Die Weiterbildungsmaßnahme war zu Ende. Alle Teilnehmer traten nach der Reihe einzeln nach vorn und erhielten unter Applaus ihr Zertifikat. Selbst ich bekam eins, auch wenn ich das kaum verdient hatte, denn im Grunde hatte ich nur die Hälfte der Lerninhalte mitbekommen. Zuletzt hatten alle Teilnehmer, als Teil der Ausbildung, noch ein abschließendes Praktikum gemacht. Es sollte dazu dienen, das erworbene Wissen in der Praxis zu testen. Ich war dazu in einer kleinen, neugegründeten Agentur in Köln Hürth untergekommen, hatte aber die halbe Zeit gefehlt. Ich hing ziemlich schräg in der Luft bei meinem Spagat zwischen Beruf und Sucht. Zwischenzeitlich hatte ich sogar noch eine Entgiftung gemacht und eierte nun halbwegs clean durch das Leben. Naja, wirklich nur halbwegs und deswegen prostete ich den anderen Teilnehmern des Kurses mit dem bereitgestellten Sekt im Plastikbecher etwas gequält zu. So richtig gab es für mich keinen Grund zum Feiern.
Mit dem Abschluss der Weiterbildung war auch die Kölner Phase für mich beendet. Ich sah keinen Sinn mehr darin, in einer Stadt zu bleiben, deren schöne Seite ich nie entdeckt hatte. Köln war für mich immer ein Albtraum geblieben und Freunde hatte ich hier auch nicht gefunden. Also packte ich meine wenigen Sachen und ging zurück nach Krefeld. Wieder einmal. Samsara. Ihr wisst schon. Man geht immer die gleichen Wege, bis man lernt oder dumm stribt.
Als arbeitsloser Habenichts und Gelegenheitsjunkie fand ich lediglich eine schrecklich möblierte Wohnung auf der Feldstraße. Ich stand etwas ratlos in der bedrückenden Bude, als ich sie erstmals besichtigte. Es war wieder so eine schmierige Kulisse, wie schon in Hamburg damals, oder zuletzt in Köln. Eine Rentnerbude im Rustikalstil der Achtzigerjahre. Auf dunkelgrünem, durchgelatschten Teppichboden standen klobige, abgewetzte Sessel mit breiten Armlehnen aus Holz, ein Schlafsofa und ein Kacheltisch. Es war hässlich aber es war mir auf eine erschreckend resignierte Weise auch irgendwie egal. Das Amt würde die Miete bezahlen und ich wusste ohnehin, dass ich vom ersten Tag an rückfällig und drauf sein würde, während ich hier lebte. Irgendwie war mein Widerstand, mein letzter Willen gebrochen. Es würde eine Endstation sein, soviel war klar. Also war es egal. “Ich nehm die Wohnung!” sagte ich achselzuckend zu dem Opa, der sie mir gezeigt hatte. Er drückte mir den gelben Standardmietvertrag in die Hand und nickte. Ich blickte auf all dies mit einer seltsamen Distanziertheit, als ginge es mich nichts mehr an. Irgendetwas in mir hatte mit dem Leben abgeschlossen.
Jeden Tag ging ich von diesem neuen Domizil aus mit Hundi zur Platte. Es hatte aber nichts mehr von dem fröhlichen Heimkommen, wie ich es noch wenige Jahre zuvor erlebt hatte. Es gab auch keine Konfettiparade zu meinen Ehren. Diese Heimkehr war nur noch eine letzte, räudige Notlandung. Meine Wohnung lag in einem Viertel der Stadt, das mir gar nichts sagte. Alles, was in Krefeld südlich des Hauptbahnhofes lag, hatte einen ranzigen, einen dreckigen und asozialen Touch. Hier wohnten die Armen, die Säufer, die Arbeitslosen und die Ausländer. Ich passte als Junkie ideal hinein.
Hundi und ich gingen die Kölner Straße, vorbei an Kiosken, Spielhallen und Kneipen in Richtung Bahnhof, unter den wuchtigen, genieteten Eisenträgern der Eisenbahnbrücke hindurch, gelangten durch das Hansazentrum in die Neusser Strasse und strebten durch das Gewimmel der Fußgängerzone weiter in Richtung Dionysiusplatz, denn dort versammelte sich zu dieser Zeit die Drogenszene.
