg über das Ego und die Selbstbewertung werden! All die Mühen auf dieser langen Reise, ja die Qualen sogar, nur um am Ende zu begreifen, dass es der falsche Weg ist, dass man all das, jenes über viele Jahre mühsam gezimmerte Selbstbild, am besten gleich wieder vergisst. Nun, Fehler müssen wahrscheinlich gemacht sein, um aus ihnen zu lernen. Manchmal muss man etwas verlieren, um seinen Wert zu erkennen. Ich verlor also den kindlichen Frieden und kletterte in das Ego hinein wie ein Affe auf einen Baum. Ich glaubte wohl, von da oben eine bessere Aussicht zu haben. Es würde mich Jahrzehnte kosten, um zu lernen, dass alles Gedachte letztlich unwahr ist und die Wahrheit lediglich erfahren werden kann.
Meine Warnungen und Ratschläge wären also sinnlos gewesen. Es blieb unvermeidlich, dass ich auf einen Egotrip gehen würde. Und in meiner königlichen Überheblichkeit würde ich es derart maßlos tun, dass sich der Äquator wie eine Runde im Park dagegen ausnehmen würde. Mein Verstand würde ein riesiges Ego hervorbringen. Ein Ego, das versuchen würde, das Vergnügen wie Schmalzbrote in sich hineinzuschlingen und das am Ende seiner Umlaufbahn um sich selbst wieder im Sandkasten auskommen würde.
Zunächst stand ich aber erst einmal noch eingeklemmt zwischen Kloschüssel und Waschbecken in unserem winzigen Badezimmer, starrte mich an und tat den ersten Schritt auf dieser Reise. Ich fragte mich, wer ich sei. Ich sah in Augen, die ich nicht begriff.
Auszug aus dem Kapitel: „Das Moltke“ aus „Umwege. Die innere Reise. Band 1:Der Königssohn“