Heimkehr

Wieder zurück nach Krefeld zu kommen, war die lang ersehnte Wiedervereinigung mit meiner Heimat. Ich verließ die Autobahn an der Abfahrt Oppum und fuhr von dort an nur noch durch alte, wohltuende Vertrautheit. Es war, als kehrte ich zurück in die heile Welt der Vergangenheit, in der ich ein glückliches Kind und ein aufblühender junger Mann gewesen war. Um diese wohltuenden Gefühle des Heimkommens verstärkt aufzunehmen, machte ich vom Bockumer Platz extra den Schlenker durch die Windmühlenstraße, die Kulisse meiner Grundschulzeit. Ich rollte langsam an den wenigen Metern Bürgersteig entlang, die damals meine ganze Welt gewesen waren und auf denen sich meine frühe Kindheit abgespielt hatte. Ich sah mich als Vorschulkind mit Stützrädern hier entlangsausen. 

Mein Herz ging auf, als ich wenig später die wunderbare Allee der Uerdinger Straße entlangfuhr, die ich ebenfalls seit frühsten Kindertagen schon kannte und die ich in allen Altersstufen mit dem Fahrrad, der Straßenbahn und später mit ersten klapprigen Autos hinauf- und herabgefahren war. Die vorbeigleitenden Anblicke erschienen mir vertraut wie Teile meines Körpers. Erlöst atmete ich tief ein.

Endlich war die Fremde überwunden. Das tat gut. Ich liebte das sich über die Straße wölbende Blätterdach der Bäume. Glitzernd und flackernd stach das Sonnenlicht hindurch, als ich darunter entlangglitt. Ich kam heim. Krefeld war der Ort, an den ich irgendwie gehörte. Es fühlte sich wunderbar an. Die Wunden, welche durch die lange Trennung in mein Herz gerissen worden waren, schlossen sich augenblicklich auf die schönste Weise. Mit dankbar staunendem Blick fuhr ich die Straßen entlang, sah mich ununterbrochen in alle Richtungen um und war glücklich, endlich wieder hier sein zu dürfen.

Ich bezog eine Wohnung auf der Uerdinger Straße, ungefähr in Höhe des Von-Beckerrath-Platzes. Anfangs hatte ich noch Lebensschwung und neue Pläne und begann in der ganzen Wohnung Laminatboden zu verlegen. Möbel hatte ich ja eigentlich noch nie besessen, aber das würde sich alles irgendwie finden. Auf Geld hatte ich ja wegen des 10.000 Mark Kredits noch Zugriff. Zunächst schlief ich jedoch noch in Ermangelung eines Bettes mit Hundi im Arm auf einer Matratze. Das Geld gab ich lieber für Drogen als für Möbel aus.

Ich wohnte in der 3. Etage und vom Küchenfenster sah ich nachts die gelbe Leuchtreklame eines Schlüsseldienstes hineinleuchten. Darunter blickte ich auf das vertraute Bild der Uerdinger Straße hinab. Tagsüber konnte man sehen, wie sich die Straßenbahnen unter ihren Oberleitungen dort entlangschoben. Es waren die gleichen Linien, mit denen ich als Kind täglich zur Schule gefahren war. Meine alte Schule, das Moltke-Gymnasium, war nicht weit von hier und auch das „Movies“, das in meiner persönlichen Geschichte so wichtige Bistro, um welches herum sich die wohl glücklichste Zeit meines jungen Lebens abgespielt hatte, wäre nicht weit entfernt gewesen, nur ein paar Steinwürfe entfernt, aber leider gab es dieses Lokal schon lange nicht mehr. Es gab viele zuckersüße Erinnerungen aus verschiedenen Lebensphasen und alle waren mit Orten in dieser Stadt verknüpft. Es genügte ein Blick aus dem Küchenfenster. Da drüben, auf der anderen Straßenseite, in der Von-Beckerrath-Stube waren wir zu Zeiten der alten Werbeagentur oft mittags zum Essen gewesen. Ich schmunzelte hinter der Fensterscheibe, als ich kurz daran dachte. Jetzt war ich also wieder mittendrin in meiner Heimatstadt, in meinem Leben. Alles atmete Erinnerung und war bedeutend. Ich spürte meine Wurzeln und es war gut so.