Ich war in kürzester Zeit wieder völlig drauf. Nur war ich jetzt chronisch pleite. Das ist so ziemlich die ungünstigste Lage, in der man sich befinden kann. Als entzügiger Junkie ohne Kohle auf der Szene aufzukreuzen ist nichts weiter als erbärmlich. Oft saß ich zitternd und entzügig auf dem Rinnstein und wusste nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Ich heulte und es interessierte niemanden. Vielleicht geschah es mir nur recht, denn ich hatte diese Lage schließlich selbst verschuldet. Jedenfalls war alles aus. Ich war auf dem Grund aller Tiefpunkte angekommen.
Schließlich traf ich auf diese Weise Tünni. Er saß in meinem Elend irgendwann einfach neben mir. Tünni hatte lange, gelockte Haare und war Einbrecher. Er hatte keine Unterkunft und musste wohl auch dringend untertauchen. Also ließ ich ihn bei mir pennen und im Gegenzug versorgte er mich mit Drogen. Das war unser Deal. Ich versteckte ihn, er versorgte mich.
Im Morgengrauen kam er nach seinen Touren, mit frischen Spritzen, Heroin und Kokain zu mir, warf alles auf den Tisch und dann setzten wir uns gegenseitig Schüsse in die Halsvenen, weil wir sonst nirgendwo mehr trafen. Wir lagen tagelang endstufenstoned in der Rentnerbude. Nahrung brauchten wir wenig, weil man einfach keinen Hunger mehr spürte, aber wenn wir dennoch etwas essen wollten, besorgten wir es uns von der “Tafel”, dort gab es alte, halb vergammelte Lebensmittel für Bedürftige. Alles fühlte sich nach Ende an. Wir lagen auf dem Teppich und vergingen.
In der trüben und etwas finsteren Bude begann das Leben sich nun langsam auszublenden. Es schien die letzte Station zu sein. Ich nahm weder mich noch das Dasein wirklich wahr. Ich dämmerte dahin und alles verblasste im Nebel. Im Hintergrund sangen Alice in Chains: “What’s my drug of choice? Well, what have you got…? I don’t go broke….and I do it a lot…”
Tagelang verließ ich das Haus nicht, beziehungsweise nur für kurze Runden mit Hundi, die sich nicht vermeiden ließen. Alles wurde immer grauer, immer heller um mich, als wäre ich von feinen Schleiern umweht oder von milchigen Schlieren umgeben. Klapprig warte ich nachts unter einer Laterne, während Hundi ihr Geschäft machte.
Irgendwann bekam ich beim Atmen Schmerzen. Ich stand in einer Pommesbude auf der Kölner Straße und hatte mir gerade Gyros bestellt, da hatte ich schlagartig irgendwie keine Kraft mehr. Ich schaffte es kaum noch, mich aufrechtzuhalten. Meine Luft wurde immer weniger. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn schlich ich wie ein tausendjähriger Greis zurück in die Wohnung und brach dort zusammen. Irgendwie sah ich im letzten Moment noch verschwommen das Handy in der Sofaritze liegen. Ich rief meine Mutter an und röchelte mit letzter Kraft ins Telefon, dass etwas nicht stimmte, dann sackte ich zusammen. Der Raum blendete sich aus.
Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt in Bayern. Der Anruf ereilte sie, als sie gerade mit meinem kleinen Bruder an einem Bächlein im Wald saß. Sie hatten gerade einen Moment des Friedens gefunden. Das Bächlein plätscherte und die Sonne zwinkerte durch die Baumkronen. Sie hatten dringend etwas Entspannung und Frieden gebraucht, denn auch ihr Leben lief nicht rund. Es gab viele Sorgen und ich war eine davon. Jetzt klingelte in diese friedliche Idylle hinein das Handy und am Hörer stöhnte ihr sterbender Junkiesohn sein letztes Röcheln. Was sollte sie tun?
