Daytop

Neue Leseprobe aus "Höllensturz" (Umwege. Die innere Reise. Band 2): Daytop.

Lesen Sie den Anfang des Kapitels: "Daytop" aus "Höllensturz" (Das Buch ist augenblicklich in der letzten Bearbeitungsphase und wird voraussichtlich noch in 2024 erscheinen.)
Höllensturz wird voraussichtlich noch in 2024 erscheinen.

Die Szene war eine Wiederholung. Das rote Auto meiner Drogenberaterin erwartete mich vor dem Gefängnistor. Ich schulterte meine Taschen und schritt grinsend auf sie zu. “Hi…” sagte ich durch die geöffnete Wagentür und warf meine Taschen auf den Rücksitz. “Hallo..” sagte mein rettender Engel und lächelte freundlich zurück. Diese Frau hatte mich durch ihre Arbeit rausgeholt. Etwas schämte ich mich für die Umstände, aber gleichzeitig durchströmte mich auch ein gigantisches Gefühl der Erlösung und Befreiung. “Danke, dass sie mich so schnell da rausgeholt haben…” bedankte ich mich bei ihr und sie antwortete wie selbstverständlich: “Das ist ja mein Job!”

Nun saß ich wieder neben ihr und wir fuhren los in Richtung Bergisch Gladbach. Es war die gleiche Szene wie ein paar Monate zuvor, als sie mich aus der Entgiftung in den Süden Deutschlands gefahren hatte. “Auf ein Neues!” dachte ich und das Auto setzte sich in Bewegung. Es ist ein komisches Gefühl, wenn du irgendwohin gebracht wirst, wo du noch nie warst und nichts von diesem Ort weißt, außer dass du dort leben wirst, ob es dir nun gefällt oder nicht. Der gleiche wilde Emotionscocktail wie vor rund einem halben Jahr begann in meinem Inneren aufzusteigen. Die Freude darüber, dass ich den Knast erstmal hinter mir hatte, mischte sich mit dem Frust nicht wirklich frei zu sein und der Besorgnis über das Ungewisse, das mich erwartete. Es war eine widersprüchliche Mischung von Gefühlen. Meine nun wiedergewonnene, teilweise Freiheit hing buchstäblich an seidenen Fäden. Ein falscher Move und ich würde wieder im Gefängnis landen, dann wohl ohne eine weitere Chance auf Therapie. Es war also keine wirkliche Freiheit, aber es war eine ratenweise Chance der echten Freiheit näherzukommen. 

Mit Gedanken dieser Art starrte ich auf die vor uns liegende Straße. Gleichzeitig sog ich den Anblick von Menschen und Straßen und dem freien Sommerhimmel darüber ein, denn ich hatte all diese Dinge seit Monaten nicht mehr erlebt. Ich sah auf banale Alltagsszenen im Straßenbild einer Stadt, die auf einmal wertvoll für mich waren: Menschen an der Ampel. Frauen, die die Straße überqueren. Ein Mann in einem Cabrio. Ein Hund neben ihm. Wenn man monatelang nur Gefängniswände gesehen hat sind solche Anblicke pures Gold.

Passend dazu sagte meine dunkelhaarige Drogenberaterin nur wenige Augenblicke später: “Diesmal musst Du es aber durchziehen!” Ich wusste natürlich, dass sie recht hatte. “Auf jeden Fall!” entgegnete ich lächelnd und fügte dann mit erstorbenem Lächeln noch hinzu: “Dahin möchte ich nicht unbedingt zurück…” Sie nickte und sagte bloß: “Gut!”

Münster lag schnell hinter uns und bald rahmten uns die Leitplanken der Autobahn ein. Meine Gedanken rannten im Kopf umher und ich fragte meine Drogenberaterin: “Wie ist es da?” Es war wirklich die exakte Kopie unserer damaligen Fahrt, sogar die Fragen waren gleich. Ein echtes Déjà-vu. Während sie unablässig den Verkehr um uns herum beobachtete, sagte sie nur: ”Soweit ich weiß, soll es ganz gut da sein. Ich habe schon ein paar Klienten dahin gebracht. Die meisten fanden es wohl ganz gut.” Hatte sie beim letzten Mal nicht genau dasselbe geantwortet? Aber was sollte sie auch anderes sagen? Sie war eine Drogenberaterin und natürlich konnte sie nicht im Detail wissen, was mich da genau erwartete. Sie machte ihren Job und sie machte ihn augenscheinlich sehr gut, denn dank ihr war ich immerhin recht schnell wieder aus dem Gefängnis rausgekommen. Ich war ihr dankbar dafür. Ich atmete tief ein und aus. Na ja, wir würden sehen müssen… Ich musste es selbst erfahren und herausfinden.

Als die ersten Hinweisschilder mit dem Ortsnamen “Bergisch Gladbach” auftauchten, stieg meine Aufregung. Schon wenig später fuhr der rote Kleinwagen durch eine altertümliche Toreinfahrt und dann sah ich es zum ersten Mal: Das ockergelbe Schlößchen, umfasst von einem Burggraben, der ganz grün vor Algen war.

Die beschauliche Szenerie wurde recht freundlich von der Junisonne beschienen, als wir auf dem Innenhof einrollten. Auf den ersten Blick sah es eigentlich ganz schön aus. Eine kurze Steinbrücke führte über den Graben auf die alte, hölzerne Eingangstüre zu. Ein paar junge Leute lehnten rauchend an einem Geländer. Als ich mit meiner kalkweißen Gefängnisblässe und den schweren Taschen an ihnen vorüber ging, beäugten sie mich, aber es war viel weniger gruselig als im Knast. Es waren sogar junge Frauen darunter. Ein paar sahen mich recht verkniffen an, andere lächelten und sagten: “Hi!”

Ich tat einen Schritt in die angenehme Kühle des Schlößchens hinein und war überrascht. Immerhin, verglichen zu meinem vorherigen Domizil, der Justizvollzugsanstalt Münster, musste man es als einen gehörigen Aufstieg bezeichnen. Ich drehte mich im Eingang noch einmal um, und sah im grellen Sommerlicht über den Burggraben hinweg eine Baumallee entlang, zu deren Seiten sich Wiesen ausbreiteten und an deren Rändern vereinzelt ein paar kleinere Gemüsebeete angelegt waren. Das sah alles nicht übel aus. Da war ein freier Himmel. Da waren Farben. Am hinteren Ende der kleinen Baumallee wartete ein mit Sand aufgeschütteter Volleyballplatz darauf, bespielt zu werden. Der Sommerwind bewegte die Blätter in den Baumkronen und das erzeugte dieses wunderbare Geräusch, jenes Blätterrauschen, welches mich schon seit Kindertagen immer besänftigte, wenn ich es vernahm. Angesichts dieser Schönheit tat ich einen kleinen Glücksseufzer und ich spürte wie eine ganze Reihe Steine von meinem Herzen kullerten. Meine Sorgen waren wie so oft unbegründet gewesen. Dies war bestimmt kein schlechter Ort.

Mit neuem Mut wandte mich wieder der Empfangshalle zu, wenn das nicht ein zu großspuriges Wort ist, für jenen hohen Raum, in dessen kühlem Halbdunkel ich mich nun überaus neugierig umsah. Schließlich wollte ich ja schnell sehen und verstehen, wo ich nun gelandet war. 

Der große Raum wurde von einer dunklen, breiten Holztreppe dominiert, die sich linkerhand im Halbkreis zu den höheren Etagen emporwandte. In einer Nische, in der Krümmung der Treppe, hing eine große, golden glänzende Messingglocke. Sehr merkwürdig. Aber gerade diese Glocke, die mir nun erstmals ins Auge fiel, spielte eine geradezu tragende Rolle in diesem Haus und in den kommenden Monaten würde ich noch lernen, was es damit auf sich hatte.

Es dauerte nicht lange und ich wurde sehr freundlich von eilends herbeistürmenden Mitarbeitern begrüßt. Meine schüchterne Unsicherheit verflog schnell, denn ich spürte, dass diese Leute solche Situationen gewohnt waren. Mit ihrer entspannten Gelassenheit und freundlichen Worten nahmen sie mir schnell meine Scheu. Alles was jetzt folgte, geschah in einer gewissen, geölten Routine, denn das Kommen und Gehen von Patienten gehörte hier quasi zum Tagesgeschäft. So wurde ich auch gleich mit freundlicher Professionalität übergangslos durch das Aufnahmeprozedere geleitet. 

Nach ein paar wenigen Formalitäten im Büro der Therapeuten, wurde ich von zwei Patienten abgeholt und durch das Haus geführt. Alle Gegebenheiten wurden mir ausführlich gezeigt und erklärt. Eine Unmenge von Regeln, Namen, Räumen und Terminen prasselte auf mich ein.

„Das kommt Dir jetzt viel vor, aber bald hast Du alles drauf, dann läuft das wie von selbst!“ sagte das blonde Mädel neben mir, als sie spürte, dass ich von der schieren Menge der Informationen etwas überfordert war. Sie war das erste Mädchen, das ich seit Monaten sah. Auch das fand ich natürlich irgendwie aufregend. Danach wurden in meinem Beisein sämtlichen Sachen aus meinen beiden Taschen von meinen beiden Begleitern doppelt gefilzt. Sie befühlten jede Naht meiner Klamotten und kontrollierten jede Socke. Dabei waren sie penibelst genau, um sicherzugehen, dass ich keine Drogen bei mir hatte. Als das getan war, schleppten wir meine Sachen auf eines der Zimmer, in dem ich wie jeder Bewohner von nun an ein Bett und einen kleinen Schrank haben würde. Ich sah an der Anzahl der leeren Betten, dass ich den Raum wohl mit drei weiteren Jungs teilen würde. Alles in allem wirkte das Schlößchen recht freundlich auf mich und dem ersten Augenschein nach, waren wir hier wirklich gut untergebracht. Durch das sonnenhelle Fenster winkten die vom Wind bewegten Bäume herein.

Ich kam also frisch aus der Haft in der neuen Therapie an und wie es der Zufall so wollte, gingen wir an diesem ersten Nachmittag gleich gemeinsam ins Freibad. Ich brauche hier nicht zu erklären, wie durchaus erfrischend das für mich in vielerlei Hinsicht war. Nach Monaten kam ich quasi direkt aus dem Schatten meiner Zelle in den sonnigen Pool. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Da liefen echte Mädchen aus Fleisch und Blut in Bikinis rum. Ich genoss jedes kleinste Detail. Die Sonne, die Gerüche von Gras, Chlor und Sonnenmilch. 

Ich stand, ganz bleich und beeindruckt, zwischen tobenden Kindern, halbnackten Frauen und all dem anderen lebendigen Treiben, welches üblicherweise an einem Sommertag in solch einem Freibad herrscht. Aus der Reduziertheit des Gefängnisses, aus der Entsagung und Enge, auf einmal in dieser strahlenden Buntheit zu stehen und die Gerüche einzuatmen, war überreich. Dankbar spürte ich die Sonne auf meiner Haut und sog alles in tiefen Atemzügen ein, sprang ins Wasser und tauchte ein, in eine wiedergewonnene Freiheit, deren Wert ich nun mehr zu schätzen wusste als je zuvor.

Auschnitt (Anfang des Kapitels „Daytop“) aus „Höllensturz“ (Umwege. Die innere Reise. Band 2, noch unveröffentlicht)

Entscheidungen

Trude, das Kanonenweib, die Hexe und ehemalige Mannheimer Hure wurde irgendwann selbst für die geduldigsten Therapeuten untragbar, weil sie einfach nicht damit aufhörte, ständig unfassbare Obszönitäten von sich zu geben. Sie war halt so und sie blieb sich treu darin. Trude war in diesem Punkt, ob nun gewollt oder ungewollt, beratungsresistent. Ihre verbalen Entgleisungen, die zwar immer noch zur allgemeinen Belustigung beitrugen und die in den unpassendsten Situationen nach wie vor ungläubiges Gelächter, Schamesröte und betretenes Kopfschütteln hervorriefen, wurden letztlich untragbar. Sie sank vor allem im Ansehen der Therapeuten, die diese Aussagen von ihr auf Dauer nicht dulden wollten und als alles nicht half, musste Trude schließlich irgendwann gehen. 

Sie war wütend über ihren Rausschmiss und während sie ihre Sachen einsammelnd durch das Blockhaus lief und fluchend ihre Koffer packte, stieß sie die übelsten Flüche und Schmähungen aus. Die Umstehenden lachten zum Teil, weil es eben zu lustig war, was sie sagte und wie sie schimpfte. Es war eine Komödie, ein vulgärer Vulkanausbruch. Sie lief zur Höchstform auf, während sie fahrig ihre Kleider zusammenstopfte und fluchte dabei wie ein Schwermatrose. Heute glaube ich, dass sie sich in diesem Moment verraten und verhöhnt vorkam, weil wir so fröhlich wirkten. Sie muss sich ungeliebt vorgekommen sein. Sie muss gedacht haben, dass wir sie verspotten. 

Nicht anders lässt sich jedenfalls erklären, warum Trude sich so grausam an uns allen rächte, als man sie schimpfend und fluchend im Auto zum nächsten Bahnhof brachte. In ihrer unbändigen Wut und Enttäuschung plauderte sie den begleitenden Betreuern auf dieser Autofahrt alle pikanten Geheimnisse aus, von denen sie wusste. Und das waren inzwischen eine ganze Menge. Sie leierte also innerhalb ihrer Wutrede eine lange Liste von Schandtaten ab und ließ nichts aus. Sie wußte von Sex, Besäufnissen und vielen kleinen schmutzigen Geheimnissen und Regelbrüchen, die wir in der Therapie hinter den Rücken der Betreuer begangen hatten. Vom Rücksitz des Autos her spie sie alles aus. Da legten die Therapeuten natürlich die Ohren an.

Wir saßen alle betreten im Stuhlkreis und starrten auf unsere Füße, die nur in Socken steckten, denn die Sauberkeit der Therapieräume wurde dadurch geschont, dass wir unsere Schuhe vor der Türe auszuziehen hatten. Der Raum war achteckig, denn Rudolf Steiner hatte etwas gegen rechte Winkel, glaube ich. In diesem Octagon herrschte eine fast atemlose Stille und Anspannung. Die ganze Gruppe, also alle Bewohner der beiden Blockhäuser, waren zur Krisenintervention in diese Sondergruppe gerufen worden. Ausnahmezustand. Wir durften nicht miteinander reden. Wir tauschten vielsagende Blicke und bissen uns auf die Zähne.

Vorher hatten wir die Anweisung bekommen, alle Regelbrüche, von denen wir wussten, aufzuschreiben. Diese Listen hatten wir nun schon abgegeben. Unsere Beichten quasi. „Es geht um Euren weiteren Aufenthalt bei uns!“ hatte der Therapeut streng und wütend erklärt. „Wenn ihr etwas verschweigt, von dem wir nun wissen, dann müsst ihr gehen, ohne ‚Wenn und Aber‘! Dies ist jetzt die letzte Gelegenheit, sich ehrlich zu machen! Wir brauchen hier Ehrlichkeit, sonst haben wir keine Grundlage für eine funktionierende Zusammenarbeit mehr!“

Sie hatten uns natürlich nicht gesagt, was sie alles wussten. Das war ein sehr cleverer Schachzug. Jetzt pressten sie noch die allerletzten Geheimnisse raus. Schwitzend hatten alle über ihren Zetteln gesessen und darüber nachgedacht, was Trude gewusst haben konnte und was nicht. Und was würden die Anderen beichten? Wer würde dichthalten? Wie groß würde diese Lawine der Schande werden? Naja, jetzt waren die Listen jedenfalls abgegeben und wir harrten der Dinge, die da über uns kommen würden. Auf einmal war richtig Druck im Busch. Es war ein sehr spannender Moment, immerhin ging es ja um Knast für mich. 18 Monate, wenn es schlecht lief.

Der Therapeut kam nun nach einiger Zeit aus seiner Teambesprechung mit strenger Miene zurück und wir erwarteten ihn wie einen Richter, wie Angeklagte, die ihren Schuldspruch entgegennahmen. Die Spannung im Raum war hoch und löste sich nur langsam, als die Dinge im Einzelnen zur Sprache kamen und geklärt und besprochen wurden. Es verlief glimpflicher, als ich erwartet hatte, bis der Punkt kam, an dem der Therapeut mit ernster Miene fragte, wer denn noch alles mit Pocahontas geschlafen habe. „Ich bitte da um ein Handzeichen!“ sagte er und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Und ich sah Pocahontas an. Sie verbarg ihr rotes Gesicht, peinlich berührt von Scham und wegen der Ungeheuerlichkeit der Situation lachend, hinter ihren Händen. Zögernd hob ich meinen Arm und ich war nicht schlecht geschockt, als ich sah, wie in dem Raum ein Männerarm nach dem anderen aufzeigte. 

Am Ende waren es mindestens fünf Arme, die in die Luft zeigten. Ich war entsetzt. Siehe da: Pocahontas war wohl ziemlich zugänglich gewesen. Ich hatte gar keine Zeit meine Gedanken und Gefühle zu sortieren, denn nun verkündete der Therapeut, dass angesichts dieser Lage keine andere Entscheidung möglich sei, als dass Pocahontas nun auch gehen müsse. Ja, das war klar. Ein solches Mädchen würde den Laden ständig durcheinanderwürfeln. Sie war zu hübsch und zu heiß für dieses Camp. Ich blickte in die Runde und mir wurde klar, dass in der Gruppe einige in sie verliebt waren und ich gehörte wohl auch dazu.  

Nach ein paar Schrecksekunden dämmerte mir, dass die Therapie ohne sie ihren ganzen Zauber verlieren würde. Sie wäre einfach nicht mehr da. Sie würde überall fehlen. Ihre Stimme würde nicht mehr, hoch und schön, durch die Gänge hallen, mein Blick würde sie nicht mehr finden, wenn wir morgens zum Stall marschierten. Sie wäre einfach nicht mehr da. Es würde keine verstohlenen Blicke mehr in grüne Augen geben, keine heimlichen Küsse, kein vielsagendes, keckes Lächeln aus diesem hübschen Gesicht. Von nun an würde dieser Ort wie ein Himmel ohne Sonne sein. Ich stellte mir vor, wie leer sich alles ohne sie anfühlen würde und in meiner Brust zog sich etwas zusammen. 

Und deswegen ging ich gleich mit. Einzig von dem Impuls getrieben, dass ich mir eine Zukunft in der Therapie ohne sie nicht vorstellen konnte. Ich packte meine Sachen, ohne noch weiter darüber nachzudenken.

Heute, 30 Jahre später, sitze ich an meinem Laptop und tippe mit sehr gemischten Gefühlen diese Zeilen in die Tastatur. In meiner Erinnerung sehe ich dies alles noch ganz deutlich vor mir und ich empfinde sogar sehr deutlich nach, was ich damals fühlte. Diese Mischung aus Verliebtheit, Aufregung und Ungewissheit. Ich kann mein jüngeres Ich verstehen, aber gleichzeitig weiß ich auch, was danach passierte und was für eine kolossale Fehlentscheidung das damals war. Es ist einer der wenigen Momente, die ich wirklich bereue. 

Wieder einmal traf ich eine folgenschwere Lebensentscheidung ohne jede Vernunft, ohne jeden Verstand. Meine Gefühle und meine gehegten Vorstellungen von der Zukunft machten es mir damals unmöglich, anders zu handeln, obwohl ich wusste, dass es unweigerlich lebensverändernd sein würde, wenn ich jetzt ging. Ich hätte bleiben dürfen. Und nach einer Weile hätte ich mich sicher an die neue Situation gewöhnt. Tja, das wäre viel besser für mich gewesen. Aber über eine solche Vernunft verfügte ich einfach nicht. So bog ich in einen weiteren Umweg des Lebens ein, einen Weg, der mich steil nach unten führen und Leid in neuer Dimension bedeuten sollte.

Pocahontas und ich wurden am nächsten Morgen zum Bahnhof gebracht. Wir ließen die Holzhütten und den Bodensee, die schöne Natur, die Kühe und die Alpen und all diese Schönheit hinter uns. 

Da standen wir am Gleis und ihre schwarzen Haare wehten im schneedurchstöberten Wind und sie lächelte mich verunsichert an. Wir waren beide von den Ereignissen überrumpelt worden. Wir fuhren noch eine Strecke mit dem Zug zusammen. Da saß sie mir gegenüber. Bei Regensburg musste sie raus. 

“Du kannschd bei mir schlafa…” bot sie mir an, als die gemeinsamen Minuten schließlich knapp wurden. Sie erzählte mir schnell, dass sie zwar bei den Eltern wohnte, aber ihr eigenes Reich im Elternhaus habe. Das wäre alles kein Problem. Ich schüttelte den Kopf und küsste sie ein letztes Mal und schmeckte das Salz ihrer Tränen. Dann entstieg Pocahontas, dieses wunderhübsche Mädchen, mit einem letzten weinenden Blick über ihre Schulter hinweg, dem Zug und meinem Leben.