Morgens sprangen Hundi und ich auf und ich schlüpfte schnell in die Jeans und dann eilten wir die Stufen im kühlen und dunklen Treppenhaus hinab. Hundi hüpfte vor Freude, hechelte aufgeregt und wuselte direkt zum nächsten Bäumchen, um ihr Geschäft zu machen. Ich wandte mich zu Fuß in Richtung Stadt und nach wenigen Metern standen wir an der Ampel der großen Kreuzung Uerdinger- und Philadelphiastraße. Ich sagte zu Hundi, dass sie sich setzen solle und das tat sie auch. Brav hechelnd sah sie treu zu mir auf. Es war keine schöne Kreuzung. Sie war grau und lärmend und überhangen von Straßenbeleuchtung, Ampelanlagen und den Oberleitungen der Straßenbahn. Darunter hatte immer schon, soweit ich mich zurückerinnern konnte, ein stets dichter Verkehr geherrscht, aber jetzt, am sehr frühen Morgen, ging es eigentlich noch.  

Als ich so dastand und wartete, dass es grün wurde, sah ich mich um, und mein Blick streifte gleich zwei Gebäude, die mich an meine toten Ahnen erinnerten. Blickte ich etwas nach links in die Philadelphiastraße hinein, dann war dort das Gebäude, in dem das erste Krefelder Büro meines Vaters gewesen war. Die Fassade war nun anders gestrichen, aber ich erkannte es dennoch sogleich wieder. Kurz tauchte in meinem Inneren das verschwommene Bild meines fast nicht gekannten Vaters auf. Es waren verwackelte, verblichene Szenen aus den siebziger Jahren. 

Sah ich geradeaus, stadteinwärts, die Uerdinger Straße entlang, die ab dort „Rheinstraße“ heißt, dann sah ich die auffällige quietschgelbe Fassade eines Hauses, in dem meine Oma Anneliese, Daddys Mutter, gelebt hatte, als sie damals, nach seinem Tode aus Frankfurt nach Krefeld gezogen war um Mutter und mir in schwersten Zeiten beizustehen.

Oma und Dad waren schon lange tot. Nachdem ich zuletzt in Frankfurt auch noch vom Tod meines Großvaters erfahren hatte, fühlte ich mich als der letzte Überlebende aus der Blutreihe der Familie Bost. Es wurde grün und ich beeilte mich, die breite Kreuzung zu überqueren. Auch diese Gefühle gehörten dazu. Sie reihten sich ein, in den überbordenden Strauß der Emotionen, die mich mit jedem Schritt auf diesem Boden einholten. In Krefeld atmete jeder Rinnstein, jeder Gullideckel, lebendige Erinnerung. Die bekannten Fassaden und Geschäfte umarmten mich wie eine Fassung, in die ich gehörte. Jede Häuserecke schien zu sagen: “Schön, dass Du wieder da bist!”

So wurde die dunkle Trauer, die mich eben an der Kreuzung noch kurz überschattet hatte, ein paar Schritte weiter schon wieder verdrängt von ganz anderen, leichteren Gefühlen. Da drüben war der „Herkules Grill“ und ich erinnerte mich daran, wie wir dort als gegelte, braungebrannte Jungs, so um die 18 rum, Pommes gegessen und an einem Spielautomaten „Daley Thompson’s Decathlon“ gespielt hatten. Jene Tage waren glückselige, leichte Tage gewesen, voller Jugend und Freude. Ich sah meine alten Kumpels kichern und grölen. Ich dachte an Ameise, Spicker, Mocca und den ganzen durchgedrehten Haufen und lächelte dabei selig.  

Ich ging und genoß die Vertrautheit der Umgebung. Auf unserem weiteren Weg in das Stadtinnere erschnüffelte Hundi alles ganz genau, denn sie kannte es ja noch nicht. Für Hundi war Krefeld neu.