Mutti überlegte fieberhaft und da fiel ihr ein, dass sie noch die Nummer einer alten Schulfreundin von mir hatte. Es war das Mädchen mit den Augen der Kleopatra, die ich in einer fernen Vergangenheit, in einem anderen, einem längst vergessenen Leben in der Schule kennengelernt hatte. Es war ein purer Zufall, dass meine Mutter ihre Nummer durch irgendeinen Umstand noch hatte und dass sie noch stimmte.
Als 16-jähriger Teenager war ich in dieses grelle Mädchen aus der Parallelklasse etwas verliebt gewesen. Ich hatte sie von Anfang an toll gefunden, denn sie war ein schönes, ein buntes und auffälliges Mädel, das auf dem Schulhof aus allen anderen Schülern herausgeleuchtet hatte, wie ein farbenfroher Stern. Der Blick in ihre großen Augen war für mich seither immer hypnotisch geblieben. Wir hatten damals ein bisschen geflirtet und in einer Fügung unverschämten Glücks hatten wir auch einmal ein bisschen rumgemacht, aber mehr war zu meinem Bedauern leider nie daraus geworden.
Was aber daraus wurde, war eine Freundschaft, die anfangs noch, zumindest von meiner Seite, einen leisen Flirt im Hintergrund gehabt hatte. Dann hatte sie irgendwann geheiratet und ihr erstes Kind bekommen. Wir haben uns dann nicht mehr so oft gesehen. Wenn, dann trafen wir uns nur zufällig mal im Nachtleben, aber trotzdem verband uns eine Freundschaft, die nicht alt wurde, die irgendwie frisch blieb, sogar wenn wir uns über Monate nicht sahen. Wir mochten uns und haben uns immer vielsagend angegrinst, wenn wir einander begegnet sind. Zuletzt freilich, in den Jahren meiner Heroinsucht war der Kontakt zu ihr, wie zu allen anderen Menschen meiner Vergangenheit auch, völlig abgerissen.
Meine Mum rief jetzt dort an, erklärte ihr die Situation und bat sie eindringlich, nach mir zu sehen. Das Auge der Kleopatra muss sehr verwundert dreingeschaut haben. Nach Ewigkeiten einen solchen Anruf von der Mutter eines Schulfreundes zu erhalten, den man über Jahre nicht mehr gesehen und gehört hatte, muss äußerst befremdlich gewesen sein. Das war sicherlich eine mehr als seltsame Situation. Sie hätte sich einfach rausreden können. Was ging es sie an?
Aber obwohl sie von der Situation vollkommen überrumpelt wurde, kam sie tatsächlich. Ich frage mich, was sie empfunden haben mag, als sie die steile Stiege zu dieser verwahrlosten Junkiehöhle hinaufgestiegen ist, als sie mich verdreckt und halb tot darin vorgefunden hat?
Wie gesagt, wir hatten uns immer gut leiden können und vielleicht war da deswegen noch ein letzter, seidener Faden, der uns verband. An diesem dünnen Faden hing nun mein Leben. Seltsamerweise hatte diese haarfeine Verbindung wohl gehalten, ganz egal wie weit die Entfernungen oder wie schlimm meine Verfehlungen in der Zwischenzeit auch gewesen sein mochten. Dass sie nun diesen stinkenden Raum betrat, war aber wohl vor allem der Güte ihres Herzens geschuldet.
Sie sah mich und den Hund. Sie verstand und tat was zu tun war. Es war höchste Not. Sie half mir die Treppe runter, setzte mich ins Auto und lieferte mich im städtischen Krankenhaus ab. Die wollten aber den stinkenden, sterbenden Junkie nicht haben. Sie wiesen mich ab.
Meine alte Schulfreundin gab nicht auf und fuhr mich zu einem zweiten Krankenhaus. Kleopatra ließ mich nicht im Stich. Sie diskutierte engagiert mit den Ärzten. Ich nahm es ganz entfernt aus dem Augenwinkel noch wahr. All das spielte sich im Maria-Hilf-Krankenhaus in Krefeld ab. Es lag direkt neben dem Alexianer, dem psychiatrischen Krankenhaus, wo ich schon so oft entgiftet hatte. Schließlich setzte sich das allwissende Auge der Kleopatra durch. Man nahm mich auf und die Ärzte versuchten mich noch zu retten.