Aus dem zweiten Teil von „Umwege. Die innere Reise“: „Höllensturz“ (Augenblicklich in Arbeit, wird wahrcheinlich noch dieses Jahr -2024- erscheinen)

Geistertrude

Eines Abends saßen wir bei Kerzenschein in einem der beiden Blockhäuser im Gemeinschaftsraum beisammen und Trude hatte die glorreiche Idee, dass wir „Gläserrücken“ machen sollten. Ich wusste gar nicht, was das ist und deswegen war ich mir unsicher, was ich davon halten sollte. Einerseits fand ich es albern, aber andererseits hatten wir ja nicht viel Abwechslung in unserer Freizeit. Außerdem war ich mir auch nicht ganz sicher, ob das alles nur Blödsinn war mit der Geisterwelt. Trude war sich zu 100% sicher, dass diese Dinge zweifelsfrei real waren und so setzte sie mit ihrer Dampfwalzenmentatlität durch, dass wir uns zu einer Geisterbeschwörung trafen. Sie duldete keinen Widerspruch.

Noch in dieser Nacht stellte das dunkle Blockhaus, mit den zugeschneiten Fenstern und dem zuckenden Kerzenlicht darin, die ideale Kulisse für das, was sich nun ereignen sollte. Ob man nun an sowas glaubte, oder nicht: Es wurde recht schnell ziemlich unheimlich in dem Raum. Wir saßen um den großen runden Tisch und das Kerzenlicht spiegelte sich in unseren Augen. Am Tischrand hatten wir auf Zettel geschriebene Buchstaben ausgelegt. Außerdem lagen in der Mitte zwei Karten mit „Ja“ und  „Nein“. Trude rief uns alle auf, dass wir ganz still sein und uns konzentrieren sollten. Alle berührten wir mit einer Fingerkuppe das umgedrehte Glas in der Tischmitte und dann rief sie theatralisch in das Dunkel hinein: „Geischt, bisch Du da?“ Erst passierte gar nichts. Aber dann begann das Glas ganz leicht zu rucken und wenig später bewegte es sich dann recht eindeutig in eine Richtung. Bald schon schoss das Glas, wie von Geisterhand bewegt, hin und her über den Tisch. Einer von uns notierte die Buchstaben und Zahlen.

Im Laufe dieser Séance, die sich zu einem dramatischen Höhepunkt steigerte, nahm nun unsere gute Trude mit ihrem toten Vater Kontakt auf, beziehungsweise meinte sie Kontakt mit ihm aufgenommen zu haben. Jetzt wurde es vollkommen grotesk und unheimlich. Wir waren alle so angespannt, dass uns die Nackenhaare zu Berge standen. Schließlich, wie in einem schlechten „Edgar Wallace“ Film, fragte sie, nur spärlich und silhouettenhaft von einer der Kerzen angeleuchtet und in ihrem ureigenen Mannheimer Dialekt:“Hät se Dich umgebracht?“ Und als das Glas dann ruckelnd auf die „Ja“ Karte zusteuerte, schrie sie grell auf und begann schrecklichst zu weinen und ihr zuckender Schatten tanzte hinter ihr im unsteten Kerzenlicht an der hölzernen Wand.

Also das war vielleicht eine Vorstellung!

Unter Tränen erzählte sie uns nun ihre Geschichte. Sie handelte von dem guten und reichen Vater und der schlechten Mutter, die, so glaube ich, mich heute noch zu erinnern, beide inzwischen verstorben waren. Die Atmosphäre in diesem Raum war nun absolut gespenstisch. Umzüngelt von tanzenden Kerzenlichtschatten berichtete sie, dass man sie entmündigt hatte und ihr eigentlich ein Erbe von 2,8 Millionen zustünde. Angeblich würde dies derzeit von einem Treuhänder verwaltet. Man mochte es glauben oder nicht. Ferner verdächtigte sie ihre Mutter den Vater umgebracht zu haben. Ob sie nun log, verrückt war oder nicht: Dies war einer der gruseligsten Momente meines Lebens. 

Später, als wir die Séance fortsetzten, gab der Vater sogar noch ein Aktenzeichen durch, welches sie sich genauer ansehen solle. Im Morgengrauen beendeten wir diese anstrengende Sizung und jeder schlich zutiefst irritiert in seine Kammer.

Seit dieser Nacht klebte jedenfalls ein Russe an ihr. Für die Aussicht auf Millionen war er nur zu gerne bereit, über ihre Körperfülle und das unmögliche Benehmen hinwegzusehen. Mir zwinkerte er immer grinsend zu und sagte: „Dwa sepetaja vosem“ oder so ähnlich, es hieß „Zwei Komma Acht“ auf russisch und gemeint waren die 2,8 Millionen von unserer schandmäuligen Mitbewohnerin. Er lachte mich an und dann schlich er durch den Schnee zu ihrem Zimmer, um sie zu besteigen, denn dass Trude brünstig und willig war, hatte sie von der ersten Minute ihres Therapieaufenthaltes unaufhörlich verkündet. Einmal brüllte sie es über die ganze Anlage hinweg und wir lachten uns wieder einmal kaputt, weil man gar nicht anders konnte. Die Ärmste wurde jedoch für diese Entgleisung von unseren Therapeuten für einen ganzen Tag in „Klausur“ geschickt, also in Einzelhaft, auf ein separates Zimmer, wo sie sich besinnen sollte.

Eines Nachts schlichen wir uns aus der Einrichtung davon. Trude, ihr Russe, Pocahontas und ich. Wir wollten ausbüxen und irgendwo etwas trinken gehen, ein bisschen feiern. Schleichend entfernten wir uns als schwarze Schatten von den Blockhäusern, als alle anderen schon schliefen. Zu viert liefen wir durch den knietiefen, im Mondlicht silber-blau leuchtenden Schnee. Wir wanderten an dem Hof vorbei, in dem wir tagsüber arbeiteten und drangen danach in unbekanntes Gebiet vor. Keiner kannte sich hier aus. Wir gingen einfach ins Ungewisse, in die fremde Dunkelheit zwischen Waldrand und weitem Tal. Silbern vom Mondlicht beschienen, kicherten wir mit einem diebischen Vergnügen über unsere unverfrorene Tat. Ein aufregendes, belebendes Gefühl von verbotenem Abenteuer kam in uns auf. Wir lachten über das Glück, über diese gestohlene Freiheit. Sie prickelte wie Sekt in unseren Adern.

Der große, volle Mond ließ die Schneekristalle wie kleine Diamanten glitzern und es passte auf wundervolle, vollkommene Art und Weise zu den Sternen über uns. Wir stapften kichernd und lachend durch den leise knarzenden Schnee. Es war sehr aufregend. Es war natürlich streng verboten. Es war im wahrsten Wortsinne traumhaft. Wir bahnten uns unseren Weg durch den tiefen Schnee, umrahmt von den schwarzen, gezackten Silhouetten der hohen Tannen bis wir irgendwann, schon tief durchnässt, eine Landstraße fanden, deren Verlauf wir daraufhin folgten.

Wir hatten die Hoffnung, dass wir dann zwangsläufig eine Ortschaft finden würden. Wie weit das sein mochte, konnten wir nicht wissen. Wir gingen einfach.

Wir kicherten, knutschten und marschierten wie die Kinder. Als wir der Straße einige Kilometer gefolgt waren, fanden wir tatsächlich einen kleinen Ort. Einer von uns hatte eine Bankkarte dabei. Wir zogen Geld an einem Automaten und gingen in die nächste Bar. Es war eine Dorfbar und wir waren die einzigen Gäste dort. Nach ein paar Stunden und einer Flasche Vodka kehrten wir sturzbetrunken, gerade noch rechtzeitig, kurz vor dem Wecken, zurück in unser Öko-Therapie-Dorf und krochen, nur Minuten vor dem Wecken, in unsere Betten. 

Keiner merkte etwas. Ich ging in den kommenden Nächten nun öfters durch den hüfthohen Schnee zu der benachbarten Holzhütte hinüber in der Pocahontas schlief, stieg durch das Fenster in ihr Zimmerchen, sank in ihr warmes Bettchen, zwischen ihre Schenkel und wir liebten uns flüsternd und heimlich im Dunkel ihres Raumes. Wenn ich es heute schreibe, hört es sich wie ein kitschiger Film an, zu perfekt für das wahre Leben, aber es war wirklich so. Draußen war es kalt und klar und aus dem Dunkel ihres Zimmers umfingen mich ihre Beine und Arme und leuchteten mich zwei grüne Augen an.

Sie war neunzehn. Ich glaube sie hat mir damals erzählt, dass ihr Vater Mexikaner war. Jede einzelne Moment bei ihr war gestohlen, war verboten und verwegen und deswegen waren diese Minuten wertvoll wie Aztekengold. Ich stahl sie des Nachts wie ein Dieb. Ich schlich unter Sternenlicht durch leuchtenden Schnee, steig bei ihr ein und versank im Amazonas-Dschungel, drang in den Inkatempel ein und nahm all ihr Gold. Sie hatte eine schöne, bronzene Haut, glatte pechschwarze Haare und ein hübsches Gesicht, dessen Konturen das fahle Mondlicht nachzeichnete. Ihre glockenklare Stimme stöhne leise und lustvoll in mein Ohr. Reicher kann ein Moment nicht sein.

Aus „Höllensturz“ Band 2 der Reihe „Umwege. Die innere Reise.“ Auszug aus dem Kapitel „Pocahontas“ Das Buch erscheint vorraussichtlich noch in 2024.

Kuhärsche

Weil ich, wie gesagt, eine akute Hepatitis C hatte und ich mich etwas schonen sollte, bekam ich im Kuhstall eine weniger anstrengende Rolle zugeteilt. Während die anderen Mist aufgabelten und in Schubkarren auf den großen Misthaufen schoben, bestand meine Aufgabe darin, die Tiere zu reinigen.  Eine sehr alte Dame, die mindestens einen der beiden Weltkriege noch persönlich erlebt hatte, unterwies mich militärisch und dementsprechend knapp und ruppig in meinem neuen Betätigungsfeld. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ ich diesen Tonfall über mich ergehen und beäugte sie dabei aus feindseligen Augenschlitzen. Die energische alte Bäuerin hatte eine drahtige Figur und trug ihr weißes Haar unter einem Kopftuch. Trotz ihres hohen Alters war sie noch wieselflink. Sie stand vor mir wie ein SS-Hauptmann. Mit schneidender, harter Stimme und rollendem “R”, trug sie mir kurzerhand auf, dass ich mich hinter die jeweilige Kuh stellen und die von getrocknetem Kuhdung starrenden Schweife einfangen solle: „Dann nimmst Du den Eimer her…Hier… So unter den Arm… und mit der anderen Hand fängst Du den Schweif und hältst ihn in den Eimer, damit sich der Dreck löst! Da fang an!“ Für mehr erhellende Worte hatte sie keine Zeit. Schon marschierte sie wieder von dannen und ließ mich allein hinter dieser langen Reihe kolossal verdreckter Kuhärsche stehen. Ich stand da zunächst recht ratlos und versuchte dann, recht schüchtern meinen ersten Kuhschweif zu fangen.

Die Kühe stanken gottserbärmlich. Sie hatten in ihren Fladen gelegen und sie waren wirklich komplett voller Mist und Dreck, der eingetrocknet in dicken Krusten an ihren Flanken klebte. Weil sie im Winter eingelagertes Stroh mit Melasse fraßen, hatten die Rindviecher alle Durchfall. Der Stall war eine olfaktorische Hölle. Der ganze Saal war vollgeschissen und vollgepisst. Ich rang nach Luft.

Jetzt stand ich da, eben noch quasi Vortänzer in der Königsburg, mit Gummi- statt Cowboystiefeln im Stall und versuchte Kuhschwänze zu fangen. Das war gar nicht so einfach, denn sie schlugen ständig nach Fliegen damit. Diese Rinderart hatte sehr lange Haare an ihren Schwänzen, es waren richtige Schweife, wie Pferdeschwänze fast. Diese langen Haare an ihren Schweifen sahen aber aus wie Dreadlocks, weil sie mit altem, versteinertem Mist verklebt waren, der in runden Kugeln und langen Würsten darin hing. Mit einem Eimer kalten Wassers unter dem Arm stand ich nun da und hatte den unmissverständlichen Befehl, diese zuckenden Mistpeitschen einzuweichen.

Man kann sich vorstellen, wie begeistert ich davon war. Und auch die Kuhdamen waren von dem ganzen Plan wenig angetan. Wer will schon seinen Schwanz in kaltes Wasser getaucht bekommen? Also ich jedenfalls nicht! Und so verstand ich es auch prinzipiell, dass sie sich nicht selten dabei widersetzten. Es konnte vorkommen, dass sich mir ein solcher Dungzopf entriss und dann peitschten sie ihn mir, halb eingeweicht, rechts und links, um die Ohren. Ein durchaus verzichtbares Erlebnis. Den mistverklebten Schweif zogen sie mir wie einen Pinsel, kreuz und quer durch mein verdutztes Königsgesicht. Was für ein Bild: Ich stand hinter der langen Reihe der verkackten Rindviecher und machte Armdrücken mit den Mistpeitschen, während ich den Eimer mit dem dreckigen, kalten Dungwasser unter dem anderen Arm hielt. Alles schwappte über mich und ich fühlte mich vom Schicksal verarscht. 

Wenn eine Kuh den Schwanz am Ansatz leicht anhob, dann musste ich schnell zur Seite springen, denn dann war sie im Begriff, einen Schwall breiartigen Melasse-Dünnschisses nach hinten abzufeuern. Nicht selten taten sie es mit solcher Wucht, dass der Strahl an die Wand hinter mir spritzte. Die Kühe schissen also sprichwörtlich die Wand an und ich jumpte dahinter mit meinem Eimer voller stinkender Brühe umher, wie Supermario bei Donkey Kong. 

Wenn ich die Kühe striegelte und zwischen ihnen stand, lief ich zwar nicht mehr Gefahr angeschissen zu werden, aber dann kam es vor, dass sie mich fast zerdrückten. Wenn zwei Rinder, die jedes circa eine halbe Tonne wogen, mich einklemmten, konnte ich sie nur mit einem gezielten Ellenbogenhieb in ihre Rippen davon abhalten mich plattzudrücken. Also wirklich leberschonend war dieser Job auch nicht. Nach einer Weile schaffte ich es, ca. 3 Kühe pro Tag zu säubern. Mit größter Mühe und Anstrengung gelang es mir, sie zu striegeln, abzuwaschen und ihnen den trockenen Mist vom Leib zu kratzen. Ich stand schweißgebadet daneben. Die Kuh sah aus wie neu! Ich hingegen spottete jeder Beschreibung. Ich war von oben bis unten voller Mist und Stroh und stank bis weit in die Alpen hinein.

Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel: „Pocahontas“ aus dem Buch:

„Höllensturz“ – Umwege. Die innere Reise. Band 2

Erscheint voraussichtlich noch in 2024…

Der Glücksfall

Irgendwann in dieser Zeit, da ich auf der Bahnstraße in diesem Loch wohnte, ja hauste, und auf dem besten Wege war ein ganz gewöhnlicher Junkie zu werden, als ich mich in einer Phase der Transformation in eine noch tiefere Daseinsform befand, gab es dennoch Erlebnisse, die wie letzte Funken meines früheren Daseins, als Posterboy und Held des Nachtlebens erschienen. Damit hatte ich ja eigentlich nichts mehr zu tun. Das war ein anderer Mensch gewesen, den ich schon so gut wie vergessen hatte. Die folgende Episode passte so gar nicht ins Bild, aber dennoch ereignete sie sich. Ich begriff es selbst nicht. Mein Sexleben war eigentlich im Heroinrausch schon eingeschlafen. Der Gedanke an Sex kam gar nicht mehr auf.

Da gab es eine wunderschöne Halbkoreanerin mit einer fabulösen Figur. Das war vielleicht ein Wesen! Sie war eine flesichgewordene Männerphantasie. Eine wunderschöne, blutjunge Frau aus einem guten Hause, die, soweit ich weiß, einen Einserschnitt in der Schule hatte und in ihrer Freizeit Piano spielte und koreanisches Ballett tanzte. Also sie war wirklich toll, eine edle Porzellan-Figur, ein exotisches, intelligentes und gepflegtes Mädchen und ein Geschoss vor dem Herrn. Für mich eine Zehn von Zehn. Sie war einfach schön. Sie hatte diese eurasischen Mandelaugen. Ich fand, dass sie ein perfektes, atemberaubendes Weib war. Ihr Körper war durch das ständige Ballett in optimaler Form, ihre Fesseln und Waden waren stramm und glänzten wie Seide. Mein Gott, sie war unfassbar hübsch und sie hatte diese idealen, großen, schönen Titten. Brüste wie auf dem Reißbrett entworfen. Ein Hauptgewinn. Ein Diamant. Solch ein edles Wesen wäre für mich in meinem versifften Zustand normalerweise unerreichbar gewesen.

Ich dachte eigentlich gar nicht mehr groß an Frauen, denn das Heroin hatte neben diversen anderen Körperfunktionen, auch meine Lust auf Sex abgetötet. Es war mir scheißegal geworden. Ich war entspannt.

Manchmal ist es aber so, dass blitzsaubere Mädchen aus gutem Hause, einen Drang haben sich den „Bad boys“ zuzuwenden. Vielleicht tun sie das, um den strengen Eltern etwas auszuwischen, ich weiß es nicht. Es ist mir unbegreiflich, warum sie etwas von  mir wollte. Jedenfalls musste ich dem lieben Gott dafür danken!

Jedenfalls steckte in meinem Briefkasten, am dreckigen Tor des Hinterhofes, eine schöne Rose und eine Nachricht. Ich konnte es kaum glauben. Ich kam von irgendwo her und fand in dem grauen Dreck an dem schäbigen Holztor, in dem Briefschlitz, eine rote, langstielige, elegante Rose. Sie war der einzige Farbfleck auf der ganzen verdammten Straße. Es war eine blutrote Nachricht aus einer anderen Welt. 

Das ganze war absolut unwirklich und ein sehr seltener und deswegen ein umso köstlicherer Glücksfall. Ein Geschenk des Schicksals. Einmal bug sie mir einen Schokoladenkuchen und legte ihn vor dem versifften Tor meines dreckigen Hinterhofes ab, weil ich wohl wieder nicht zuhause gewesen war, als sie ihn gebracht hatte. Ihre süße Tat stand in krassem Widerspruch zu meinem sonstigen Alltag. Mitten in meinem abgefuckten Alltag lag dieser süße, herzzerreißende Kuchen. Solcherlei Dinge gab es sonst nicht mehr in meinem Leben: Weiblichkeit, Schönheit, Süße.

Irgendwann, als ich besoffen im „Schlachthof“ tanzte, einer Musikkneipe direkt um die Ecke, klingelte mein Handy. Es war noch so ein Nokia, ein Steinzeithandy. Das kleine Display leuchtete grünlich auf und da war sie dran. „Warte ich kann Dich nicht verstehen…“ Ich torkelte zwischen verschwitzten Betrunkenen hindurch und schob mich auf die Straße.

„Hast Du Bock zu mir zu kommen?“ fragte ihre Engelsstimme aus dem winzigen Hörer. Und ich hatte. Also ging ich nachts zu ihr und warf unterwegs meine Spritze und den Löffel in ein Gebüsch. Ich dachte, das gehört sich nicht mit ner Pumpe in der Tasche zu einem so schönen Mädchen zu gehen. Später habe ich es bereut, dass ich die Spritze weggeworfen hatte, denn sie hatte Koks da.

Also zog ich mir eine fette Nase und dann zogen wir uns aus und vereinigten uns, in völligem, gegenseitigen Einvernehmen. Ich habe es aus vollen Zügen genossen. Kokain machte mich immer notgeil. Sie war zu gut, um wahr zu sein. Ich betrank mich an ihrer Schönheit. Wir liebten uns die ganze Nacht… Wir kamen und taten es wieder. Es hörte nicht auf. Wir küssten uns leidenschaftlich. Es lebe das koreanische Ballett, es lebe die Völkerverständigung, es lebe das Universum, welches mir dieses wundervolle Geschöpf geschickt hatte!

Wir wollten am nächsten Morgen mit dem Bus in die Stadt fahren und eine Freundin von ihr besuchen, die im Sonnenstudio arbeitete. Aber irgendwie konnten wir die Finger nicht voneinander lassen. Wir gingen erst einmal duschen. Und wie hoch und weit sie ihre Beine spreizen konnte! Ich sehe noch heute diese schönen Szenen vor mir. Ein Edelporno. Ihre Mandelaugen hinter dem Dampf der heißen Dusche und ihre dicken schwarzen Haare, die in ihrem Gesicht klebten, die Wassertropfen, die an ihren Kurven hinabrollten, all das war wie in einem Film.

Und so verpassten wir einen Bus nach dem anderen, weil wir uns wieder auszogen, nachdem wir uns gerade angezogen hatten. Es war so einfach mit ihr, so süß. „Naja, der Bus ist jetzt auch wieder weg!“ lachte sie. Es war wundervoll. Sie war einfach so schön, so magnetisch, so sündhaft und verführerisch. Wir kamen nicht voneinander los.

Ich erinnere mich sehr genau daran, wie sie um ihren Mund herum von meinem Bart ganz rot gescheuert war. Wir hatten über Stunden geknutscht. Dieses Mädchen hatte mich glücklich gemacht.

Und als wir dann doch noch irgendwie, am späten Nachmittag, in dem Sonnenstudio ankamen, sah ich diese Freundin von ihr und sie war auch wunderschön und blutjung. Sie kam um eine Ecke geschossen und da stand sie. Ich weiß nicht, was in diesen Tagen los war, aber irgendwie ergab sich, dass ich mich kurz entschlossen auch mit diesem schönen Kind verabredete.