Nach meiner dreijährigen Odyssee, die mich meiner Heimat entrissen hatte, tat es nun unendlich gut, wieder genau jene vertrauten Gehsteige entlangzugehen, die ich schon als Kind gekannt hatte. Ich dachte kurz an den seltsamen und langen Umweg zurück, den ich in den letzten drei Lebensjahren gegangen war. Es war schon eine merkwürdige Reise, die ich da im Winter 1996 angetreten hatte. Mein hilfloser Drift durch das Leben hatte von der ersten Therapie am Bodensee, über den Knast in Münster, ins Schloss nach Bergisch Gladbach und in seinem weiteren Verlauf über die Ostsee letztlich nach Frankfurt geführt. Als ich mich so zurückbesann, fiel mir auf, dass es eine einzige Stolperei gewesen war, dass ich ziellos im Leben herumgeirrt war, ohne irgendwo auch nur den geringsten Halt zu finden. 

Etwas von dieser vermissten Sicherheit, von einem selbstverständlichen Lebensglück, das man einfach nur geschenkt bekam, vermittelten mir nun Krefelds Straßen. “Wozu also das Ganze?” fragte ich mich. “Ich hätte gleich hier bleiben sollen. Ich bin auf Drogen und in Krefeld.” Es fiel mir auf, dass sich tatsächlich ein Kreis geschlossen hatte. Ich kam in der gleichen Situation wieder aus. “Dazu hätte ich den ganzen Scheiß nicht gebraucht…” sagte ich in Gedanken zu mir. 

Was ich damals jedoch noch nicht wusste, war, dass im Leben kein Umweg, keine Erfahrung, jemals wirklich vergebens ist. Auch wenn mir in diesem Augenblick die durchfühlten Erlebnisse der letzten Jahre zum größten Teil  sinnlos und schmerzhaft erschienen, so hatten sie zweifelsohne dazu beigetragen, dass sich das Spektrum meiner Lebenserfahrung geweitet hatte. Das war die Wahrheit, auch wenn ich mir dessen damals noch nicht bewusst war. Heute weiß ich, dass wir auf unseren Umwegen meistens Dinge erfahren, die notwendig sind, dass sie uns über Punkte führen, die wir irgendwie mitnehmen sollten. Am Ende sind sie somit gar keine Umwege mehr. Als ich im Sommer 1999 die Heimkehr in die Straßen Krefelds genoss, hatte ich das aber noch lange nicht begriffen und war noch weit von der Lösung des eigenen Rätsels entfernt.

Der junge Mann, der da gegen das erste Sonnenlicht des Tages in Richtung Innenstadt schlenderte, war ich nicht mehr derselbe wie vor drei Jahren. Noch mochten die Puzzleteile zwar keinen großen Sinn, kein ganzes Bild ergeben, aber das würde sich noch fügen. Vorerst gab ich mich damit zufrieden, dass ich fürs Erste wenigstens gelernt hatte, wie wertvoll mir die Heimat war.

Vorerst schien alles beim Alten zu sein. Ich ging am Ostwall in der großen Filiale der Sparkasse zum Geldautomaten, stopfte mir ein paar Hunderter in die Hosentasche und spazierte weiter zum Anne-Frank-Platz, wo sich die Junkies neuerdings trafen, seitdem man sie vom Neumarkt vertrieben hatte. Die Sonne schien noch nicht mit großer Kraft, weil es früher Morgen war. Sie kletterte erst langsam im Rücken der Häuser hinauf. 

Ein paar bekannte Gesichter traf ich immer in den Straßen Krefelds. So auch hier unter den Junkies. Ich habe zeitlebens immer eine große Zugehörigkeit zur Drogenszene gespürt. Wie ich waren die anderen in aller Herrgotttsfrühe in den Straßenschluchten aufgetaucht, weil sie dem Ruf des Heroins gefolgt waren. Ich setzte mich zu ihnen und sie freuten sich. Alle liebten sofort Hundi, die schwanzwedelnd und freundlich auf jeden Menschen zuging, ob Junkie oder nicht. 

In den vertrauten Treppenaufgängen der Tiefgarage machte ich mir einen Schuss und war somit auch wieder heim im warmen Schoß des Heroins. “Es ist gut so!” dachte ich und irrte mich dabei natürlich grundlegend.