Das war im Hochsommer des Jahres 2002. Eine erste Untersuchung mit Ultraschall ergab, dass der linke Lungenflügel gerissen und kollabiert war und dass mein Brustkorb voller Eiter war. Das Herz schlug in einem übel stinkenden, gelben Pudding. Die zusammengefallenen Reste meiner linken Lungenhälfte lagen wie ein geplatzter Luftballon, verklebt und zusammengefallen auf dem Grund meines Brustkorbs. Das bedeutete Lebensgefahr und Intensivstation. Die ägyptische Königin zog sich zurück, überließ mich den Ärzten und nahm Hundi zu sich.
Meine Gebete waren also schließlich erhört worden. Wir erinnern uns: Ich hatte in Köln allabendlich an meinem Bettrahmen gekniet und darum gebetet sterben zu dürfen. Wieder lieferte das Universum. Jeder Wunsch, den ich in meinem Leben wirklich aus meinem innersten Kern formuliert hatte, war letztlich wahr worden. Es dauerte immer ein bisschen, aber schlussendlich erfüllten sich die Bitt-Gebete immer, die ich ins Weltall jagte. Ich hatte als 14-jähriger Junge die Liebe des Grünauges gewollt und ich hatte sie auf die gleiche Weise erfleht, als es keine Hoffnung mehr darauf gegeben hatte und nach einer Weile hatte ich sie bekommen. Später hatte ich mir von Herzen gewünscht, so schön und populär zu sein, wie die Jungs , die ich auf meinen ersten Parties bewundert hatte und auch das war erfüllt worden. Nun hatte ich mit der letzten Kraft meines Herzens um meinen Tod gebeten und jetzt kam er tatsächlich.
Es sieht so aus, als hätte ich mir in diesem Leben immer die falschen Dinge gewünscht. Ich war gut gestartet und dann immer unglücklicher geworden. Ganz zweifelsfrei habe ich mich viel zu oft falsch entschieden. In meinem selbstgewählten Unglück und Schmerz lag eine Lektion, die es zu lernen galt, die ich aber nie hatte wirklich entziffern können. Oder hatte ich nur nicht gewollt? Ich hatte aus irgendwelchen Gründen nicht gelernt, nicht wirklich zugehört. Das Universum, das Leben, hatte stets versucht, mich auf seine Weise zu unterrichten, aber ich war wohl kein guter Schüler. Aus lauter Bequemlichkeit und Angst war ich in den Tod gerannt. Tja, das war wohl kein großer Heldenepos, den ich da geliefert habe. Sei’s drum. Das war jetzt auch egal.
Würde Gott mir verzeihen, wenn ich nun wieder vor ihn trat? Würde er mir meine Feigheit vergeben? Meinen Egoismus? Meine ewige Selbstzentriertheit, meine Vergnügungssucht und meine Schwäche? Was hatte ich mir selbst und allen anderen, die mir auf meinen Umwegen durch das Leben begegnet waren, nur zugemutet? Was hatte ich aus dem Geschenk des Lebens gemacht? Früher hatten mich die Menschen oft beneidet um meine Talente. Sie waren oft fassungslos darüber gewesen, wie ich alles vergeudet und verbrannt hatte. Die Besten und Ehrlichsten unter ihnen hatten mir das auch klar gesagt. Jetzt hoffte ich, sie würden mir alle verzeihen. Die zurückgelassenen Freunde, die enttäuschten Frauen, die unzähligen Seelen, die es gut gemeint hatten und die an mir verzweifelt waren. Ich hoffte, dass Mutti und Hundi mir verziehen. Ich hoffte und zählte darauf, dass sie alle wussten, dass ich in der Tiefe meines Herzens nicht wirklich schlecht war. Ich war nur schwach und unglücklich.
Dies ist das Kapitel „Das Ende“ aus „Höllensturz“ dem zweiten Band meiner Biografie „Umwege. Die innere Reise“ (Erscheint voraussichtlich gegen Ende 2024)