Geduscht und gestylt stand ich also ein paar Tage später vor der Tür dieser Sonnenbank-Freundin. Sie öffnete süß und hübsch und leuchtete aus großen Augen. Sie lebte noch bei ihren Eltern und hatte ein Zimmerchen im Souterrain. Ein kleiner, halbdunkler Raum war das. Viel mehr, als ihr antikes Bettgestell und ein großer Kleiderschrank passten gar nicht unbedingt hinein. Also setzte ich mich auf das Bett und dann ging alles wie von selbst. Sie war wirklich schön, fand ich. Ihr Körper war seidig und glatt und ihre Kurven und Linien verliefen stromlinienförmig, als wären sie im Windkanal getestet worden. Und dann dieser prachtvolle, satte Busen, ohne den es für mich nicht zu gehen schien. Das Mädchen war perfekt. Sündhaft schön. Sie war geschmeidig und glatt wie Seide. Und so passierte es, dass ich mich in dieses hübsche Kind verliebte.

Dieses Sonnenbankmädchen war eine ganz besondere Marke. Sie war noch viel jünger, als ich es gedacht hatte. Sie gestand mir, dass sie erst 16 Jahre war. Dafür war sie doch schon sehr frühreif und weit entwickelt. Sie ging in die Clubs und feierte und wirkte eher wie Anfang Zwanzig auf mich. Auch den Drogen war sie nicht abgeneigt und ich fand schnell heraus, dass sie ganz schön krass unterwegs war. Ein wildes, junges, unfassbar hübsches Mädchen, mit richtig PS unter der Haube.

Sie fragte mich, ob ich was dabei hätte und ich zögerte. „Das ist kein Spaß!“ sagte ich zu ihr. Aber als sie mir erklärte, dass sie schön öfter mit ihrem Ex-Freund genascht hatte, gab ich schließlich nach und wir rauchten ein paar Bahnen.

Da lag ich also in dem Kellerräumchen zwischen lauter weichen Kissen, Kuscheltieren und Decken und neben mir dieses braungebrannte, glatte, seidenweiche Mädchen und ich verliebte mich, während ich wieder so weich, feucht und angenehm in sie glitt und dabei so tief in ihre großen, schönen Augen sah.

In ihrem Zimmerchen auf dem alten geschwungenen Metallbett küssten wir uns und ich war für ein paar Stunden sehr zufrieden, aber dann stellte ich schnell, viel zu schnell, fest, dass sie durchaus ihre Launen und Stimmungsschwankungen haben konnte. Nach ein paar heftigen Tagen mit ihr, wollte sie dann ganz plötzlich nicht mehr. Es waren die Stimmungsschwankungen eines sehr jungen Mädchens, das mit sich selbst uneins war, das noch nicht mal die Pubertät richtig hinter sich hatte.

Sie hatte einfach keine Lust mehr, wie eine Katze, die sich erst streicheln lässt und dann blitzartig die Krallen ausfährt. Sie wandte sich plötzlich ab. Es war eine Minutensache. „Ne, doch nicht!“ So ging ich wieder, hatte aber irgendwie einen Pfeil im Rücken. Es tat mir sehr weh, da war von meiner Seite aus viel Gefühl drin. Aber gegen Herzschmerz hatte ich ja meine Medizin. Ich konnte das abtöten. Kein Problem. Aber das sollte es noch nicht gewesen sein mit ihr. Nennen wir diese fatale Schönheit „Sunny“, abgeleitet von Sonnenbankmädchen. Ich sollte sie wiedersehen. 

Wieder ging es am Jahresende nach Süchteln ins Landeskrankenhaus in die Entgiftung. Von dort aus sollte es im Anschluss direkt in die Therapie gehen. Die Szenen aus dem Vorjahr wiederholten sich. Ich kannte es ja schon alles dort, und dieses Mal wusste ich schon, wie es war, den Junkie-Hill im frühen Winter zur Turnhalle hinaufzugehen. Mit sehnsuchtsvollem und zerrissenem Herzen, in welchem ich die bange Erkenntnis trug, dass die freien Zeiten des Fliegens nun endgültig vorbei seien, atmete ich die würzige, kühle Luft ein, die nach Wald und modrigem Holz roch. Während ich über das feuchte Laub schritt, sah ich in meiner Phantasie meine Freunde, die weiterhin morgens zur Platte gingen, im Sonnenaufgang, wenn die Straßenkehrmaschinen noch durch die Fußgängerzone fuhren, wenn die klamme Kälte der Nacht noch kaum von der schwachen, aufgehenden Sonne vertrieben war. Ich sah vor meinem inneren Auge wie sie sich, mit dampfendem Atem, an den bekannten Ecken trafen, während sie auf den ersten Dealer des Tages warteten. Wie sehnte ich mich in diese Szene hinein? Ich sah, wie sie von einem Bein ungeduldig  aufs andere traten, wie sie sich gegenseitig um Zigaretten anschnorrten und dabei aus wartenden Augen spähten, aus welcher Straße, um welche Ecke er kommen würde. Der Erlöser, jemand, der etwas zu verticken dabei hatte. Neidisch erinnerte ich mich an diese Morgende und stellte dabei fest, dass ich das alles geliebt hatte. Dieses Junkiedasein. So schlecht und schwierig diese Art der Lebensführung auch sein konnte, es war auf eine andere Art auch frei und schön. Verdammt. Und ich stapfte hier in der Entzugsklinik den Junkiehill hinauf und war getrennt von all dem. 

Aus dem Kapitel: „Der heiße Löffel“ (Buch: „Höllensturz“ Umwege. Die innere Reise. Band 2.) Erscheint vorraussichtlich noch in 2024.

Grundschule

Im Sommer 1976, wurde ich in der katholischen Sollbrüggen-Grundschule eingeschult. Meine Schultüte zierte der Räuber Hotzenplotz, ein Detail, dessen ich mich niemals würde entsinnen können, gäbe es nicht ein Foto von jenem historischen Tage, auf welchem ich zuckersüß in die Kamera schaue. Darauf ist auch zu sehen, dass ich anlässlich meines ersten Schultages einen Jeansanzug trug, den unsere Nachbarin Karin extra für mich bei Quelle bestellt hatte.


Dieser erste Schultag war ein guter Tag! Meine Mutter nahm mich an der Hand und wir gingen den Schulweg gemeinsam. Er war nicht weit. Aufmerksam lauschte ich ihren eindringlichen Anweisungen, als sie mir erklärte, wie ich mich an der großen Straße an der Ampel zu verhalten habe. „Du darfst nur über die Straße gehen, wenn es grün für Dich ist! Und sieh trotzdem nach, ob auch kein Auto kommt!“ Ich hörte ihr sehr aufmerksam zu, auch wenn ich schon oft alleine Ampeln überquert hatte und insbesondere diese.
Aber die Überquerung der Uerdinger Straße war dann auch schon die einzige Gefahrenstelle auf dem Weg zur Schule. Danach waren es nur noch ein paar Meter auf dem Bürgersteig am saftigen Grün des Sollbrüggenparks vorbei und dann, an einer Ecke, stand sie schon: Die Schule.


Um einen asphaltierten Schulhof herum standen zwei Gebäude. Das zur linken Seite war etwas älter und aus rotem Ziegelstein. An den Fenstern sah ich bunte Figuren hängen, die Schulkinder aus Pergamentpapier gebastelt hatten. Auf der anderen Seite des Schulhofes war ein viereckiges, moderneres Betongebäude, das wie ein riesiger Würfel aussah. Dort hinein gingen wir.
Drinnen trafen wir auf lauter andere Kinder, die ebenfalls alle an den Händen ihrer Eltern dastanden. Zum ersten Mal betrat ich ein Klassenzimmer. Die Klassenlehrerin erzählte uns und den beiwohnenden Eltern, welche Schulhefte und Materialien benötigt würden, der Stundenplan wurde vorgestellt und ein paar Schulbücher wurden verteilt. Meine Mutter kaufte mir noch am selben Nachmittag einen orangefarbenen Ledertornister und dort hinein kamen alle Schreibhefte und Stifte und die schweren Bücher, welche sie zuvor in dicke, bunte Plastikfolie eingeschlagen hatte, denn schließlich mussten die Lehrbücher ein paar Schülergenerationen lang halten. Und so ausgerüstet und instruiert begann nun also für mich die Schulzeit.
Aber halt! Das Schulbrot fehlte noch. Im besten Fall war das ein Doppeldecker mit Nutella. Meine Mutter würde also eine Scheibe frischen Graubrotes mit Butter bestreichen und darüber noch Nutella, es zuklappen und es in Papier einschlagen. Mit dieser Zugabe war der Tornister aber nun wirklich vollständig gepackt. Ein, zwei Mal brachte meine Mami mich noch zur Schule und irgendwann durfte oder musste ich dann alleine gehen. Auf dem kurzen Weg gesellten sich immer mehr Schulkinder dazu, sie strömten aus allen Himmelsrichtungen auf die kleine Schule zu. Die meisten hatten einen großen viereckigen Scout-Tornister auf dem Rücken mit Reflektoren und so.


„Das ist ein „U“!“ sagte die Lehrerin und malte es mit einer leichten und schwungvollen Bewegung und dem klackenden und schleifenden Geräusch der Kreide an die Klapptafel. Wir beobachteten sie dabei ganz genau, denn wir würden in Kürze genau diesen Buchstaben in unsere Hefte schreiben müssen. Gebannt verfolgte ich, wie der weiße Strich sich zu einem Buchstaben formte. An meinem winzigen, hölzernen Pult sitzend sprach ich, mit den Anderen im Chor, den Laut nach. „Uuuuuuh!“ wie „Uhu!“ Dann malte ich ihn mit dem Wachsmalstift in mein großes Schreibheft. Mit einem kleinen schmatzenden Geräusch löste sich der Stift von dem Papier als ich absetzte. Und die Lehrerin schritt hinter uns durch die Reihen und flüsterte ihre Kommentare in die Kinderohren:“Sehr gut!“, „Schön!“ oder „Mach‘s nochmal!“ Wir lernten das Schreiben in geschwungener Schreibschrift, die wir, Buchstabe für Buchstabe, Tag für Tag, mit den Stiften in unsere Schreibhefte abmalten. Als Hausaufgabe malten wir dann die mit kleinen Schlaufen an ihren Enden verschnörkelten Buchstaben noch viele Male akkurat nach, fein säuberlich in die vierreihigen Zeilen des Schreibheftes, deren Hilfslinien uns helfen sollten, dabei die richtigen Proportionen einzuhalten. Das erste Wort, welches ich auf diese Art zu schreiben lernte war: „Hut“. Allein das große „H“ war ein einziges Kunstwerk aus geschweiften Schlaufen und geschwungenen Schlingen. Wenn es mir gut gelang, machte es mich ähnlich stolz, wie meine erste Fahrradfahrt.


Allmorgendlich, wenn die Klassenlehrerin den Raum betrat, hatten wir aufzustehen und wir begrüßten sie im einhelligen Chor:“Guten Morgen, Frau Lehrerin!“ Und dann beteten wir stehend das „Vater unser“, beziehungsweise sagten wir es auf. Ich verstand größtenteils gar nicht, was ich da sagte. Es waren seltsame Worte. Irgendwas mit „Gib uns Brot!“ kam darin vor. „Ja, war Gott denn auch ein Bäcker?“ Als ungetauftes, konfessionsloses Kind hatte ich keine Ahnung, was diese Gebete bedeuten sollten. Ich sprach es nach, ohne
zu wissen, was ich da sagte.


Auf dem Pausenhof hüpften die Mädchen beim Gummitwist und die Jungs jagten sich beim Fangen. „Kleck!“ wurde dauernd gerufen und „Hab Dich!“ Andere liefen an Strohhalmen saugend, die in kleinen Papp-Packungen steckten umher, denn es gab für jeden von uns zur großen Pause eine Milch. Neben der Vollmilch stand noch Kakao oder Erdbeermilch zur Auswahl, oder aber, und dies war meine Wahl, Bananenmilch. Das war die neueste Variante im Schulmilch-Angebot und sie schmeckte so unsagbar künstlich nach Banane, dass es eigentlich mit dem Geschmack einer Banane nicht viel gemein hatte, aber das konnte mich nicht davon abhalten, diesen süßen Geschmack nur umso mehr zu lieben.


Ich habe keine schlechten Erinnerungen an die Grundschule und so absolvierte ich sie gern und gänzlich ungetrübt. Bis auf eine einzige Ausnahme. Diese Ausnahme hieß: Frank Dowitz. Er war der Klassenrüpel. Er war diese Sorte Kind, die einen Groll von zuhause mitbrachten und auf dem Schulhof nach Blitzableitern dafür suchten. Der klassische „Bully“, wie die Amerikaner diesen Typus nennen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er seine Bösartigkeit auch an mir ausprobieren würde. Und tatsächlich kam sehr bald schon jene große Pause, in der er mich aus seinen missmutigen Augenschlitzen heraus erspähte. Ihm missfiel wohl meine Freude, die ich an einem gefalteten Papierflieger hatte, den ich über Pausenhof gleiten ließ, und dem ich fröhlich hinterherrannte. Beim nächsten Landepunkt war Frank schneller und ich sah hilflos mit an, wie sein Fuß sich auf meinen Flieger senkte. Genüsslich zerstampfte er ihn. Der Junge war böse. “Warum machst Du das?” fragte ich ihn entsetzt. “Weil ich es will!” antwortete er nur ganz cool. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Seine Boshaftigkeit erschreckte mich. So etwas kannte ich bisher nicht.
Als er merkte, dass ich mich von seiner Dreistigkeit einschüchtern ließ, war er zufrieden, denn er hatte ein weiteres Opfer gefunden. Somit demütigte mich immer mal wieder, wenn ihm der schlechte Sinn danach stand und auf diese Weise suchte er wohl meine Grenze. Mangels Mut und aus Ratlosigkeit ließ ich ihn gewähren. Manchmal passte er mich auf dem Heimweg ab und piesackte mich dann. Er schubste mich ein wenig herum und war frech und gemein, drohte und schüchterte mich ein.


Die kleine Blechdose mit Wachsmalstiften wurde bald durch ein Federmäppchen abgelöst. Ein solches war eine famose Sache. Meines war, wie die meisten Modelle zweigeteilt: Es hatte zwei Fächer die ringsrum mit einem Reißverschluss zu schließen waren. Auf der einen Seite waren Bunt- und Filzstifte zu finden, die alle nach Farben sortiert waren und mit einzelnen Gummischlaufen in ordentlicher Reihe gehalten wurden. Das zweite Fach war für das Geodreieck, Lineal, Radiergummi, Anspitzer und den Füller vorbehalten. Der Füller war nun unser Schreibgerät! Auch er war ein wunderliches Dingen, das man aufschrauben konnte um kleine Plastikpatronen mit Tinte hineinzuschieben. Von da an gab zwei Sorten von Schülern: Diejenigen die einen Füller der Marke „Geha“ hatten und jene, die ein Modell des Herstellers „Pelikan“ bevorzugten. Ich war ein „Geha“- Mann! Durch ein kleines Fensterchen, das wie ein rundes Bullauge auf halber Höhe des Schreibers saß, konnte man schauen, ob noch genug Tinte im Füller war. Mein Füller war für mich sowas wie eine kleine Rakete. Ich ließ ihn vom Pult abheben und in den Weltraum des Klassenzimmers starten. Von hinter dem Bullauge könnte ich die Welt von oben sehen, wenn ich als winziges Männlein in der Füllerrakete sitzen würde. Wie toll wäre das? Als Frau Adamsen unsere Lehrerin sagte: “Sven! Könntest Du bitte aufpassen?”, war der Ausflug ins Weltall jedoch gleich wieder abrupt beendet. Ja, ein Füller war eine tolle Sache, aber noch viel faszinierender war die magische Wunderwaffe, die mit dem Zeitalter des Füllfederhalters einherging und gleich neben ihm im Federmäppchen zu finden war: Der Tintenkiller! Hier betraten wir das Wunderland der Magie! Mit diesem Wunderstift war es möglich, dereinst Geschriebenes gleich wieder unsichtbar werden zu lassen. „Zauberei!“ dachte ich. Mit der anderen Seite des Tintenkillers war es wiederum möglich, erneut über das „Ausgekillerte“ zu schreiben. Diese Korrektur blieb dann jedoch für immer und war nicht erneut korrigierbar. Der Tintenkiller war für mich genauso toll wie Ladykracher und Knallfrösche. Bei Klassenarbeiten war das „Killern“ jedoch verboten! Ein falsch geschriebenes Wort hatte durchgestrichen und neu geschrieben zu werden.


So lernten wir Wort um Wort. Satz um Satz. Oder wir lernten die Sprache dadurch, dass wir laut aus unseren Schul-Lesebüchern vorlesen mussten. Abwechselnd nahm Frau Adamsen uns der Reihe nach dran. Es fiel uns unterschiedlich leicht. Manche schafften es nur langsam und stockend aus den gedruckten Buchstaben ein gesprochenes Wort zu formen, Anderen gelang es müheloser. Mit dem Finger unter den Worten entlangfahrend, lasen wir auf diese Art die Kurzgeschichten aus dem Schulbuch vor. Das war ein schönes Fach, fast wie eine Märchenstunde. Ich fand die Geschichten meistens ganz gut. Zum Beispiel wie der Pfannkuchen „Kantaper, kantaper“ in den Wald rollte. Es war mitunter aber durchaus eine Geduldsprobe und Herausforderung nicht vorzusagen, wenn ein Klassenkamerad im Buchstabensalat hoffnungslos steckenblieb und dabei in eine Art gestotterte Zeitlupe verfiel. Ich biss mir auf die Zunge und hielt die Luft an, um nicht das Wort, an dem er zu ersticken drohte, in den Klassenraum zu rufen! Manche Mitschüler drucksten, schnauften und schwitzten derart gequält an den Worten herum, als säßen sie bei einem großen Geschäft auf dem Klo. Aber so sehr sie auch drückten und quetschten, es wollte nicht recht herauskommen. Oder was herauskam, ergab keinen Sinn, oder es war erkennbar geraten. So hatte jeder seine Eigenart und sein ganz eigenes Tempo darin, sich mit der Sprache in geschriebener Form anzufreunden.
Wie gut wir alles gelernt und verstanden hatten, konnten wir bei den Klassenarbeiten beweisen. Bei absoluter Stille im Klassenraum schrieben wir mit vor Konzentration herausgepressten Zungenspitzen unsere Diktate oder Aufsätze. Ich war kein Streber, aber insgesamt ein ganz guter Schüler, denn es machte mir größtenteils richtig Spaß diese Dinge zu lernen. Im Unterricht reckten wir unsere Arme in wildem Wettbewerb in die Luft, um uns zu „melden“, wenn wir anzeigen wollten, dass wir zumindest in bestem Glauben daran waren, beispielsweise eine Rechenaufgabe oder irgendeine andere Frage des Lehrers richtig beantworten zu können. Dabei mit den Fingern zu schnipsen, um die Aufmerksamkeit des Lehrkörpers auf sich zu lenken, war hierbei nicht gerne gesehen. “Nicht schnippen bitte!” ermahnte Frau Adamson des Öfteren, aber dennoch kam es im Zuge des überschäumenden Lerneifers immer wieder vor. Besonders wenn man, ganz ergriffen von der Begeisterung über die eigene Denkleistung, sich so reckte, dass man fast vom Stuhl abhob, weil man unbedingt drankommen wollte. Die Arme wurden dann so entschieden mit erhobenem Zeigefinger in den Raum gehoben, dass sich die jungen Schultern den vor Erregung roten Ohren näherten. Manche riefen auch:”Ich weiß es! Ich weiß es!”. Oft brachten wir eifrigen Schüler dabei auch seltsame Kehllaute hervor, die eine Art strebendes Stöhnen waren, ein Junken, das bedeuten sollte:“ Ich weiß es! Nimm mich dran!“ Die Mädchen mit ihren Haarspangen und Zöpfen benahmen sich meist gesitteter, schmollten aber gelegentlich, wenn sie wegen schnipsender und zappelnder Jungs nicht aufgerufen wurden. Das Lernen machte jedenfalls Spaß.

Aus: „Umwege. Die innere Reise. Band 1: Der Königssohn

Reue

Auf den Irrwegen durch mein unsortiertes Dasein begegnete ich auch immer wieder meinem Grünauge. Ich schenkte ihr nicht wirklich viel Aufmerksamkeit, weil ich durch die ganzen Vorgänge in meinem Leben auf viele Arten von ihr abgelenkt wurde. Ich nahm sie einfach wie eine Selbstverständlichkeit hin, wie einen Aspekt unter vielen in meinem Leben. Manchmal fiel sie mir ein, oder ich sah sie irgendwo und dann ging ich zu ihr. Als erste und tiefste Liebe meines Lebens bedeutete sie mir jedoch heimlich, in der Tiefe meiner Seele verborgen, viel mehr als es mir damals bewusst war. 