Es war also eine Heimkehr in jeder Beziehung. Das bedeutete aber auch, dass der ganze Aufwand mit den Therapien und alle weiteren Bemühungen scheinbar vergebens gewesen waren. Was ich auch immer an menschlichen Erfahrungen in dieser Zeit gemacht haben mochte, zunächst führten sie im Hier und Jetzt zu keiner sichtbaren Veränderung. Noch hatte ich augenscheinlich nichts gelernt. Im Gegenteil. Wenn wir meine Lebenssituation von oben betrachten, dann war ich durch die Wendungen, die ich meinem Leben in den letzten Jahren gegeben hatte, höchstens noch instabiler, noch irritierter geworden und steckte tiefer denn je im gewohnheitsmäßigen Drogenkonsum. Und was ich bei alledem nicht wahrhaben wollte oder wozu ich mich noch nicht imstande befand zu verstehen, war, dass tief drinnen in mir ein Gefühl der Enttäuschung wuchs: Über das Leben und mich selbst. In den kommenden Jahren würde diese Verzweiflung wie ein Stein in meinem Magen stetig wachsen und mich wie ein rostiger Anker in die Tiefe zerren.

Aber die Betäubung des Heroins ließ mich diese Sorgen gleich wieder vergessen. Der Rausch strahlte in mir wie eine innere Sonne und ich war froh und leicht, denn jetzt schwamm ich wieder in meinem Element. Ich war wieder back in Town und mein täglicher Gang mit Hundi zum Bankautomat und zur Szene war wie ein freier und fröhlicher Tanz im Sonnenlicht. Das Rauschgift und das Heimatglück ließen für den Moment alles so einfach erscheinen! Ich schwebte nach langer Zeit endlich wieder in einem leichten Glück und empfand wohligen Frieden. 

Der Geldautomat spuckte die Heroingutscheine gutwillig aus und ich musste sie nur ein paar Meter weiter tragen. So waren die ersten Wochen und Monate ein sorgloser Spaziergang. Es war Sommer und ich bewegte mich in seinem goldenen Schein wie in wohltemperiertem seidigen Wohlsein. Ich ahnte nicht oder wollte nicht ahnen, dass ich mich durch dieses sorglose Tun unweigerlich zu einem weiteren, noch viel grausameren Umweg verurteilte. Dieser Lebensstil war substanzraubend. Die Insel der Seligkeit würde ich nicht mehr lange bewohnen. In der Konsequenz würde ich unweigerlich und bald schon auf eine rauere See geraten, als ich sie je gekannt hatte. Diese gezählten, unbesorgten Tage, die ich jetzt noch durchlebte, waren wie eine unerlaubte Pause vom Leben, als wäre die Zeit für ein paar wenige Wochen geraubten Glücks angehalten. Es war ein gestohlener, geliehener Traum. In ihm tanzte ich mit Hundi über die sonnenhellen Straßen Krefelds. 

Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ich grausam erwachen würde. Am Horizont braute es sich schon schwarz und donnergrollend zusammen. Ein Sturm würde kommen. Er musste kommen, weil ich ihn selbst heraufbeschwor. Der erste Donner würde an jenem Morgen treffen, an welchem das Geld endgültig zu Ende war. Der Sturm würde hart und unerbittlich sein und mich ich weit auf einen Ozean aus grenzenloser Verzweiflung hinaustragen. Das Unwetter, was sich da anbahnte, würde mich in den tiefen Schatten am Grund des Niederganges treiben und ich würde einen elenden Pfad durch große Trostlosigkeit mit zitternden Schritten gehen müssen, bis ich endlich begriff, bis ich endlich lernte. Wenn ich dies nicht tat, lernte ich nicht, wäre ich dazu verdammt dumm auf der Wegstrecke zu verenden.

„Heimkehr“ ist ein Teil des Kapitels: „Millenium“, aus dem Buch: „Höllensturz“ (Umwege. Die innere Reise. Band 2) Es erscheint voraussichtlich noch 2024.

"Heimkehr" ist ein Abschnitt aus dem Kapitel "Millennium" aus dem Buch "Höllensturz" von Sven Bost

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