Mein Blick auf sie war nicht nur durch die Veränderungen in meinem Leben verstellt, sondern zudem auch noch von der Strahlkraft ihrer betörenden Sexualität überlagert. So viele Frauen ich auch im Laufe der Zeit kennengelernt hatte: Keine fand ich letztlich so geil wie sie. Bei keinem sexuellen Abenteuer, so gut sie auch waren, fand ich letztlich diese Qualität der Lust, wie ich sie bei ihr erlebt hatte. Grünauge war die Königin des Sex. Und so sah ich sie vornehmlich nur noch mit lüsternen Augen an, wenn ich sie sah. Wenn ich zu ihr schlich, hatte ich nur eines im Sinn. Ich war süchtig danach.

Sie hatte das schon lange bemerkt und sie war es zunehmend leid geworden, dass ich sie immer nach Belieben aus dem Hut zog, wie einen Sexjoker, wenn mir gerade mal die Laune danach stand. Heute bereue ich es zutiefst, aber damals war es tatsächlich oft so. Es geschah irgendwie automatisch. Ich wurde schon geil, wenn ich nur an sie dachte. Der Mensch, der Grünauge war, verschwand für mich hinter der blinkenden Leuchtreklame ihrer Erotik.

Langsam begann sie mir zu zeigen, wie benutzt sie sich dabei vorkam und der Sex begann auf diese Weise, jedesmal ein bisschen mehr, seinen Zauber zu verlieren. Sie sprach diese Dinge allerdings niemals aus. Sie kommunizierte es stumm. Sie zeigte es mir durch ihr Verhalten. Demonstrativ wurde sie immer mechanischer, kälter, entfernter. „Ich fühlte mich nicht mehr wohl dabei!“ ließ sie mich auf diese Art wortlos wissen. Aber ich nahm es zuwenig wahr. Ich glaube, zuletzt muss sie mich gehasst haben. Gesagt hat sie es nie. Wie voll von mir selbst muss ich gewesen sein, dass ich all das damals nicht gesehen und verstanden habe?

Ich erschien einfach im Türrahmen und wollte, dass sie mir zu Willen war. Ich ging irgendwie davon aus, dass sie es genauso wollte.

Ich sah und merkte es in meiner Egoshow nicht, aber als unser Feuer erstarb und verging, da blieb irgendwann nur noch etwas Glut in den verkohlten Resten zwischen uns und dann schließlich zerfiel alles zu weißer Asche. Diese letzten Überreste unseres Liebesfeuers sollte dann der Wind mit der Zeit verwehen und am Ende würde nichts von der einstigen Größe und Schönheit dieser hohen Flammen übrigbleiben. Im Gegenteil, es blieb Trauer und ein stiller Vorwurf.

Erst jetzt, da ich mich sehnsüchtig und reuevoll erinnere und all dies aufschreibe, verstehe ich die letzten Szenen zwischen uns. 30 Jahre später sitze ich hier und vor meinem inneren Auge spielt sich alles noch einmal ab wie ein Film. Jetzt erst höre und verstehe ich ihre stille Anklage. Sie hatte mich wortlos spüren lassen, dass ich unsere Liebe auf dem Gewissen hatte, dass ich alles, was einmal schön zwischen uns gewesen war, kalt ermordet hatte. Besonders zwei Szenen wirken heute besonders auf mich und ich schreibe sie voller Reue und Scham nieder:

Ich erinnere mich an einen meiner letzten Besuche bei ihr. Damals wohnte sie noch im Hause ihrer Eltern und ich erinnere mich daran, dass es draußen schon dunkel war. Ich sehe in meiner fragilen Erinnerung, wie sie auf der Fensterbank saß, als ich den dunklen Raum betrat. Sie sah durch die Scheiben auf das silberne Mondlicht, das sich wie ein leuchtender Schleier über die Konturen des Gartens gelegt hatte. Es war eine schöne, sternenklare Nacht und der Garten hinter dem Haus lag in gespenstischer Stille und Silberlicht. Es war eine Szene wie aus einem Traum. Ich stand mitten im dunklen Zimmer und bekam Lust auf sie, wie immer, wenn ich sie erblickte. Sie aber saß nur stumm und abwesend, würdigte mich kaum eines Blickes und sah ins ferne, sternenblinkende All hinaus und auf die mondenbleich beleuchtete Gartenszene darunter. Sie trug ein Nachthemd und umarmte eines ihrer Beine, das sie spitz angewinkelt auf der Fensterbank aufgestellt hatte. Das andere Bein ließ sie herabhängen. Dieser ganze Anblick sah so anmutig aus wie ein Gemälde. Ihre Kontur war märchenhaft von weißem Mondlicht umrissen. Blass lag der bleiche Schein auf den Rändern ihrer Wangen und auf dem Rücken ihrer kleinen Stupsnase. Es war ein wunderschönes Bild. Wie aus Porzellan gegossen, saß sie da und eigentlich war es ehrfurchtgebietend. Man hätte sie unangetastet und in Frieden lassen müssen.

Ich spürte das für einen Moment, sonst könnte ich es heute nicht schreiben, aber zugleich übermannte mich auch meine Lust auf sie. Denn ich sah das silberne Mondlicht auch auf den üppigen Rundungen ihrer Brüste liegen. Ich sah die sündhaften Formen ihres jungen Körpers, die sich unter dem dünnen Stoff des Nachthemdes abzeichneten. Ich kam nicht darüber hinweg. Sie machte mich einfach nur geil wenn ich sie nur ansah. Ich stand wirklich auf sie. Ihr Sex war der Beste. Es gab einfach nichts Besseres auf der Welt. Also entschied ich mich dazu, es ihr zu verstehen zu geben, obwohl es überhaupt nicht in diesen stillen, stimmungsvollen Moment passen wollte. Vom verträumten Mondenschein beschienen und völlig stumm, mit versteinertem Gesicht, entkleidete sie sich daraufhin, ohne ein Wort, ohne ein Lächeln. Mit einem fast toten Gesichtsausdruck ließ sie das Nachthemd zu Boden fallen. Und ebenso teilnahmslos und kalt wie ein Fisch wandte sie sich dann zu mir, kniete sich splitternackt vor mich hin und begann mich mit ihrem Mund zu befriedigen wie eine anonyme Liebesdienerin. Sie tat es technisch perfekt, aber ohne jede echte Leidenschaft, ohne jedes Gefühl der Geilheit oder Lust. Sie bediente mich wie eine Hure und als es zuende war, ging sie stumm und wortlos wieder zur Fensterbank und sah weiter aus dem Fenster. Kein Wort, kein Lächeln. Nackt wie sie war, saß sie nun da im Mondlicht wie zuvor, wandte den Kopf von mir und sah hinaus. Von ihrem Gesicht las ich einen seltsamen Ausdruck ab, den ich damals nicht zu deuten wusste. Heute, da ich in meiner Erinnerung in diesen Augenblick zurückkehre, lese ich dort Resignation, Trauer, Wut und Bitterkeit. Ohne dass sie ein einziges Wort verlor, ließ sie mich dennoch spüren, dass hier etwas verloren war. Es war der tonlose Schwanengesang über den Tod unserer Liebe.

Ich sehe mich jung, ratlos und eigenartig beschämt ein paar Schritte abseits von dem Fenster im Dunkel des Zimmers stehen. Ich spürte damals, dass dies eine Lektion gewesen war. Es war sicherlich seltsam und etwas befremdlich gewesen, aber so richtig verstanden habe ich es damals nicht. Ich merkte nur, dass etwas falsch war, grundfalsch. So machte es keinen Spaß. Der Sex war leer gewesen, seelenlos. Auf diese Art sprach sie zu mir ohne Worte: „Wenn Du nur den Sex in mir siehst, dann sieh selbst was das wert ist!“ Ich verstand es nur atmosphärisch und unterbewusst. Für den Moment stand ich nur verdattert da, fühlte mich irgendwie schäbig und wusste nicht genau warum. 

Etwas später, ich glaube, es war sogar das letzte Mal, dass es zum Sex zwischen uns beiden kam, waren wir auf dem Land.  Wir saßen im Auto unweit von dem Bauernhof, auf dem mein Kindheitsfreund Gall mit seinen Eltern wohnte. Ich war dort für die Zeit meines Wochenendbesuchs aus Hamburg untergekommen. Wir standen mit ihrem blauen VW-Golf einige Meter abseits von der Straße auf einem staubigen Feldweg. Es begann zu dämmern und wieder drängte ich auf Sex. Ich war so verrückt danach, dass ich fast schon bettelte. Und ich hörte auch nicht auf, es einzufordern, als sie klar sagte, dass sie keine rechte Lust habe. „Komm schon! Bitte! Ich will es so sehr!“ beschwor ich sie. Ich war doch mit ihr allein. Es musste doch passieren! Ihr wunderbarer Mund, ihre Brüste, ihr sündhaft guter Sex! Ich hatte nichts begriffen. Ich war blind und taub für ihre Bedürfnisse. Ich schäme mich, während ich heute diese Szene beschreibe, denn heute weiß ich wie schwach und schlecht mein Verhalten damals war. Ich war ein egoistisches, notgeiles Arschloch.

So kam es zu einer grausam schlechten Szene von hingequetschtem Sex im Auto, der wohl niemandem rechte Freude brachte. Ich hatte in meiner Jugend, in meiner Lust, einfach nicht den Anstand besessen, ihr „Nein!“ zu akzeptieren. Ich konnte ihr nicht widerstehen. Als ich schließlich mit Hängen und Würgen gekommen war, stieg sie nackt und schweigend aus dem Auto.

Wir hatten nahe an einem kleinen Flüsschen geparkt. Hier war keine Menschenseele weit und breit. Splitternackt ging sie im schwindenden  Licht der untergehenden Abendsonne zu der kleinen Brücke, die da über das Flüsschen führte, lehnte sich vornüber an das Geländer und sah wieder, wie damals auf der Fensterbank schon, mit einem verlorenen und traurigen Ausdruck in ihrem stummen Gesicht in den fernen, kupfer-goldenen Sonnenuntergang. Ich lag verklebt auf der Rückbank im Auto und sah diese Szene wie in einem Film. Sie wirkte surreal und eindrucksvoll. Ich fühlte mich schlecht, denn irgendwo in der Tiefe meines verdrängten, wahren Selbsts spürte ich, dass ich etwas getan hatte, was nicht gut war. Wie sie so dastand im Orange des Sonnenunterganges, war sie eine Statue der Verletztheit, der Enttäuschung und des wortlosen Vorwurfs. Es war, als sähe sie dort hinten am glühenden Horizont das absolut traurige und ernüchernde Ende unserer Geschichte. Mit diesem Stummfilm zeigte sie mir nun zum zweiten Mal, dass ich ihr wirklich Unrecht antat. Ich spürte für einen kurzen Moment die Wahrheit und die Scham darüber, dass ich all das Schöne unserer Liebe entweiht hatte.

Ich hatte sie zu meiner Hure gemacht. Das hatte sie nicht verdient. Ich ging dennoch nicht zu ihr. Ich wagte es nicht. Ich sah sie nur an. In ihrer Nacktheit und im goldenen Schein der tiefstehenden Sonne sah sie fragil und gleichzeitig anmutig aus. Wieder war sie eindrucksvoll wie ein Ölgemälde und während ich dieses Bild betrachtete, begriff ich zwar emotional die Tragik dieses Augenblicks, spürte ihr Unglück, aber in meinem jungen Kopf verstand ich die Situation nicht. Das tue ich erst heute. Ich habe, so gesehen, 30 Jahre gebraucht, um zu begreifen, was an diesem Abend geschah. Wäre ich doch wenigstens zu ihr gegangen und hätte mich entschuldigt, hätte sie umarmt, getröstet und sanft gehalten. Aber selbst dazu fehlte mir die Größe und der Mut. Klein und feige blieb ich im Auto und zog mir die Hose hoch. Es ist schwierig aus heutiger Sicht auf diese Szene zu blicken, die ganz sicher einer der schwächsten Momente meines Lebens war.

So tötete ich unsere Liebe und es kam der Tag, an dem sich Grünauge befreite, ab dem sie endgültig nicht mehr für mich zugänglich war. Als ich sie irgendwann ein weiteres Mal besuchte, fand sie endlich die Kraft, sich von mir loszusagen. Sie sprengte die Ketten, die sie an mich gebunden hatten, und verweigerte sich mir. Sie spie mir ein giftiges, deutliches: „Nein!“ entgegen, das keinen Zweifel mehr an ihrer Abscheu ließ. Als ich sie mir gewohnheitsmäßig nehmen wollte, als ich ihren Busen ergreifen wollte,  fauchte sie, wie eine tollwütige Katze, ein so giftiges „Nein!“, dass ich erschrak. Darin spürte ich ihren angesammelten Schmerz und Hass. Nun sagte sie sich los. Klar und absolut. Das war nur gerecht. In diesem Moment war unser gemeinsamer Weg unweigerlich zu Ende. Ich zuckte regelrecht zusammen und war überrascht über ihre nun völlig offen zutage tretende Ablehnung und Feindseligkeit. Ich schaute in grüne Augen, die starr und hart auf mich blickten.

Sie sah mich an wie einen Feind. Blanke Wut glänzte darin. Alles war vorbei. Ihr Blick sperrte mich aus. Das Augenpaar, in dem ich einst zuhause gewesen war, sah mich nun unverwandt an wie einen Fremden. Ich verstand in dieser Sekunde, dass ich raus war. Aus ihrem Herzen, aus ihrem Blick, aus ihrem Leben. Auf einmal gab es nichts mehr zu sagen. Stumm wies sie mir die Türe und ich ging verstört nach Hause. Die Gedanken und Gefühle in mir waren aufgewirbelt wie die Flocken einer Schneekugel. Langsam, sehr langsam, würden diese Fragmente der Verwirrung sich irgendwann wieder zu einem Bild zusammenfügen. Ich würde erst nachträglich begreifen, was ich da verloren und verspielt hatte.

Manchmal wissen wir erst, wenn wir etwas verlieren, was es uns bedeutet. Ich hatte mich ihrer in den letzten Jahren so sicher geglaubt, dass ich sie am Ende gar nicht mehr zu schätzen gewusst hatte. Sie jetzt so endgültig und radikal, ganz und gar zu verlieren, spielte mir etwas von dem Schmerz zurück, den ich ihr in meiner Achtlosigkeit wohl schon seit längerem bereitet hatte. Jetzt kam dieser Schmerz als Reue, Trauer und Sehnsucht zu mir zurück und das hatte ich mehr als verdient.

Ich habe in den kommenden Jahren oft an diese Liebesgeschichte zurückgedacht und fast immer waren meine Erinnerungen an das Grünauge, an die Schönheit und die Größe unserer Liebe, von der Sehnsucht begleitet, in diese glücklichen Momente zurückkehren zu wollen. Oft habe ich mich hingesehnt in diese wortwörtlichen “Augenblicke”, in welchen ich tief in der klaren See ihrer grünen Augen versunken und auf deren Grund ich selig gewesen war. Vielleicht war ich dort, in ihrem Grün tauchend, einem Menschen, einer Seele, näher, als ich es später je wieder war. Für wenige Stunden habe ich damals die Liebe in ihrer ganzen Pracht gesehen und erlebt. Das Glück ist in seiner Natur flüchtig und man kann es weder fangen noch festhalten. So verloren wir es irgendwann und es wehte wie ein Schleier davon, endete wie ein langsam sterbender Traum.

Lange war es zwischen Grünauge und mir so, als sei die Liebe zwischen uns immer hin- und hergewandert. Als hätte immer nur einer geliebt, als hätten wir die Liebe über weite Strecken wie eine Fackel, abwechselnd und dann fast alleine getragen. Und trotz alledem: In den goldenen Momenten, als wir uns in der Mitte trafen, in der Schnittmenge unserer Liebe, in diesen wenigen, gezählten Tagen an denen wir uns wahrhaft gegenseitig liebten, erlebte ich das Schönste, was ich je mit einer Frau in meinem Leben erfahren habe. Und ich meine ausnahmsweise nicht nur den Sex. Es waren besonders die nackten, verliebten Momente danach, in denen wir gemeinsam an die Decke sahen und sprachen, in denen wir uns eine Zigarette teilten. Wir waren uns nahe gewesen, wirklich nah, und in dieser Nähe war es mir sehr gut gegangen.

Mit schwerem Herzen, dachte ich in all den Jahren, die seitdem vergangen sind, immer mal wieder an diese grünen Blicke, die so tief in mich gedrungen waren, an die verschwitzten Stunden in schwülen Sommernächten. Wie gnadenlos jung wir damals waren! Die feuchten Laken hatten an uns geklebt und während wir leidenschaftlich miteinander schliefen, sagten wir uns: „Ich liebe Dich!“ und „Ich liebe Dich auch!“. Wir waren tief im Blick des Anderen zuhause. Unsere Blicke waren zusammengeschmolzen. Stundenlang hatten wir auf diese Art beisammen gelegen, uns gehalten und angesehen. Dies war das größte Glück. Ich habe auf Erden nichts besseres finden können. Die übrige Zeit haben wir uns jedoch meistens irgendwie verfehlt, liebte einer und der andere ließ sich lieben. Ja, ich schätze, so war das.

Noch nach Jahrzehnten träumte ich ungefähr ein- oder zweimal im Jahr von ihr. In der verschleierten Tiefsee meiner Träume kehrte ich zu ihr zurück. Hinter zeitlosen Sphären in fernen Traumwelten, in alternativen Universen, fand ich den goldgrünen Schimmer ihrer Augen wieder, sank erlöst in die Wärme ihrer Umarmung und sah dabei das glückliche, kecke Lächeln in ihrem blutjungen Gesicht. Oh, welche Vertrautheit fand ich darin! Ich war am Ziel meiner Sehnsüchte angelangt. Die bloße Ansicht ihrer spitzen Nase und der darunter entblößten oberen Zahnreihe, die zu kleinen glücklichen Bällchen erhobenen Wangen mit den entzückenden Grübchen darin, der Klang ihrer Stimme und der Geruch ihrer Haut vermochten mich so glücklich zu machen wie nichts anderes auf der Ẃelt. 

Dann wachte ich ganz verliebt auf, als wäre alles erst gestern gewesen und noch ganz umsponnen von diesem Zauber, griff ich dann oft genug zum Telefonhörer und rief sie an, als könnte ich die Vergangenheit und das Glück einfach anrufen. Mit jedem Jahr wurde dieses Gespräch immer befremdlicher und skurriler. Sie machte es sehr deutlich, dass meine Anrufe sehr ungelegen kamen und ihr grundsätzlich nicht willkommen waren. Sie muss gedacht haben, dass ich verrückt bin. Und ich fühlte mich auch so. Es wurde am Ende sehr peinlich und sehr distanziert zwischen uns und ich machte mich jedes Mal zu einem noch größeren Trottel. Ich war nur noch der fast schon stalkende, ehemalige Schulfreund, der einfach nur nervte, weil er ganz sehnsüchtig aus dem Nichts anrief und fragte:“ Soll ich Dir nicht mal meine Nummer geben? Wir könnten uns sehen und reden!…Nur eine Tasse Kaffee…Ich würde Dich sehr gerne einmal wiedersehen…“ Und sie antwortete:“ Ach, ich schreibe deine Nummer dann nur auf einen Zettel und verlier den dann wieder. Welchen Sinn sollte das haben?“ 

So sprach sie durch die Blume, indirekt, wie es ihre Art war, und es bedeutete: „Verpiss Dich endlich! Sieh doch ein, dass ich keinerlei Interesse an einer Kommunikation mit Dir habe.“ So endete die Geschichte von meiner ersten Freundin. Am Ende war ich es, der noch leiden musste, der regelmäßig, einmal im Jahr verliebt aufwachte, chancenlos verliebt in eine längst vergangene Zeit, in ein Mädchen von damals, das es lange nicht mehr gab.

Wenn ich A-Ha’s „The sun always shines on TV“ höre, dann wird mein Herz sogar heute noch ganz süß und schwer. In diesem Lied ist die emotionale Erinnerung an diese Liebe konserviert. Dann erinnere ich mich für einen kurzen, wundervollen und gleichzeitig bittersüßen, sehnsuchtsvollen Moment daran, wie es sich angefühlt hatte, als ich mit 14 Jahren erstmals in diese grünen Augen geblickt und mich von diesem Augenblick an eine Flutwelle der Gefühle mit sich gerissen hatte.

Solche sehnsüchtigen und sentimentalen Anwandlungen schüttelte ich im Jahre 1991 aber genauso schnell wieder ab, wie sie gekommen waren. Ich suchte und fand Ablenkung zwischen anderen Brüsten und Schenkeln, in anderen Armen. Es würde mich Jahre kosten, festzustellen, dass ich niemals ersetzen können würde, was ich so leichtfertig verspielt hatte. Mein Leben war damals ein schneller, praller Ablauf von Ereignissen. Besonders in Hamburg hatte ich ja ein großes Abenteuer zu bestehen. Da blieb nicht viel Zeit für reuevolle Reflektionen.

Ich fuhr nicht jedes Wochenende nach Krefeld, auch wenn ich es am liebsten getan hätte. So kam es, dass ich auch mal in Hamburg ausging, auf die Reeperbahn und in Hamburger Clubs. Das fühlte sich ganz anders an als mein Heimspiel zuhause. Ohne das vertraute Umfeld, meine Jungs, meine Burg, war ich nur ein Junge von vielen, der allein unterwegs war und in der Menge unterging. In Hamburg war ich ein Tourist, der niemanden kannte. Wenigstens fand ich einen englischen Praktikanten in der Textabteilung unserer Agentur, der ganz brauchbar aussah und für jeden Blödsinn zu haben war. “Alexis” hieß der Kerl und ich nahm ihn gleich ins Schlepptau. Und er war tatsächlich, wie die meisten Briten, recht trinkfest und lustig. Er teilte meinen derben Humor. Ich weiß noch, dass er eine „Panik“-Gürtelschnalle hatte, wie Udo Lindenberg sie trug und dazu meinte er dann: „Panicpenis in the house!“ Das passte zu meinem Krefelder-Proll-Style! Also zogen wir los.

Nach ein paar Szenelokalen und Stripteasebars verlor ich den Panikpenis aber ziemlich schnell wieder irgendwo im Suff, im Treiben der Nacht. Morgens um vier tanzte ich schließlich mit Schlagseite irgendwo in der Nähe der “Großen Freiheit”, oder man kann sagen: Ich “schwankte” auf irgendeiner Tanzfläche zwischen dubiosen Gestalten umher, da sah ich eine Busengöttin mit straff gespannter Bluse am Rand der Tanzfläche neben einer Box stehen. “Außerordentlich!” fand ich.

Während ich auf sie zustolperte, versuchte ich mich zusammenzunehmen. Einige Sekunden später bemühte ich mich, mit alkoholschwerer Zunge so deutlich wie möglich die Frage zu artikulieren, die ich in ihr Ohr sprach: “Was machst du denn gleich noch?”

Als es langsam schon wieder hell wurde, saßen wir am Tresen einer urigen Hamburger Kneipe zwischen den Übriggebliebenen der Nacht. Alles quatschte und lallte und soff. In dem Gewirr aus Musik, Stimmen und Gläserklingen wurde mein Kopf langsam bedenklich schwer und ich hatte zunehmend Mühe ihn oben zu halten…und die üppige Busenkönigin schien sich überhaupt zu zieren…Langsam gab ich innerlich schweren Herzens meine Hoffnung auf Sex auf und überlegte, ob ich mich verabschieden und zur U-Bahn torkeln sollte. Der Gedanke gefiel mir aber auch nicht so richtig und so hing ich da, wie ein Sack Muscheln auf meinem Barhocker. Es war Sonntagmorgen und die Sonne stieg langsam über Hamburg auf und warf lange Schatten in die leeren Straßenschluchten. Und ich wäre fast im Sitzen eingeschlafen, da sagte sie plötzlich: „Lass uns gehen!“

Wenig später in ihrer Wohnung machte mich der unverhoffte Anblick ihrer entblößten Prachtbusen wieder wach. Welchen üppigen und prächtgen Augenschmaus boten doch diese beiden perfekten Exemplare? Wir hatten uns in ihrem Wohnzimmer teilweise unserer Kleidung entledigt und nun griff sie meinen Penis und schleppte mich daran, wie an einem Abschleppseil in ihr Schlafzimmer. Auf ihrem Bett standen mir ihre Busen wie zwei steife Puddings entgegen. Es waren perfekte Meisterwerke der Natur. In meinem Kopf leuchtete in Neonschrift auf: “Überbingo” und “Tittenjackpot!” So kann es laufen. Manchmal muss man eben auch Glück haben!

Realschule

Die Lehrerkonferenz des Gymnasiums am Moltkeplatz legte meiner Mutter nahe, ihren inzwischen als unhaltbar angesehenen Zögling von der Schule zu nehmen. Um ihr diese Erlösung von mir schmackhaft zu machen, bot man ihr im Gegenzug an, mir ein unverdient gnädiges Übergangszeugnis auszustellen, damit: “Ihr Sohn nicht noch ein weiteres Jahr verliert!”. Und weil die ehrwürdigen Lehrmeister so überzeugend argumentieren, akzeptierte meine Mutter den offerierten Deal. Und das war dann tatsächlich das jähe Ende meiner akademischen Laufbahn.

Es war fair genug. Ich hatte schließlich meine Chancen gehabt. Über fünf Jahre, inklusive eines wiederholten Schuljahres, hatten sie mich ertragen und mir alle Möglichkeiten gegeben. Ich war oft genug ermahnt und gerügt worden. Ich wusste, dass ich meinen Teil nicht ausreichend getan hatte, das war schon klar. Rückblickend wäre ich gerne etwas schlauer und fleißiger gewesen, aber das war ich damals einfach nicht. Die Schule war in meinen Augen, seit langer Zeit schon, lediglich nur noch ein notwendiges Übel gewesen. So flog ich völlig folgerichtig aus dem großen Palast der Bildung, dem Gymnasium am Moltkeplatz. Die renommierte Lehranstalt erkannte schlussendlich ihren Irrtum. Einen Irrtum, der darin bestanden hatte, jemanden wie mich in seine Reihen aufgenommen zu haben, einen Jungen, der letztlich nie wirklich zu würdigen gewusst hatte, was ihm da geboten worden war. Das Moltke spuckte mich aus wie einen faulen Apfel und ich durfte mich darüber wirklich nicht beschweren.

Jetzt musste ich zur Realschule. Konkret war dies die “Marianne-Rhodius-Schule”. Also radelte ich morgens einfach ein paar Ecken weiter. Ich ließ das Gymnasium in meinem Rücken liegen und überquerte die Grenzstraße, fuhr ein Stück die Germaniastraße entlang und bog dann in die Kaiserstraße Richtung Stadtwald ein. Umso näher ich kam, desto aufgeregter wurde ich innerlich. An der Kreuzung von Kaiserstraße und Friedrich-Ebert-Straße angekommen, war ich dann am Ziel. Vis-à-vis vom Kaiserpark stand nun diese neue Schule. Ich betrachtete das Gebäude und fand, dass es recht belanglos aussah. Und tatsächlich stellte ich dann während meiner ersten Schultage dort schnell fest, dass darin auch wirklich alles harmloser und banaler zuging. Vorbei war der edle Zauber im prunkvollen Prachtbau. Dieses etwas banale Gebäude, das ohne jeden Charme und Esprit auskam, hielt auch im Inneren, im täglichen Ablauf, was es äußerlich versprach. Es gab weniger Klassen und Schüler und überhaupt blieb auch auf den zweiten Blick alles recht ernüchternd. “Das habe ich mir also nun eingebrockt!” dachte ich etwas reumütig. Aber dann erwies sich bald, dass der Schulwechsel auch durchaus Vorteile hatte. Durch den gesunkenen Anspruch wurde der ganze Schulalltag wesentlich entspannter für mich. Der Lehrplan war schön seicht und hier gab es auch keine Bonzen, kein soziales Gefälle. Vielleicht war ich nunmehr auf dem Boden der Tatsachen angelangt und letztlich dort gelandet, wo ich eigentlich hingehörte.

In der neunten Klasse auf der Marianne-Rhodius-Schule war ich nun der „Neue“. Ein fremder Junge, der mitten im Schuljahr von der fremden Schule gekommen war und auf einmal zwischen ihnen saß. Zwei Jungs kannte ich allerdings schon vom Moltke. Sie waren diesen Weg der Schande schon vor mir gegangen. Einer von ihnen war sogar der Junge mit dem Grünauge diese schmerzhaften 9 Monate so glücklich zusammengewesen war. Aber das war schon vergessen. Er war ein sehr liebenswerter, freundlicher Kerl und für eine gewisse Zeit wurden wir sogar sehr gute Freunde.

Ich war immer noch der blasse, picklige Typ, der keinen einzigen Muskel am Leib hatte, dessen große Ohren etwas abstanden und der eine relativ breite Nase mitten im leicht pickeligen Gesicht trug. Das war zumindest das Bild, was mir meine Selbstwahrnehmung vermittelte. Ich hielt mich bestimmt nicht für einen Hingucker. Umso größer war meine Überraschung, als ich irgendwann feststellte, dass es ein paar Mädchen in der Klasse gab, die das wohl etwas anders zu sehen schienen. Sie lächelten mich immer öfter an. Wie konnte das sein?

Ich denke, es war wohl in erster Linie diesem Alter geschuldet. Um die 17 war man gemeinhin sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Jedenfalls ergab sich mit der Zeit eine Situation, die ich niemals für möglich gehalten hätte: Die Mädchen meiner Klasse gerieten, zunächst, wie gesagt zu meiner völligen Überraschung, später dann aber durchaus zu meinem wachsenden Vergnügen, mit der Zeit in eine Art zunehmenden Wettbewerb untereinander. Ohne mein großes Zutun entstand eine interessante Psychodynamik zwischen den Mädchen, die darin bestand, dass sie versuchten, sich gegenseitig zu überbieten. Es war wohl eine Art Verdrängungswettbewerb der kleinen Eifersüchteleien. Sah die Eine, dass die Andere mir einen Zettel zusteckte, dann schrieb sie natürlich auch einen und das tat dann auch die Nächste.

Jetzt wollten sie wohl wissen, wer den Neuen kriegt. Das war in erster Linie ein Ding der Rivalität zwischen diesen Schulmädchen untereienander. Sie entzündeten sich selbst. Ich hab nichts gemacht, echt nicht. Ich hab nur mal hier und da gelächelt und geschaut. Der Rest war ein Selbstläufer, zu dem ich kam, wie die Jungfrau zum Kind.

Auf einmal war der blasse Junge, der oft genug auf dem Gymnasium nur der Außenseiter gewesen war, der neue, heiße Typ in der Klasse. In dieser Rolle fand ich mich relativ unerwartet wieder, wie man sich denken kann. Ich fragte mich, wie das überhaupt sein konnte. Vielleicht war es einfach der Reiz des Neuen. Vielleicht übersah ich auch etwas an mir, was eine gewisse Anziehungskraft auf sie ausübte? Ich wusste es nicht, aber was es auch immer war: Ich war der glückliche Nutznießer dieser neuen Situation und ich fand es natürlich wunderbar. Es schmeichelte mir und meinem Ego. Das war eine willkommene Wohltat und Bestätigung, denn in meinem Buckel steckten ja schon ein paar Harpunen und Lanzen aus Enttäuschung, die mir die Walfänger des Schicksals auf den Leib geschleudert hatten.

Jedenfalls schienen meine Mitschülerinnen altersbedingt in hormoneller Aufruhr zu sein und so glänzten mich immer mehr Augenpaare an, wenn ich den Kopf in der Schulbank nach hinten drehte und in das Rund des Klassenzimmers sah. Sie grinsten um die Wette. Das war wirklich eine sehr angenehme Position. Etwas ähnliches hatte ich, wenn überhaupt, nur in der Grundschule erlebt mit meinem knutschwütigen Vierertisch-Gespann. Ich dachte, ich träume das alles nur! Auch hier kamen nun die ersten Zettelchen aus Löschpapier zu mir, die in schöner Mädchenschrift beschrieben waren. Sie überboten sich in Freundlichkeit.

Meine wirkliche Favoritin auf dieser Schule war aber ein Mädchen in der Parallelklasse. Sie hatte das, was mich anzog. Eine herausragende Persönlichkeit und zwei deutlich hervorragende Busen, die meinem Augenmerk nicht entgangen waren. Dieses Mädchen war aus vielerlei Gründen auffällig. Sie schien auch wirklich alles dafür zu tun. Sie wechselte alle paar Tage ihre grelle Haarfarbe und kleidete sich darüber hinaus so völlig hemmungslos, kreativ und ausgefallen, dass es an manchen Tagen geradezu skurril zu nennen war, wie sie aussah. Aber sie sah immer gut aus. Sie zelebrierte sich selbstbewusst und traute sich was. War sie am gestrigen Tage noch in schwarzweiß-karierter Latzhose und königsblauen Haaren aufgefallen, konnte es sehr gut passieren, dass sie am darauffolgenden Tag mit orangem Haupthaar und Minirock aufmarschierte. Sie lieferte echt eine Show. Sie war ein Star, ein wildes, buntes Mädchen.

Ihr aller auffälligstes Feature waren aber ihre großen Augen. Und ich meine wirklich ihre Augen. Es waren die Augen von Kleopatra. Es waren zwei riesige, verträumte, von Kajal umrandete Scheinwerfer. Das schimmernde obere Lid ließ sie lässig und cool auf halbe Höhe herabhängen, was ihr eine Art coolen Schlafzimmerblick verlieh. Wenn ich ihr als Schulkamerad in der Raucherecke auf dem Schulhof bei einem beiläufigen Gespräch in diese Augen sah, wurde mir auf eine sehr gute Art und Weise ein wenig schwindelig. Ihre magischen Augen schienen der Eingang in eine andere Welt zu sein. Ich brachte sie zum Lachen und manchmal hatte ich ganz leicht das Gefühl, als ginge der eine oder andere Blick ein bisschen tiefer, aber dann lernte ich im Laufe dieser Pausengespräche, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte. Sie erzählte mir, dass sie mit älteren Jungs rumhing. Das waren richtige Typen mit Bartstoppeln und langen Haaren so, richtige junge Männer, die 18 Jahre und älter waren. Das war in dem Alter ein meilenweiter Unterschied. Dagegen war ich noch ein Bubbi. Kleopatra war, was ich zu meinem Bedauern feststellen musste, außer Reichweite.

Dennoch schreib ich ihr kleine Zettel mit Flirtnachrichten, wenn wir gemeinsam mit ihrer Klasse Chemie-Unterricht hatten. Ich hatte ja nichts zu verlieren. Aber ich machte mir keine großen Hoffnungen. Barthaare hatte ich nur einzelne und sie waren in ihrer Anzahl so gering, dass sie schnell gezählt waren.

Immerhin sprach sie mit mir und wir lachten gerne zusammen. Ich mochte sie sofort. Kleopatra hatte eine lockere und angenehme Art. In kurzen gestohlenen Blicken versank ich für flüchtige, intensive Momente in ihren großen Augen. Ich tauchte hinein wie in einen Traum.

Dann verkündete unsere Klassenlehrerin Frau Brackenacker eines Tages das Ziel der diesjährigen Klassenfahrt: “Wir werden also zum Chiemsee fahren!” Ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich als kleiner Junge schon einmal dort gewesen war, auf der Schlösser-Reise mit meiner Mutter. Auf der Herreninsel im Chiemsee hatten wir damals das Schloss von Ludwig dem II. besichtigt. Es war eine schöne Gegend, ohne Frage. Ich freute mich also auf diese Fahrt, denn ich hatte das schöne Bayern in bester Erinnerung.

Schon wenige Wochen später saß ich inmitten meiner Klassenkameraden im Reisebus und wir rollten über endlose Autobahnen gen Süden. Dem Busfahrer waren Musikkassetten übergeben worden und so dudelte im Hintergrund eine wilde Mischung aus Pet Shop Boys, Depeche Mode, Frankie goes to Hollywood und anderen Songs aus den aktuellen Charts. Die Stimmung in der gesamten Klasse war altersgemäß ausgelassen und so war der ganze Bus voller Gekichere und Geplapper. Es wurde Capri-Sonne getrunken. Die Fahrt zog sich scheinbar ewig.

Und wie das bei derlei Ausflügen mit Jungs und Mädchen in dieser Altersgruppe so ist, gilt das eherne und ungeschriebene Naturgesetz, dass die streng getrennten Geschlechter sich nachts in ihren Zimmern besuchen. So trug es sich um Mitternacht in der Jugendherberge zu, dass sich die mutigsten Jungs, barfuss und in Schlafanzüge gewandet, hervorwagten und die langen Flure Richtung Mädchenflügel entlangschlichen. Irgendwann meldeten diese zur Erkundung der Lage ausgesandten Pioniere, dass die Bahn frei war. „Keiner mehr zu sehen. Die sind pennen gegangen!“ Gemeint waren natürlich die begleitenden Lehrer, die bis zu einer gewissen Uhrzeit im Flur wachend ausgeharrt hatten. Mit Adleraugen hatte der Lehrkörper bis dahin in das Dunkel der Gänge gestarrt, um selbst den kleinsten Versuch einer Annäherung der Geschlechter zu verhindern, aber schließlich waren die Augendeckel unwiderstehlich schwer geworden. Jetzt, kurz nach Mitternacht, war nun endlich die Bahn frei und die Natur konnte ihren Lauf nehmen. Der erschlaffte Lehrkörper hatte sich ins weiche Etagenbett in seiner Kammer zurückgezogen. Ein bisschen aufgeregt, breit grinsend und auf Zehenspitzen, schlichen wir nun zu viert im bleichen Mondlicht los, das silbern durch die Fenster sickerte und unsere Gestalten wie Zauber umriss. Das Gefühl von Wagemut und Abenteuer stieg in uns auf. Schließlich öffneten wir kichernd die Türe des Schlafraumes der Mädchen.

Und es war einmalig: Ich schaute mich in dem Raum um. Ebenfalls in Mondenschein gehüllt, sah ich, an den Wänden entlang, das Rund der Etagenbetten stehen. In jedem Bett lag ein hübsch gekämmtes, blumig duftendes Mädchen im Nachthemd und aus dem Halbdunkel glitzerten mich die Augenpaare an, wie kleine Sternchen. Sie sahen mich an! Das war wohl der glorreichste Moment, den ich bis dahin erlebt hatte. Wohin ich mich auch wandte, wurde die Bettdecke mit einem breiten Grinsen und leuchtenden Augen einladend aufgeschlagen. Ich hatte die freie Auswahl! Es hört sich an wie ein Traum, wie pure Angeberei, aber ich bin mir relativ sicher, dass ich es wirklich so erlebt habe. Es mag lediglich durch die Schleier der Erinnerung ein wenig verklärt sein.

Ja, was macht man da? Man muss sich irgendwie entscheiden. Sobald man sich jedoch bei der Einen niederlässt, enttäuscht man die Anderen.

Ich wollte mir nach Möglichkeit jedoch nichts entgehen lassen. Ich löste dieses Luxus-Problem, indem ich jede Nacht einfach eine andere Mitschülerin besuchte. Wobei ich zur Ehrenrettung dieser jungen Damen sagen muss, dass das recht harmlos ablief. Da lief jetzt kein harter Sex ab. Es war ganz süßes, liebliches Teenagergefummel, ein bisschen Knutschen und Streicheln, es war alles ganz harmlos, aber gleichzeitig war es zuckersüß. Ich fühlte mich natürlich sauwohl in dieser Lage. In den Schlafraum der Mädchen zu kommen und sich frei aussuchen zu können, wohin man sprang, war erhebend. Ich war, warum auch immer, bei jeder einzelnen jungen Dame willkommen zu der ich mich legte und ich roch dort den Duft ihrer Shampoos und spürte ihre Lippen. „Dolle Sache, so eine Realschule!“ dachte ich.

Mein junges Ego jubilierte. So viel Aufmerksamkeit und Interesse tat einfach gut! Ich fühlte mich so gemocht und willkommen. Es war herrlich. Diese netten Mädchen machten mich zu einem kleinen Helden. Dankbar nahm ich den Flirt mit ihnen allen auf. Ich versuchte meine Aufmerksamkeit möglichst gerecht unter ihnen zu verteilen.

Trotzdem kam es natürlich zu Eifersüchteleien. Sie begannen sich untereinander etwas zu anzuzicken, obwohl sie eigentlich alle seit Jahren gut befreundet waren. Eine psycholgische Kettenreaktion der Rivalitäten, die meinen Marktwert nur noch steigerte. Irgendwie war ich der Glückspilz dieser Klassenfahrt.

Der Lehrer ermahnte die Mädchen: “Ich glaube nicht, dass der Sven wirklich ehrenhafte Absichten verfolgt!” Aber auch diese Belehrung feuerte den kleinen Hype um mich nur noch mehr an. Ich denke auf dieser Klassenfahrt wurde derjenige Teil meines Egos geboren, der sich fortan aus Erfolgserlebnissen bei Frauen nähren würde. Im Fokus eines Mädchens zu stehen, war Superraketentreibstoff für das Selbstwertgefühl. Ich fühlte mich schön, gewollt, beliebt. Das tat richtig gut! Es war erhebend und ich konnte etwas höher fliegen. So jung, wie ich war, sah ich nichts Schlechtes darin. Es war Balsam für mich, es tat mir gut, warum sollte ich das nicht genießen? Dass es keine gute Sache ist, wenn man die Gefühle Anderer benutzt, um sich selbst zu pushen, lernte ich erst viel später. Das waren keine Einsichten, die ich mit 17 schon hatte. Und das war okay. Jetzt lernte ich erst einmal diese gute Seite der Medaille kennen und sie war strahlend und beglückend. Und vielleicht hatte ich ja auch ein wenig Glück verdient, wer weiß?

Von dieser Fahrt kam ich also mit stolzer, breiter Brust zurück nach Krefeld. Noch auf der Rückfahrt im Bus knutschte ich mich wie ein Scheich durch mein Harem und hangelte mich durch die Umarmungen, wie Tarzan durch die Lianen. Mein Selbstbewusstsein war an diesen Erfahrungen gewachsen und es war mir sehr eindrucksvoll und eindrücklich gezeigt worden, dass es auch andere Mädchen gab und dass ich sogar beste Chancen bei ihnen hatte. Ich war so vollgepumpt mit Glück, dass ich glaubte, in dieser Woche mindestens 10 Zentimeter größer geworden zu sein. Das bekam auch die Grünäugige vom Gymnasium zu spüren, der ich stolz und pathetisch mit verschränkten Armen vor der Brust verkündete: „Ich brauche Dich nun nicht mehr!“ Irgendwie war es eine Genugtuung nach den ganzen Demütigungen, die sie mir schon zugefügt hatte. Wir standen in meinem Dachkämmerlein unter der Dachschräge und ich fühlte mich wie ein Riese. Da schaute sie verdutzt drein. Bisher war ich ihr willenloser Bettvorleger gewesen. Aber das war nun vorbei.

Und es scheint ein Naturgesetz zu sein: Von diesem Tage an drehte sich das ganze Spiel und nun hing sie mir nach. „Es ist etwas in den Weibern, das so gestrickt ist. Willst Du sie wirklich, dann bist Du sowas von uninteressant, aber willst Du sie nicht, dann vergöttern sie Dich und rennen Dir nach.“ sagte ich zu Woody, als wir wieder auf dem Dach der Krawattenfabrik kifften. Und er lauschte aufmerksam und nickte gelehrig, denn seine Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht waren noch sehr überschaubar. Ich legte mich rückwärts ausgestreckt auf das Dach und stellte mir vor, im Himmel zu fliegen. Das Blau sah unendlich aus.

Und nun erinnern wir uns an meinen Wunsch an das Universum. Ich hatte Gott in vielen verzweifelten Nächten, im Mondlicht weinend, gebeten mir die Liebe des Grünauges zu schenken. Ich war bereit gewesen ihm alles andere dafür zu opfern. „Nur dieses Eine, das tue für mich: Mach, dass sie mich liebt!“ Ich hatte ihm versprochen, dass ich ihn nie wieder um etwas bitten würde, aber diesen einen, alles entscheidenden Wunsch, den musste er mir einfach erfüllen, denn einzig und allein dieses Mädchen war mir als das unendliche Glück auf Erden erschienen. Bekäme ich sie nicht, wäre alles verfehlt.

Nun war es wahr geworden. Zwar hatte es etwas gedauert und es waren ein paar Monate ins Land gegangen, aber das Universum hatte am Ende tatsächlich geliefert. Nun geschah genau das, was aus damaliger Sicht völlig undenkbar erschienen war. Grünauge hatte ihre Liebe zu mir entdeckt.

Nicht lang nach der lebensverändernden Klassenfahrt saß sie eines Tages neben mir und war wie ausgewechselt. Nun liebte sie mich. Sie sagte es. Sie zeigte es. Sie meinte es. Es war keine kurze Teenagerlaune, wie sonst. Es war klar im Raum zu spüren, dass es jetzt ernst war. Sie liebte mich genau so und von Herzen, wie ich es mir gewünscht hatte. Und es ist schrecklich, aber nun in diesem Moment, als es wahr wurde, schien es auf einmal nicht mehr die Erfüllung meiner Träume zu sein. Es setzte kein Glücksregen ein. Der Himmel öffnete sich nicht.

Nun war dieser unglaubliche Moment da, für den ich bereit gewesen war, den ganzen Rest meines Lebens zu opfern. Das Universum hatte das Schicksal zu meinen Gunsten derart verbogen, dass in diesem Augenblick wahr wurde, was ich mir erfleht hatte. Mit tränenschimmernden Blick sah sie mich fragend an und suchte auf dem Grund meiner Augen nach der Liebe, die dort immer gebrannt hatte und fand sie nicht mehr. Ich konnte es selbst nicht fassen. Die Voraussetzungen hatten sich verändert. Nun hatte ich über den Tellerrand geschaut und dahinter einen weitereren Horizont erblickt, der alles verschob und relativierte. Jetzt, da sie in Liebe vor mir saß, war es einfach nicht das Glück, was ich mir darunter vorgestellt hatte. Es schien nicht mehr so wertvoll. Ich öffnete die Schatzkiste und fand sie leer. Wo war meine Liebe jetzt? War sie zu ihr übergewechselt?

Es war, als sei ich einer Fata Morgana entgegengegangen und jetzt, da ich mich am Ziel wähnte, entzauberte sich alles. Jetzt saß sie hier und ich hätte sie nur in Empfang nehmen müssen. Ich hätte sie nur umarmen brauchen, um das glückselige Happy End perfekt zu machen. Und in dieser Sekunde war der Zauber einfach weg. Gemein irgendwie. Für sie und für mich.

Mit der Erfüllung meines Herzenswunsches kam anstatt des Glücks eine unfassbare Ernüchterung einher. Wie konnte das sein? Ich starrte in die leere Schatzkiste und fühlte mich beraubt. Ratlos und schweigend saßen wir auf dem Rand meiner Matratze. Es war eine Lektion des Universums, die ich erst viele Jahre später verstehen würde.

“Dies, nur dieses Eine, wäre das Glück!” hatte ich damals gefleht. Ich war so absolut sicher gewesen. Es war doch in diesen sehnsuchtsvollen Nächten so unzweifelhaft klar erschienen. Mein Herz hatte damals mehr als deutlich gesprochen. Nie hatte ich etwas stärker gefühlt. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich es je wieder anders würde empfinden können. Was war geschehen? Der Wunsch war erfüllt und brachte dennoch keine Erfüllung. Und als wäre diese Lektion nicht schon hart genug, schlug ich nun noch der Liebe, dem Grünauge und dem Universum dreist ins Gesicht und versündigte mich für alle Zeit. Was ich als nächstes tat, sollte mein Karma für tausend Leben negativ aufladen.

In meinem alten und nun nagelneu aufpoliertem Hochmut beschloss ich nun, den Spieß umzudrehen. Ich zog die Lanze aus Demütigung, die sie mir so oft in den Leib getrieben hatte, aus meinem Buckel und rammte sie in ihr nun gnadenlos in ihr wehrloses Herz. In ihr offenes, liebendes Herz, welches ich mit Hilfe der Götter erobert hatte. Der Teufel und das Ego müssen mich geritten haben. Als der maßlose Königssohn, der ich war, und selten war ich maßloser als in jenem Moment, nutzte ich die Situation nun knallhart aus. Ich zog die Augenbraue hoch und in meiner unermesslichen Güte und Gnade sagte ich: “Okay……Nun gut. Du kannst mich jeden Sonntag um exakt 14:00 Uhr besuchen, damit wir Sex haben können!”.

Dies war ein Sündenfall, aber ich bemerkte es kaum. Nun war ich der König und ich diktierte es ihr. Und sie saß da mit der Liebe im Herzen, die ich ihr aufgezwungen hatte, und akzeptierte. “Wenn das alles ist, was ich kriegen kann, nehme ich es!” sagte sie und gehorchte.

Damals habe ich es als gar nicht so schlimm angesehen. Ich verhielt mich einfach wie das einstmals verwöhnte Kind, das ich im Inneren immer noch war, als wäre das Leben ein einziger Spielzeugladen. Erst heute, als langsam alternder Mann, der zurückblickt und sein Leben in Zeilen fasst, sehe ich das Verwerfliche an der ganzen Sache. Was erlaubte ich mir da? Erst zwang ich sie unter Verpfändung meines Lebens und mit der Hilfe des Universums mich zu lieben, um sie dann als Sexdienerin antanzen zu lassen? Es ist übel, aber ich fürchte genau das tat ich. Aber keine Sorge! Ich würde später bitter dafür bezahlen müssen.

Viele Monate in Folge kam sie daraufhin sonntags stets pünktlich mit ihrem Hollandrad zu mir geradelt, stieg die Treppen zu meinem Dachzimmer empor, entkleidete sich und schlüpfte sexy und splitternackt zu mir ins Bett und stellte keine Fragen darüber wo ich mich rumgetrieben hatte. Sie beschenkte mich mit hohen Wogen freudiger Wonne. Sie fand nach unserem ersten Akt meistens noch einen Krümel Hasch irgendwo in den unerforschlichen Tiefen ihrer Handtasche. Wir rauchten ihn nackt und glücklich und wenn wir dann hungrig wurden, zog sie sich an und besorgte uns Pizza und Salat von dem kleinen Italiener auf der Viktoriastraße. Ich lag wie der König von Universien im Bett auf dem Rücken, alle Viere von mir gestreckt und ließ mich bedienen. Zu guter Letzt blies sie mir einen nach allen Regeln der Kunst, als königlich-himmlischen Nachtisch sozusagen, als unerhörtes Highlight des Daseins. Es kann gut sein, dass ich an diesen Sonntagen zu den glücklichsten Jungen zählte, die jemals das Vergnügen hatten, auf diesem Erdenrund zu schreiten. Wie immer beobachtete ich sie genau dabei, wie sie ihren edlen, delikaten Mund dafür hergab. Im Hintergrund das sündige Schaukeln ihrer Brüste. Was für eine Zelebration, was für ein Service! Mir wollte auf Erden kein höherer Genuss einfallen. Und es fällt mir bis heute tatsächlich nicht viel ein, was ich mehr genoss als eben genau dies. Sie sprach und aß mit ihrem wunderschönen Mund, der durchaus edel und schön war, und nun tat sie dies damit. Was war das doch für eine hohe Ehre und gleichzeitig sah es so unverschämt sündig und verboten aus. Wenn ich sie mich auf diese Art in schwindelerregende Höhen entführt hatte und ich zuckersüß im Himmelreich explodierte und ejakulierte, nahm sie das Sperma zwar in den Mund auf, schluckte es aber selten. Sie hatte eine feine Art, es danach in ein Taschentuch zu geben. Das machte sie wirklich formvollendet und mit aristokratischer Miene.

Fast elegant faltete sie das Tuch dann zusammen und gab mitunter einen Kommentar über den Geschmack ab: “Hm, gar nicht so übel heute, hast Du Ananas gegessen?!”

Ich lag selig und bewunderte ihre Schönheit, während sie sich aufrichtete und den Rücken nach hinten durchdrückte, was ihre majestätischen Brüste zu voller Geltung brachte. Sie war solch ein Klasseweib! Eine Sexgöttin. Ein wahres Geschenk des Himmels. Danach ging sie und ich konnte erleichtert und glücklich einschlafen. Diese Sonntage mit dem Grünauge waren im wahrsten Sinne unverschämt gute Tage. Das Universum grollte jedoch. Da braute sich weit entfernt im Zentrum der Galaxien Unheil zusammen. Und es ist keine gute Idee, sich mit dem Universum anzulegen.

In der neuen Schule gab es statt dem Grünauge nun das große Auge der Kleopatra. Ich weiß gar nicht, wie ich letztlich dazu kam, aber nach vielen Zettelchen, die wir im Unterricht hin und her geschickt hatten, nach vielen gemeinsamen Pausen in der Raucherecke, bei denen wir gelacht und ich immer wieder in den fremden Kosmos ihrer Augen eingetaucht war, geschah das Unglaubliche. Irgendwie hatten wir uns zu einem nachmittäglichen Besuch bei ihr verabredet. Das war ein ungeheures Ding für mich, denn wie gesagt, war das Traumauge der Kleopatra zwar wunderschön, aber es war ein Stern aus einer anderen Galaxie, viel zu fern, um jemals erreicht zu werden. Obwohl das Ganze kein Date war, sondern vielmehr eine harmlose Verabredung zweier Schulkameraden, war ich natürlich aufgeregt, denn ich schwärmte schon ziemlich für dieses ungewöhnliche, hübsche Mädchen mit den großen Augen und wie ich ahnte mindestens ebenso tollen Busen. Ich wollte ihr zeigen, wer ich war, also packte ich eine Schallplatte, die gut fand und unser Familienalbum mit meinen ganzen Kindheitsfotos in einen Rucksack und fuhr mit dem Fahrrad zu ihr. Sie hatte mir den Weg gut erklärt und so fand ich das Einfamilienhaus in der ruhigen Wohngegend sofort. Ich weiß noch, wie schüchtern und aufgeregt ich auf den Klingelknopf drückte. Kleopatra öffnete die Türe mit ihrem üblichen, coolen Blick. Ihre glänzenden Augendeckel waren halb herabgelasssen, bis an den Rand ihrer Iris und es wirkte unglaublich souverän und lässig. Irgendwie fand ich, dass sie aussah, als wüsste sie schon lange jedes Geheimnis dieser Welt und als koste es sie sehr viel Geduld mit dem Rest der unwissenden Menschheit umzugehen, der blind umherrannte und noch nach den Antworten suchte. Antworten, die das allsehende Auge der Kleopatra schon seit Anbeginn der Zeit gesehen hatte. Aber ihr kurzes Lächeln hob diesen Eindruck gleich wieder auf die wundervollste Weise auf. Sie führte mich in den Keller, wo sie ein großzügiges Reich bewohnte. Wir spielten uns gegenseitig ein paar Lieblingslieder vor und sahen uns Kinderfotos an. Besonders die Musikauswahl verdeutlichte unsere Unterschiede. Sie hörte am liebsten Cure und New Model Army und ich hatte aus unerfindlichen Gründen eine alte LP von “Markus” mitgebracht, einem Sänger der “Neuen deutschen Welle”, die lange vergessen, nicht up to date und einigermaßen peinlich war. Aber mir bedeuten ein paar Songs von diesem Album etwas und da hatte ich es einfach eingepackt.

Obwohl da auf der formellen Schiene anscheinend nicht viel zusammenzupassen schien, war da doch eine angenehme Stimmung zwischen uns, eine Sympathie, die vollkommen unabhängig von allem Äußerlichen war. Und dann ergab sich auf einmal ein Moment, mit dem ich wirklich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte. Mitten in unserem Geplapper hielten ihre großen Augen meinen Blick auf einmal fest und der ganze Raum begann sich ganz leicht um das Zentrum ihrer Pupille zu drehen. Schlagartig riss unser Gespräch ab. Nun sprachen nur noch die Augen. Ihr Gesicht mit diesem träumerischen, hypnotischen Blick schien heran zu schweben und mir näher zu kommen. Und tatsächlich: Sie war im Begriff, mich, den blassen, segelohrigen Niemand, zu küssen! Das war wirklich unvorhergesehen. Es konnte eigentlich gar nicht wahr sein. Unwirklich wie in einem Traum berührten meine Lippen einen Mund, den ich nie zu hoffen gewagt hätte, jemals küssen zu dürfen.

Der Raum drehte sich und dieser Kuss war für mich so süß wie verbotene Trauben. Irgendwie mochte die mich, obwohl ich eigentlich nicht in Frage kam. Noch in diesem Moment, während unsere Lippen und Zungen sich berührten, wusste ich, dass ich diese Knutscherei nur einem unverschämten Glücksfall zu verdanken hatte, dass es ein gestohlener, heimlicher Moment jenseits der Normalität war, der kaum Aussicht auf Fortsetzung hatte. Kleopatra war einige Nummern zu groß für mich, sie war die Herrscherin über die goldenen Pyramiden und ich war nur ein minderjähriger Sklave aus dem Steinbruch. Ich verdankte diesen Segen einer günstigen Laune. Das wusste ich. Aber der Kuss dieser Wüstenkönigin mit dem allwissenden Blick entflammte mich natürlich und spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich wirklich etwas verliebt in sie.

Bevor ich an diesem Abend schließlich wieder mit dem Rad nach Hause fuhr, beobachtete ich sie noch dabei, wie sie sich vor dem Spiegel für die Disco in der “Kufa” zurechtmachte. Sie würde noch ausgehen. Mein lieber Gevatter! So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Sie stülpte sich eine weiße Perücke über, die sie zuvor mit dem Kreppeisen bearbeitet hatte, umrandete ihre ausdrucksstarken Augen mit dicken, schwarzen Kajal, schwang sich ein weites, schwarzes Cape um und entschwand auf diese Art gewandet in die Nacht, wie eine Fledermaus mit Mozartfrisur. Ich sah ihr nach, wie sie auf dem Fahrrad im Mondlicht mit wehendem Umhang wegflatterte, wie eine bizarre Figur aus einem Comicheft. Ich blieb staunend zurück. Dieses Mädel lebte in einer komplett anderen Welt als ich. Benommen stand ich da. “Aber wow! Die hat mich tatsächlich geküsst!“ erinnerte ich mich freudestrahlend. Als ich schließlich auf meinem Rad den Heimweg ins Dunkel der Nacht antrat, tauchte ihr hypnotischer Schlafzimmerblick wieder vor meinem inneren Auge auf. Das allsehende Auge der Kleopatra sah mich an.

Die amerikanische Sängerin Madonna war in diesen Jahren sehr erfolgreich. Sie war durch zahlreiche Hits in den Charts zu einem wahren Superstar herangewachsen und stand bald in einer Reihe mit den größten Stars wie Prince und Michael Jackson. Regelmäßig erschienen neue Videos von ihr, in denen sie tanzte und sang. Auf ihre Art dominierte sie diese Zeit und somit verfolgte ich ihre Karriere ohne ein besonderer Fan zu sein, schon fast zwangsläufig, weil sie einfach allgegenwärtig war. Diese Frau war damals omnipräsent und unumgänglich. Auf allen Kanälen, die ich auf meinem kleinen, silbernen Fernseher in meinem Dachkämmerchen einschaltete, kam sie mir entgegen. Aber es war schon okay. Wirklich schlecht war ihre Musik nicht. Ebenfalls in dieser Zeit tauchte ein unverschämt hübscher, junger Mann in einem sehr originellen Werbespot für Levi’s Jeans auf, der für Aufsehen sorgte. Der braungebrannte Jüngling mit der schwarzglänzenden Haartolle zog sich in einem Waschsalon bis auf die Unterhose aus, schmiss seine Jeans in die Trommel und setzte sich dann ganz cool, in Unterhosen, zeitungslesend und halbnackt zwischen die anderen wartenden Leute hin, um auf seine saubere Hose zu warten. Dieser Junge sah atemberaubend gut aus. Madonna fand das wohl auch. Aus den englischen Kommentaren der VJs auf den Musiksendern verstand ich, dass sie wohl ein Lied für ihn geschrieben und produziert hatte. Es hieß: “ Each time you break my heart“ und bald darauf konnte man also diesen schönen Jungen aus dem Werbespot in seinem ersten eigenen Musikvideo bewundern. Er sang mit relativ dünner Stimme, aber der Song war gut und so wurde das ganze Ding mit Madonnas Hilfe ein Hit, natürlich auch Dank dieses für einen Mann fast zu schönen Gesichts und eines Augenaufschlags, wie er sonst nur sündhaft schönen Frauen gelang. Ich sah seine zurückgegelte, hohe Tolle, seine braune Haut, seine Art zu tanzen und da hatte er es mir angetan! Ich wollte auch so sein. So schön, so braun, so unwiderstehlich! Leider ergab meine kritische Kontrolle im Badezimmerspiegel, dass ich überhaupt nicht so aussah. Also ging ich kurzerhand zum Drogeriemarkt und besorgte mir Selbstbräuner und blauschwarze Haarfarbe um der Sache näherzukommen.

Am nächsten Tag stand ich mit orangegelbem, fleckigem Gesicht und Händen und pechschwarz gefärbtem Haupthaar in der Raucherecke auf dem Schulhof. Wie sich herausgestellt hatte, war der fachgerechte Umgang mit Selbstbräuner gar nicht so einfach und auch mit der Haarfarbe hatte ich nicht so recht aufgepasst und so mischten sich die gelben, orangen und bräunlichen Flecken noch mit schwarzen Stellen an Stirn, Ohren und Fingern. Außerdem hatte ich nur im Gesicht und an den Händen den Selbstbräuner aufgetragen und auf diese Weise standen diese Körperpartien in einem orangen und krassen Gegensatz zum Rest meines zarten Körpers, der noch in königlicher Blässe leuchtete. Man musste meine Verschönerungsbemühungen wohl als gescheitert ansehen. Auf diese Weise war ich dem guten Aussehen von Nick Kamen nicht wirklich näher gekommen. Ganz im Gegenteil. Es war peinlich. Das Großauge der Kleopatra kicherte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Wenn ich mich so daran entsinne, wie ich dort als verunglückte, schwarzgelbe Tigerente in der Ecke des Pausenhofes stand, dann ist es eigentlich noch viel unerklärlicher als ohnehin schon, dass es nur wenige Tage später dazu kam, dass Kleopatra und ich im betrunkenen Kopf bei meinem athletischen Partykumpel Thor zuhause auf dem Sofa landeten.

Scheinbar ganz ohne die Hilfe der Götter oder des Universums waren wir im Laufe unserer Wochenendaktivitäten in diese Situation geraten. Mit ein paar versprengten Leuten, die wir von Partys eingesammelt hatten, saßen wir irgendwann etwas benebelt von Hasch und Alkohol in Thors Zimmer rum und gegen alle Wahrscheinlichkeit war ich ein zweites Mal damit beschäftigt, die verträumte Herrscherin Ägyptens in meinen Armen zu halten und sie zu küssen. Irgendwann gingen die anderen Besucher und selbst Thor zog sich höflich und augenzwinkernd zurück und überließ uns sein Zimmer bereitwillig. So kam es, dass wir schließlich ungestört waren. Nun waren wir im Dunkeln allein. Ich konnte das alles gar nicht glauben. Nur der fahle Abglanz des Mondlichtes lag über Allem und schimmerte leise vom Weiß ihrer Augen wieder. Es war ein unwirklicher und traumgleicher Moment.

In diesem Licht sahen diese Augen noch viel mystischer aus als ohnehin schon. Unsere Küsse waren süß und wie gestohlen aus einer fernen Welt. Mein Herz wummerte aufgeregt und ich konnte mein Glück nicht fassen, als sie im silbernen Halbdunkel schließlich sogar ihr Höschen abstreifte, denn dies bedeutete wohl, dass ich in die Königskammer der Pyramiden eingeladen war.

Wieviel Glück kann man haben? Zuckersüß, feucht und weich empfing sie mich, während ich in der Weite ihres Schlafzimmerbicks verloren ging und ich konnte kaum glauben, dass dies wirklich geschah. Meine Hände umfingen die satten Halbkugeln ihres Busens. Wie, in aller Welt, war das zu erklären? Das Mondlicht umzeichnete sanft unsere Silhouetten und ich glitt, wie auf Samt in den goldenen Palast der Wüstenkönigin. Ich war Ali Baba und Sesam hatte sich geöffnet. Das römische Reich fiel in Ägypten ein.

Ich fand, dass das Leben für einen so jungen Bengel wie mich in diesen Tagen gar nicht besser hätte laufen können. Immer wieder sonntags kam Grünauge und verwöhnte mich und dann genoss ich ja auch noch die Aufmerksamkeit meiner reizenden Klassenkameradinnen. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie der Reihe nach zu besuchen. Ich strampelte sie sogar an einem einzelnen Nachmittag alle mit dem Fahrrad ab, nur um zu schauen, wie sich das anfühlte. Es war fast wie ein Experiment. Ich klingelte an den Haustüren und jedes Mal wiederholte sich daraufhin eine ähnliche Szene. Grinsende Köpfe mit wechselnden Haarfarben öffneten die Türen und ich folgte ihnen durch fremde Wohnungen in ein Zimmer und dort wurde dann ein bisschen auf dem Bett rumgeknutscht. Nichts weiter. Ich konnte mich ein bisschen begehrt fühlen. Es waren süße, kleine Schwärmereien. Wir spielten eine kleine Komödie.

Andernorts konnte es da schon derber abgehen! Manche Partys wurden regelrecht wild. Gelegentlich gab es diese besonderen Garten- und Geburtstagsparties, die geradezu entgleisten, auf denen sich wirklich alle sinnlos betranken und dann wurde dort, wie auf Kommando, wild rumgemacht. Thor klapperte mit mir nachwievor alle Events ab. Und manchmal landete man dabei eben auf dieser Art Party. Wenn irgendwo ein Riesenhaufen Fahrräder vor einem Haus stand, dann war man schon irgendwie richtig. Das war einfach ein interessantes Alter. Alle waren in ihrer Findungsphase und probierten sich aus. Kaum einer, auch die Mädchen nicht, suchen direkt den Partner für’s Leben. Da reichte es auch schon mal, sich für den Abend oder auch nur für 20 Minuten nahezukommen. So gab es, ab und an, eben diese legendären Ausnahmepartys, wo diese völligen Enthemmungen stattfanden, auf denen die Teenagerlust zu einer Art Lauffeuer wurde und alles irgendwann in so einer Art “Orgienmodus” gipfelte und schließlich jeder mit jedem fummelte. Es war bei diesen Gelegenheiten durchaus üblich, dass die Knutsch- und Fummelpartner vielfach wechselten. Es war als brächen Dämme. Wir reden von betrunkenen Teenagern, die in einer Art Kettenreaktion ihre Hemmungen verlieren. Es war die Zeit der Teenagerfummelorgien, der ersten Besäufnisse, der ersten Joints… Es war ziemlich wild. Das kennt doch jeder, oder nicht? Ich hielt Thor mitten in dem lebendigen Treiben im Vorbeigehen meinen Mittelfinger unter die Nase:”Rate mal!” Er schnüffelte daran und sagte ein paar Namen, aber er lag jedes Mal daneben. Wir lachten uns kaputt.

Neidisch sah ich an einem Spätsommerabend, vom Sattel meines Hollandrades, den Rücklichtern des Wagens nach, der mich eben auf der Grenzstraße in Richtung Stadtwald überholt hatte. Am Horizont flammten die Bremslichter unter einem sich langsam rosa färbenden Himmel auf. Da hinten, irgendwo am Rande des Stadtwalds, war die erste Party dieses Wochenendes. Jetzt waren die ersten Autos zum Fuhrpark der Partymeute hinzugekommen.

In keiner Lebensphase wogen die Jahre des Altersunterschiedes schwerer. Zwischen 17 und 19 lagen Welten. Die ein, zwei oder drei Jahre Älteren schienen Lichtjahre voraus. Die waren sowas von cool. Ich meine, ein Auto zu fahren, wie übermäßig stark war das denn bitte? Die ersten Leute betraten somit schon sichtbar die Welt der Erwachsenen. Wer einen Autoführerschein hatte und ein Auto, war in meinen noch nicht ganz volljährigen Augen ein Übermensch und Coolheitsgott! Ich strampelte schwitzend mit meinem Hollandrad hinterher, auf dem Weg zu der Gartenparty, die einer meiner ehemaligen “Gymnasiumsfreunde” im Wohlstandsgürtel um den Stadtwald herum gab. Die laue Luft dieses Sommerabends roch nach dem Parfüm, dass die Sträucher, Hecken und Bäume verbreiteten. Jung und mit einem Herzen voller unerfüllter Lebenslust trat ich in die Pedale. Die Party war irgendwo in einem der edlen Viertel, die rund um den Stadtwald lagen. Hier standen die großen, schönen Häuser und Villen der wohlhabenden Menschen unserer Stadt. Und nun sah ich die ersten Jungs mit ihren Cabrios an mir vorbeibrausen. Ich sah ihnen mit sehnsuchtsvollem Gefühlen nach, sah wie sie in Richtung Stadtwald verschwanden.

Wenig später, im lila-rosanen Farbenspiel der Dämmerung, als ich endlich bei der gesuchten Adresse ankam, sah ich die Wagen und Mopeds in einer langsam rollenden Prozession an einem Gartentor vorbeirollen. Das war unverkennbar der Eingang zur Party. Eine Traube aus ausgelassenen Jungs und Mädels stand johlend davor. Es war ein einziges großes Hallo. Ich machte mein Fahrrad mit dem Nummernschloss an einer Laterne fest. Wie in einem Highschoolfilm rollten die Champions und coolen Kids in chromglänzenden Automobilen an mir vorbei. Der kupferrote Schimmer der Abendsonne spiegelte sich dabei unwiderstehlich im Lack der Karosserien wider.

Dann sprangen die Türen auf und die lachenden Sonnyboys entstiegen, frisch gestylt, den prachtvollen Wagen und schwer schlugen die Autotüren hinter ihnen ins Schloss. Breitschultrig und lachend stiefelten sie der Musik und dem Gartentor entgegen: Es waren dies die jungen Helden der Nacht. Ich sah es fast in Zeitlupe ablaufen, wie in einem Kinofilm, in einem Werbespot.

Mit roten Ohren und blassem Gesicht stand ich später im Dunkel der dritten Reihe und beobachtete die wirklich coolen Jungs, wie sie den Mittelpunkt der Party bildeten. Ich sah, wie die Mädchen sie mit ihren Augen anglitzerten, wie die Jungs sie bewunderten und wie jedermann versuchte ein wenig Aufmerksamkeit von ihnen zu erheischen. Es hatte einen gewissen Zauber. Diese Typen hatten die Aura des Interessanten, der Schönheit und der jugendlichen Souveränität. Irgendwas in mir wollte auch so sein. Ich war beeindruckt. Sie waren strahlend, selbstbewusst und laut, sie hatten Schneid und ihnen schien die Welt zu gehören.

Ich hingegen wurde kaum gesehen. Ich konnte wirklich froh sein, dass ich hier überhaupt geduldet wurde und gerade noch Einlass bekommen hatte. Ohne Thor wäre ich wahrscheinlich draußen geblieben, aber wie immer war ich in seinem Windschatten irgendwie mit reingehuscht. “Er ist mit mir hier!” sagte Thor nur und ihm schlugen die Jungs am Einlass selten etwas ab. Die hochgezüchteten, schönen Wohlstandstöchter mit ihren excellent geschminkten Gesichtern würdigten mich keines Blickes. Ich hatte nichts zu bieten, keinen Namen, keine Herkunft, keinen Schneid. So blieb mir nur, dies pralle Leben als unsichtbarer Niemand zu beobachten. Und das tat ich. Ziemlich neidisch und eifersüchtig, aber auch fast atemlos vor Bewunderung. Ich saugte diesen Sommerabend mit all seiner Energie, den Stimmen, dem Gläserklingen, dem Lachen und der Musik ein. Thor hingegen war mittendrin. Er ließ seinerseits gekonnt die Puppen tanzen. Er kannte ja jeden, auch die Älteren, und so war er auf seine selbstbewusste Art überall dabei. Er gröhlte, lachte, prostete und tanzte mitten im Treiben. Irgendetwas in mir wollte auch so sein, aber ich war gefangen in meiner Schüchternheit und Unsicherheit und hatte weder den Mumm, noch das Geld, noch das Aussehen, um da irgendwie ranzukommen.

In diesen Jahren war es unter anderem Mode geworden, Baseball zu spielen. Und so entstanden auch in Krefeld ein paar rivalisierende Clubs. “Bobbins” und “Crocodiles” und wie sie alle hießen. Die Leitkultur war damals noch eindeutig amerikanisch. Hollywood hatte uns fest im Griff. Einige waren als Austauschstudenten in den Staaten gewesen und sie hatten diesen Teil des Lifestyles mitgebracht. Also hingen irgendwann deutlich sichtbar, überall diese “All american Guys” auf den Parties in ihren Baseballjacken und Caps rum, verbanden sich zu gröhlenden Trauben und bestimmten das Geschehen deutlich mit.

„Seht diesen Lustsklaven! Nur Muskeln und Samenstränge!“ rief einer von Ihnen nun. Es war ein schwarzgelockter junger Mann, der nun spontan einen seiner Buddies zur Versteigerung anbot. Er riss den muskulösen Arm seines blonden Kumpels in die Höhe wie ein Ringrichter nach einem Boxkampf. „Höre ich ein Gebot?“ Zuerst quiekten und kicherten die angesprochenen Mädchen nur, aber dann traute sich eine und rief: “Zwanzig Mark!” und alles lachte und gröhlte. “Was? Das soll ja wohl ein Witz sein!” reagierte der junge Mann mit den schwarzen Locken. “Der kann’s die ganze Nacht! Das ist eine einmalige Gelegenheit! Also bitte! Was höre ich?” Alles lachte und feixte und die zugerufenen Summen aus Frauenmündern wurden langsam höher. Da lief vor meinen Augen ein Leben ab, das prall und lebendig war, das mich anzog und faszinierte, dessen ich aber kein Teil war. Ich war unsichtbar in dieser Welt, spielte keine Rolle darin. Ich sah nur zu. Der schwarzlockige Typ lief nun zur Höchstform auf und schrie ins Publikum:“Das darf ja noch nicht alles sein! Seht doch die guten Zähne!“ Und so nahm diese improvisierte Szene einen köstlichen Verlauf, an dessen Ende eine glücklich lachende, bezaubernd hübsche Dame schließlich den Zuschlag erhielt. Das handelseinige Paar schritt dann unter grandiosem Beifall aus dem Gartentor in Richtung der dunklen Baumsilhouetten des Waldeswaldes hinaus.

Unbemerkt verließ auch ich wenig später die Party, weil ich zu einer bestimmten Uhrzeit zuhause sein musste. Ungesehen schloss ich mein Fahrrad auf, zerrte es aus dem Haufen der anderen Räder hinaus und radelte allein ins Dunkel der Nacht. Mein Weg war einzig beleuchtet durch das flackernde, dynamobetriebene Licht meines quietschenden Hollandrades.

So wandte ich mich, des Nachts in meinem Kämmerlein liegend,mit pochendem Herzchen erneut an Gott und das Universum. Was ich nun wollte, war aber kein Mädchen und keine Liebe. Nein, nun wollte ich so cool und schön und toll sein, wie mir eben diese jungen Helden und Idole erschienen waren, die ich auf den Partys beobachtet hatte. Ich wollte auch im Mittelpunkt der Party sein. Ich wollte ins Zentrum, ins Spotlight. Alles in mir wollte eine solche Unwiderstehlichkeit, solche Schönheit und Wirkung. Ich wollte auch Eindruck schinden. Ich wollte nicht mehr übersehen werden und immer wieder nur erleben, dass ich nicht konkurrenzfähig war. Das Ego erwachte zu seiner vollen Gier. Mir stand der Sinn nun nach Geltung! „Mach mich schön, Gott!“ hieß der Auftrag an das Universum. “Lass mich gut aussehen und unwiderstehlich sein, lass mich das lachende, genießende Zentrum des Lebens sein!”. Ich vermutete das Glück darin. Und mit meiner pickeligen Haut, der schwächlichen Blässe, der breiten Nase, die ich von meinem Vater geerbt hatte, der hohen Stirn und den Segelohren, sah ich wirklich nicht so aus, als wäre das irgendwie möglich.

Zudem hatte ich keinen einzigen Muskel am ganzen Körper. Ich hätte mir die Füße in der Flasche waschen können und meine Rippen und Gelenke stachen hart aus der bleichen Haut heraus. Da waren eigentlich keine Schultern. Die dünnen Spinnenarme wuchsen scheinbar direkt aus dem Hals. Zu dieser kritischen Selbstbeschau kam ich jedenfalls, nachdem ich eines Nachts in meinem Dachkämmerlein zum ersten Mal „Rocky“ mit Sylvester Stallone gesehen hatte. In einer Szene stand er, nur mit einem fleckigem Unterhemd bekleidet, im Türrahmen seiner einfachen Behausung und stützte sich am oberen Türbalken ab. Zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt fiel meine Aufmerksamkeit auf das Thema der männlichen Muskulatur. Ich staunte, wie beeindruckend seine Rückenmuskeln seitlich hervortraten. Augenblicklich verstand ich, wie sexy und attraktiv das aussah und wirkte. Im Finale des Filmes, dem entscheidenden Kampf, sah ich nur noch seinen Körper. Ich war beeindruckt! Der vom Schweiß überzogene, muskelbepackte Oberkörper glänzte im Licht der Scheinwerfer, wenn Rocky durch den Ring tanzte.

Nach dem Film stellte ich mich in Unterhosen vor den Spiegel und begann zu weinen, weil das, was ich erblickte, absolut jämmerlich war. Ein Strichmännchen!

Also flehte und bettelte ich Gott wiederum mit meinen Herzenswünschen an. Diesmal wollte ich alles. Ich wollte Schönheit, Coolheit, Aufmerksamkeit. Ich wollte wie Rocky, wie Elvis, wie George Michael und Nick Kamen, wie die coolen Baseballjungs sein. So senkte ich mein fettiges Teenagergesicht über die gefalteten Hände, kniete im Mondlicht und bat Gott mich cool zu machen. Diesmal wusste ich ganz genau, was ich wollte.

Bellum Gallicum

So und so ähnlich vergingen also die ersten Jahre in Freud und Leid auf dem Gymnasium und währenddessen schritten die Achtziger Jahre langsam voran. Neuerdings hörte ich mit absoluter Begeisterung eine Band namens “Frankie goes to Hollywood”. Ihr erster Hit: “Relax” war eingeschlagen wie eine Bombe und gleich darauf hatte ich sie schon zu meiner absoluten Lieblingsband erkoren. In ihrem zweiten Song, der unlängst erschienen war, besangen sie die Schrecken des kalten Krieges, der in jenen Zeiten wie ein Damoklesschwert über den Häuptern der Menschheit hing. Das Lied hieß „Two Tribes“. Das war das Beste, was ich bis dahin gehört hatte. Ich war vollkommen begeistert von diesem Sound. Die langen Versionen des Songs, die auf verschiedenen Maxi-Singles zu finden waren, dröhnten in Dauerschleife in meinem Raum unter den Dachschrägen.

Wenn es einen Soundtrack zu meiner Pubertät gibt, dann ist es diese Musik. Am Anfang heulte eine schwere Sirene. Ein Geräusch, das den Krieg, den Bombenangriff, verhieß. In dieses blecherne Geheule sprach die Stimme eines englischen Nachrichtensprechers: „The air attack warning sounds like….This is the sound. When you hear the air attack warning, you and your family must take cover“ Ich tanzte beseelt dazu durch mein Zimmer, denn diese Musik war neu und gigantisch gut gemacht.

„Are we living in a world, where sex and horror are new gods?“ sang Holly Johnson und darunter trieb der quirlige Bass und darüber heulten die Orgelsounds… Schwebende Synthesizerflächen trugen mich in die Höhe und die heftigen Schläge des Orchesters klangen wie Fontänen, wie hoch hinaufspritzende Gischt. Nie hatte ich zuvor so gut produzierte Musik gehört. “Two Tribes” war ein gigantisch intensives Erlebnis. Mein junges Herz pulsierte in meiner Brust vor Begeisterung.

Das Thema in sich war natürlich weniger erfreulich. Die Welt war vor allem in Westen und Osten unterteilt. Zwei waffenstarrende Militärbündnisse drohten sich gegenseitig mit zigfachem Overkill. Die gesammelte Sprengkraft aller Atomraketen hätte ausgereicht, um die gesamte Menschheit gleich mehrfach zu vernichten. Man lebte in diesen Jahren mit der relativen Gewissheit, dass ein Tastendruck das Ende der Welt bedeuten konnte. “Singing: This’ll be the day that i die! Yeaaaahhhhhh!” Es war gut mit Frankie diese Sorgen und sämtliche sonstigen Betrübnisse einfach wegzutanzen. Diese Musik erhob mich in glücklichere Sphären.

Im Fernsehen sah ich die zumeist recht schrecklichen Nachrichten aus aller Welt. In meinem jungen Teenagerbewusstein keimte erstmalig der Eindruck, dass die Welt zumindest kein uneingeschränkt guter Ort war. Menschen taten anscheinend unausgesetzt schreckliche Dinge. Ich erfuhr über Kriege, Unterdrückung, Gewalt und Umweltzerstörung.

Es wurde mir erstmalig klar, dass wir Menschen auch eine katastrophale, schreckliche Seite hatten. Das zu entdecken, war kein gutes Gefühl, aber auch diese Erkenntnis gehörte wohl zu dem komplexen und langwierigen Prozess des Erwachsenwerdens.

Schulisch lief es nicht unbedingt rund. Ich war, wenn überhaupt, dann nur in den mündlichen Leistungen gut, weil ich gut reden und schnell begreifen konnte. An “häuslichem Fleiß” mangelte es jedoch, wie mir stets attestiert wurde. Fleiß war mir ohnehin fremd. Hausaufgaben habe ich relativ selten ausgeführt. Mich auch noch zuhause mit schulischen Inhalten befassen zu sollen, war einfach zu viel des Guten. Ich improvisierte. Einmal erfand ich einen Aufsatz aus dem Stand und tat so, als lese ich ihn aus dem Heft ab. Es fiel erst auf, als die Lehrerin mich bat eine Passage zu wiederholen, da hatte sie den Braten dann wohl doch gerochen. “Netter Versuch, Sven!” sagte Frau Meckers kopfschüttelnd und machte eine bestimmt eher ungünstige Eintragung in ihr rotes Büchlein.

Im Lateinischen wirkte sich meine fehlende Disziplin allerdings absolut fatal aus. Hier gab es nichts zu improvisieren und schönzureden, wer seine Lektionen nicht gepaukt hatte, war ganz schnell raus und abgehängt. Als sich erneut eine drohende Katastrophe am Notenhorizont abzeichnete, versuchten Mum und ich, das Ding noch zu retten.

Also saßen wir an so manchem Abend am Küchentisch. Mutti fragte mich ab. Für jede Lektion im Lateinbuch, gab es ein paar Seiten mit Vokabeln, die zu lernen waren. Besonders die unregelmäßigen Verben mussten sitzen. Also war man gezwungen, die Wortstämme mitzulernen. Wir wiederholten es, bis ich die Lektion fehlerfrei konnte, aber diese quälende Routine ließ sich einfach nicht Woche für Woche aufrechterhalten. Mal hatte ich Lust und dann wieder keine. Als ich schließlich gnadenlos sechs stand, versuchte meine Mutter es noch mit Nachhilfe, aber auch das war am Ende nicht von Erfolg gekrönt. Ein bemitleidenswerter Abiturient hatte gegen etwas Entgelt für ein paar Wochen das zweifelhafte Vergnügen, mit mir nachmittags über den Deklinationstabellen sitzen zu dürfen. Aber trotz all dieser Bemühungen zog der römische Feldzug am Ende ohne mich weiter. Ich konnte mich einfach nicht dafür begeistern. Latein war und blieb schlichtweg schrecklich. Diese Sprache war lange tot und ich kriegte sie nicht wiederbelebt. Statt der 120 Verbformen lernte ich zu kapitulieren. “Veni, vidi, perdidi.”

Meine lateinische Misere war sicherlich das folgerichtige Ergebnis meiner Faulheit, aber in kleinen Teilen auch die Schuld meines ersten Lateinlehrers, des verehrten Herrn Wemis. Als ich sein Schüler war, hatte er schon schlohweißes Haar und absolvierte die letzten Tage seiner langen Lehrerlaufbahn. Herr Wemis war ein recht gütig blickender Mensch mit einem durchaus angenehmen Wesen, dem man ansah, dass er in seiner Jugend ganz bestimmt einmal recht gut ausgesehen haben musste und selbst nun, im höheren Alter, war er mit seinen klar und scharf gezeichneten Gesichtszügen nicht unangenehm anzusehen. Herr Wemis war also rundherum ein netter Kerl, jedoch war er anderseits vor allem eines: Sichtlich amtsmüde.

Ich war beileibe nicht der Einzige, der keinen Bock auf Latein hatte. Alle hassten es mehr oder weniger. So fanden wir schnell heraus, dass sogar Herr Wemis selbst sich nur allzu gerne davon ablenken ließ. Er kam einfach in ein Alter, in dem man alles nicht mehr so eng sah. Immer öfter kam es vor, dass er aufgrund kleinster Anlässe abgelenkt war, dass er den Unterricht gedanklich verließ und in Erinnerungen an seine Kindheit abschweifte. So war es recht einfach, ihn von dem ungeliebten Lateinischen wegzubringen. Mit eiskalter Berechnung sprachen wir ihn in jeder Stunde entsprechend und gezielt darauf an.

„Herr Wemis, wie war das damals in der Hitlerjugend?“ rief einer dazwischen und dann blickte Herr Wemis aus dem Fenster in die Weite, legte das Buch zur Seite und begann mit in den Himmel gerichtetem Blick zu erzählen. Das klappte ziemlich oft, bis er mit den Wochen und Monaten dann doch merkte, dass unser Interesse weniger seinen immer gleichen Geschichten galt, sondern nur eher darauf gerichtet war den eigentlichen Unterricht vermeiden zu wollen. “Das habe ich Euch doch schon erzählt!” fiel ihm eines Tages bei der hundertsten Wiederholung des immer gleichen Ablaufs auf, aber da war es schon zu spät. Die ganze Klasse war im Lehrplan uneinholbar hinten. Und der liebenswerte Herr Wemis war einfach nicht mehr jung und stark genug, um das noch einmal zu richten. In seiner liebenswürdigen Sanftheit entglitt ihm das alles. Ich glaube, auch er hatte einfach genug von diesem unseligen Latein. Was genug war, war genug. Und so war dieser nette Kerl vor unser aller Augen in die erholsame Leichtigkeit seiner Senilität hineingesegelt, wie in leichten Nebel.

Und dann kam Herr Wemis nicht mehr. Dann kam ein anderer Lehrer. Und das war der meistgefürchteste Schleifer am ganzen Moltke. Seinen Namen traue ich mich nicht auszusprechen, aber ich wage es dennoch davon zu berichten, dass er den Klassenraum betrat, wie ein kampferfahrener Zenturio. Sein Blick war wie Eis und seine Stimme wie Stahl. Er war die Rache aus dem Lehrerzimmer, die Antwort auf unser schändliches Benehmen, weil wir die Gutmütigkeit des Herrn Wemis ausgenutzt hatten.

Im Lehrerzimmer musste sich die einsetzende Senilität des lieben Herrn Wemis wohl rumgesprochen haben und daraufhin hatte der Schuldirektor bestimmt entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ausgerufen:“Sapperlot! Die 7c ist lateinisch ja kaum noch zu retten! Desaströs dieser Zustand! Jetzt kann nur noch einer helfen!“ Und so hatte der Direktor als letzte Lösung diesen römischen Feldherrn zur Ehrenrettung des Gymnasiums am Moltkeplatz auf das Schlachtfeld der 7c entsandt.

Jetzt hatten wir den Salat. Dieser Zenturio kam, sah und siebte. Er musste jetzt jede Woche eine Lektion durchpauken, wenn er diese Schulklasse noch irgendwie retten wollte. Wenn er, wie der Direx ihn flehentlich gebeten hatte, „den Lehrplan im Namen der Bildung noch durchsetzen“ wollte, musste das Tempo nun radikal forciert werden. Und so marschierte er eisern voran. Unerbittlich zeterte seine harte Stimme von diesem Moment an die lateinischen Worte in den Klassenraum, von wo sie schallend und unerbittlich in unsere weichen Kinderohren drangen. Ich versuchte zunächst noch den erweiterten Ablativ zu begreifen und ihn in diesem Haufen von toten, kryptischen Worten irgendwo zu erkennen und wie gesagt, ein Abiturient traktierte mich nachmittags noch mit Deklinationstabellen, aber es war am Ende alles sinnlos. Die Worte tanzten vor meinen Augen und ergaben gänzlich auch nicht mehr nur den geringsten Sinn.

Meine Mitschüler marschierten ohne mich in den “bellum galicum”, den gallischen Krieg. Und während ich meine Ohren auf Durchzug stellte, weil ich ohnehin nichts mehr verstand, malte ich Karikaturen an den Rand meines Buches. Einmal erwischte mich der Zenturio dabei. Er schoss auf mich zu und entwand mir mit einer peitschenschnellen Bewegung, mein entstelltes, zerfleddertes, bekritzeltes Lateinbuch. Wutschnaubend blätterte er einige Sekunden darin herum. Eigentlich muss er bei dieser Gelegenheit die zahllosen Karikaturen seiner selbst darin erblickt haben, die ihn sandalen- und helmtragend abbildeten, wie eine Figur aus „Asterix und Obelix“. Ob er dies nun tat, ob er sich selbst als Witzfigur erkannte, oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls riss er das nur noch an dünnen Fäden zusammengehaltene Buch schließlich in die Luft und hielt es entsetzt und mahnend in den hohen Raum über seinem Haupt und dann ergoß er sich in einer wutentbrannten Rede darüber, was für eine unglaubliche Impertinenz der abscheuliche Anblick dieses Schulbuches sei. Sein bartstoppeliges Doppelkinn waberte dabei wie ein Pudding und sein Gesicht wandelte die Farbe, es wurde rot und röter, und die Schweißtropfen quollen aus seinen Schläfen und liefen seitlich durch den Backenbart an seinem Gesicht hinunter..

Auf dem Deckel, des sich nun in bebender Lehrerhand befindlichen Buches, prangte unter dem Titel „Ianua nova“ das Abbild einer antiken Büste. Ich denke, sie zeigte das Konterfei des Augustus. Allerdings hatte ich es gehörig „verschönt“. Ich hatte ihm Sonnenbrille, Zahnlücke und Ziegenbart verpasst. Diese Ungehörigkeit nun umherschwenkend, fuhr der Zenturio fort, dass das Buch nicht einmal mein Eigentum sei und ich mich mit dieser Respektlosigkeit der Sachbeschädigung schuldig gemacht habe und darüber hinaus sei mein ganzes Betragen derart, dass ich mich der ganzen gymnasialen Ausbildung als gänzlich unwürdig erweisen würde. Heute muss ich sagen, dass er da nicht ganz Unrecht hatte, aber damals sah ich das natürlich ganz und gar nicht ein. Ich grinste lediglich etwas verlegen ob seiner gar so echauffierten Rede.

Er donnerte mir den maroden Fladen wieder aufs Pult und der Buchdeckel verabschiedete sich nun gänzlich. Er flatterte mit einigen weiteren gelösten Blättern über die Pultkante hinaus. Alle auf diese Weise nun sichtbar werdenden Seiten waren mit Comicfiguren überschmiert. Tja. Da war ich mit meinem Latein wohl am Ende. So schien es. Ich denke, in diesem Moment war meine Versetzung endgültig gestorben. Verächtlich wandte der Zenturio sich von mir ab, schlug sich seinen Umhang über die Schulter, rückte seinen goldenen Helm zurecht und fuhr auf seinem Streitwagen mit sandalenbewährten Füßen im Unterricht fort in Richtung Gallien.

Zu meiner Ehrenrettung ist nicht viel zu sagen, obgleich anzumerken ist, dass ich nicht in allen Fächern auf die gleiche, tragische Art und Weise versagte. Ausgerechnet im Deutschen erzielte ich den einen oder anderen Achtungserfolg. Unsere überaus gestrenge Deutschlehrerin Frau Meckers, die zumindest gemäß meiner Erinnerung nach, stets stocksteif dastehend und in Spitzenblusen mit Stehkragen zu dozieren geruhte, sah anscheinend milder auf mich. Dies ist umso seltsamer, da sie tatsächlich in ihrem sämtlichen Gebaren kurz vor oder nach der Jahrhundertwende stehengeblieben zu sein schien. Sie war quasi das Zweitschlimmste, neben dem Zenturio, was das Lehrerzimmer an Schreckgestalten gegen die Schülerschaft hervorzubringen wusste. Auch sie war gefürchtet und recht unbeliebt, weil sie ausnahmslos ernsthaft und jederzeit vollkommen humorlos zu sein pflegte. Darüber hinaus verkörperte sie eine geradezu unbarmherzig zu nennende Härte. Sie wurde deswegen von der Schülerschaft ungeliebt und schroff intern nur „die Holztitte“ genannt.
Es kursierte tatsächlich das bösartige Gerücht, sie trüge eine hölzerne Brustprothese. Man ahnte zwar, dass diese üble Nachrede der reinen Gehässigkeit geschuldet sei und einem gar bösartigen Schülergeist, wahrscheinlich aus Groll über gänzlich unerfreuliche Deutschstunden oder schlechter, ungerechter Zeugnisnoten wegen, entsprungen sein musste, aber ganz sicher war man sich in unserem Alter auch wieder nicht. Was wusste man schon? Treffend war es allemal, weil es ihrer Härte und Steifigkeit den besten Ausdruck verlieh. An ihr war einfach nichts Weiches und deswegen stimmte das Bild.

Ihr fehlte zur perfekten Karikatur der Sittlichkeitsdame nur noch das Monokel. Sie war ein klares Feindbild für die meisten Schüler. Ihre Humorlosigkeit war auf grausam beeindruckende Weise vollkommen. Frau Meckers Körperspannung war stets maximal. Stocksteif ging sie umher, als besäße sie gar keine Wirbel, die ihrem Rückgrat Flexibilität ermöglicht hätten. Ausgerechnet Frau Meckers, die selbst bei den bravsten Strebermädchen ein derartiges Grausen hervorrief, dass sich sogar auf den Häuptern dieser besten Töchter, zu beiden Seiten des Mittelscheitels gleichermaßen, die Haare zu Berge stellten, legte eines Tages hinter mir stehend, die Arme ihres versteiften Lehrkörpers auf meine Schultern und verlautbarte: „Ihr könntet Euch ruhig alle eine Scheibe von Svens Wortschatz abschneiden!“ Und was noch unheimlicher war: Aus ihren sonst kalten Adleraugen sprühte echte Anerkennung und Wohlmeinen dabei. Fast hätte man glauben können, ihre Lippen würden für einen flüchtigen Augenblick von einer Regung umspielt. War es gar ein angedachtes Lächeln? Man hätte es fast annehmen mögen, wenn es nicht schlichtweg undenkbar gewesen wäre, denn in ihrer Physiognomie war einfach kein freundlicher Ausdruck vorgesehen. Konnte es dennoch sein? Diese ganze Szene war ein unerhörter Vorgang, der seinesgleichen suchte. Sollte gar ein schlagendes, menschliches Herz unter ihrer hölzernen Brust pochen? Die ganze Klasse blieb stumm vor Schock und es folgten ein paar Sekunden konsternierter Stille. Niemand wusste es zu deuten.

Das war zwar unerwartet nett von ihr, aber es diente auch nicht unbedingt zur Steigerung meines Renommees. Ausgerechnet die Holztitte adelte mich, ja sie hatte mich sogar berührt, weil meine geschriebenen Worte ihr Deutschlehrerherz erfreut hatten, wahrscheinlich weil ich Relativsätze schrieb, die ihr Wohlgefallen fanden.

Wie sie so hinter mir stand und mich gegenüber der übrigen Klasse hervorhob, war es ein bisschen so, als hätte Dracula mich gebissen, oder als hätte der Führer meinen Kopf getätschelt. Ich fühlte eine Mischung aus Stolz und Schande und fragte mich, ob ich jetzt ewig leben würde.

Im Physiksaal hallte wieder einmal die salbadernde Stimme Herrn Zausels im hohen und weiten Raum über unseren Köpfen. Von den Hörsaalrängen aus sahen wir ihn dort unten zwischen der Tafel und dem Overheadprojektor hin und her stolzieren. Er schmierte hier etwas hin und schrieb dort etwas auf, unterstrich es gegebenfalls dramatisch, lief dabei unablässig redend auf und ab, und verlautbarte auf diese Art irgendwelche Tatsachen seines Fachgebietes. Eine Darbietung, der ich schwerlich willens war, Folge zu leisten.

Manches Mal war es dennoch interessant. Er sprach davon, wie ein Mann names Newton anhand eines herabfallenden Apfels von einem Baum etwas über die Erdanziehung und Gravitation im Allgemeinen entdeckt hatte. Von Blitzen und elektrischem Strom hatte ich an dieser Stelle auch schon etwas gehört und für allezeit unvergessen blieb Herr Zausels Demonstration der Zentrifugalkraft, als er wie wild am Rad gedreht hatte.

Aber so interessant es auch immer sein mochte, sobald sich der Lehrer zur Tafel umwand, spuckten wir durch Strohhalme und kleine Blasrohre, die wir aus Stiften gebaut hatten, zerkaute Papierkügelchen an die Tafel. Dort blieben die kleinen Batzen aus spuckegetränktem Papierbrei meist kleben und am Ende der Stunde sah die Tafel auf diese Weise dann immer aus wie eine Raufasertapete. Zausel drohte daraufhin zunächst mit Klassenbucheinträgen und als dies nicht den geringsten Effekt hatte, später sogar mit der nächsten Stufe schulischer Strafen, mit schriftlichen Tadeln. Diese wurden dann zur Kenntnisnahme an die Eltern verschickt und lauteten in meinem Fall beispielsweise wie folgt: „Ihr Sohn schoss mit Papierkügelchen durch das Klassenzimmer.“ Meine Mutter lachte, als sie diesen blauen Brief las, denn sie meinte, das lese sich, als wäre ich selbst durch das Klassenzimmer geschossen mit kleinen Papierkügelchen unter’m Arm und somit fand sie diese Benachrichtigung der Lehrerschaft über mein Verhalten eher amüsant. Natürlich fragte sie mich zu dem Hintergrund und ermahnte mich, dass ich lieber aufpassen und lernen sollte. Sie sagte auch, dass sich sowas ja nicht unbedingt gehören würde, aber nachdem sie sich zuvor schon über den Schrieb kaputtgelacht hatte, kam das Ganze nicht sehr glaubwürdig rüber. Ganz sicher hatte sie bestimmt recht, aber besonders aufgeschlossen war man mit 13 Jahren solcherlei Vernunftsansichten sicherlich nicht.

Die Autorität des Physiklehrers Zausel wurde von der Klassengemeinschaft auf eine harte Probe gestellt. Dieser Zweikampf gipfelte darin, dass hinter seinem Rücken aus Provokationsgründen mitgebrachte Radios aufgestellt und angeschaltet und sogar dicke Zigarren entzündet wurden. Ausnahmsweise mal nicht von mir. Es war eine Art Wettbewerb entstanden, wer sich die größte aller Dreistigkeiten gegen Herrn Zausel erlauben würde. Und die Entzündung der Zigarre, nebst lauten Radioklängen war, das musste ich neidlos anerkennen, zweifelsohne die Krone der Unverschämtheit. Wie gesagt: Teenager sind gnadenlos. Und Herr Zausel wurde über all dies ungehörige Schülergebahren immer zauseliger.

Fehlbohrung

Sonntags gab es eine Art Kinderdisko in der Herz-Jesu-Kirche. Das war natürlich nicht in der Kirche selbst, sondern es gab ein angrenzendes Gebäude und dort war eine Art Teestube. Sie nannten es “Schluff” glaube ich, weil einige Sitzbänke aus ausgedienten Eisenbahnwaggons stammten. Es war ganz gemütlich da.  Es gab eine kleine Tanzfläche und einen Kicker. Eine Cola oder Fanta kostete 50  Pfennig. Ich war 12. Der Kicker war stets schwer umlagert und die größeren Jungs dominierten das Gerät, weil sie schon viel geübter waren. Bewundernd sah ich zu, wie sie mit so unglaublicher Kraft und Schnelligkeit die Kugeln ins Tor knallten, dass das Holz krachte. Der Gewinner blieb immer am Tisch und so wechselten die Gegner. Im Hintergrund lief die übliche Popmusik dieser Zeit und das bedeutete im Jahr 1982 auch viel Neue deutsche Welle, Nena, Markus, Hubert Kah usw. Ich hampelte dort die ersten Tanzeinlagen meines jungen Lebens unter den blinkenden, bunten Lichtern. Wahrscheinlich zu “Nur geträumt” oder so. 

Da waren auch Mädchen. Und so kam es, dass wir eines Tages mit einer gemischten kleinen Gruppe ins Kino gingen. Es gab einen Film mit Markus und Nena. Neben mir saß die schwarzhaarige Claudia. Sie war nicht ganz so hübsch wie die bezaubernde Nena, in die ich ein wenig verliebt war, aber sie taugte durchaus als Übungsobjekt für erste Fummelversuche. Zunächst wagten wir uns an die seltsamen Zungenküsse. Man sollte waschmaschinenartig die Zunge kreisen lassen, hatte ich mir sagen lassen. Als Claudia und ich unsere Zungen also weisungsgemäß, mechanisch und ungeschickt routieren ließen, fand ich es wenig erfreulich und befremdlich und es machte auch nicht wirklich Spaß, aber man tat es aus irgendeinem Grund. Wahrscheinlich aus Neugier und Experimentierfreude, auf Befehl der ersten Sexualhormone, aber Lust kam dabei nicht auf, zumindest erinnere ich mich nicht daran. 

Mein erster kindlicher Ausflug in das Sexualleben sollte aber noch sehr peinlich werden, denn neben der anstrengenden und relativ unbeholfenen Zungenkreiserei gingen nun auch die Hände auf Wanderschaft. Ich tastete den fremden Körper ab. Es war eine Art Expedition der Hände in unbekanntes Gebiet. Ich stand unter hohem Streß dabei. Schließlich wagte ich es, meine Hand in den vorderen Bereich ihrer Hose zu schieben. Dort fanden meine Fingerkuppen üppiges Schamhaar vor und ich bohrte mit meinem Finger darin herum. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wo anatomisch jetzt genau die Scheide bei einer Frau angebracht war. Hätte ich doch damals im Biounterricht besser aufgepasst, als die Overheadfolie mit dem Lageplan dran gewesen war. Aber vor lauter Peinlichkeit hatte ich damals nicht alles so genau mitbekommen. Ich erinnerte mich nur an meinen Klassenkameraden Ralf, der lachend vom Stuhl gekippt war. Ich will Ralf nicht die Schuld geben, aber ich dachte doch tatsächlich, es wäre vorne dran. Ich stellte mir vor, dass das Loch bei der Frau im Bereich des Venushügels zu finden sei. Ich hatte sogar bei meinen ersten Erektionen gedacht, dass mein Penis eine Fehlbildung sei, weil ich annahm er müsse im rechten Winkel nach vorne abstehen, damit man eben, ich dachte das sei so ähnlich wie bei Legobausteinen, den Mann auf die Frau stecken kann. Aber mein Penis hatte im steilen Winkel nach oben gezeigt. Eine Fehlkonstruktion! Verzweifelt hatte ich im Badezimmer gestanden und tatsächlich versucht ihn zu korrigieren und runterzudrücken. Soweit meine kindliche, vollkommen ahnungslose Theorie zum Sex. Nun war die Steckstelle bei diesem Mädchen an der vermuteten Stelle partout nicht zu finden. War sie denn auch fehlgebildet? Ich begann zu schwitzen. Wie konnte das bloß sein? Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, etwas tiefer zu suchen, quasi nach unten hin, zwischen den Beinen. Wer kommt denn bitte auf sowas? So bohrte ich mit meinem Finger an ihrem Schambein herum, bis sie mich lachend fragte: „Sach ma: Suchste wat?“ Und mit puterrotem Kopf zog ich peitschenschnell meine Hand aus ihrer Hose zurück und schämte mich für den Rest des Filmes mit roten Ohren, während ich sie im Nachbarsitz leise kichern hörte. Dieser „Vorstoß“ meines Mittelfingers verreckte wegen Unkenntnis der weiblichen Anatomie am Schambein. Eine unfassbar peinliche Angelegenheit, aber auch der Beweis für meine völlige kindliche Unschuld und Ahnungslosigkeit. Junge, was habe ich mich geschämt! Ich hatte doch tatsächlich mit meinem Finger an der falschen Stelle gebohrt. Eine geradezu grandiose Fehlleistung. Hach, könnte ich doch nur im Erdboden versinken. Diese Schmach! Das war unvergleichlichen Maße peinlicher als das Nichtschwimmerbecken und alles, was ich sonst noch erlebt hatte!

Ja, ich war größtenteils noch ein ahnungsloses Kind. Und das betraf nicht nur die weibliche Anatomie, sondern eigentlich alle Bereiche des Lebens. Wie hätte es auch anders sein sollen? Ich war ja erst wenige Jahre auf der Welt und es gab so viel zu entdecken. Da konnte man ja nicht jedes Detail wissen! Erzählt es bloß nicht weiter!

Aus dem Kapitel: „Das Ende der Kindheit“ / Umwege. Die innere Reise. Band 1: Der Königssohn